Regisseur über Film „Was Marielle weiß“: „Ein Kind ist eine moralische Instanz, die man heranzieht“
In „Was Marielle weiß“ sieht und hört ein Kind alles, was die Eltern tun. Regisseur Frédéric Hambalek spricht über Geheimnisse und Selbstbefreiung.
taz: Herr Hambalek, in „Was Marielle weiß“ erlangt die 12-jährige titelgebende Tochter plötzlich die Fähigkeit, alles zu sehen und zu hören, was die Eltern den Tag über tun. So etwas wie Privatsphäre gibt es für sie damit nicht mehr. Was hat Sie auf die Idee zu dieser Geschichte gebracht?
Frédéric Hambalek: Da gab es im Grunde zwei Dinge. Vor vielen Jahren hat mir ein befreundetes Paar ein Babyfon mit eingebauter Kamera gezeigt. Das war damals ganz neu, und es hat sich gleich ein wenig falsch angefühlt. Das schlafende Kind weiß nicht, dass es beobachtet wird. Damals dachte ich mir: Wann haben Kinder eigentlich Privatsphäre? Was bedeutet Privatsphäre überhaupt in einer Familie? Und was wäre eigentlich, wenn es andersherum wäre – wenn Kinder auch Erwachsene beobachten könnten, wenn sich plötzlich die Erwachsenen vor den Kindern rechtfertigen müssten? Der zweite Aspekt war: Mich hat immer interessiert, wie Kinder ihre Eltern erleben. Am Anfang wirken die Erwachsenen auf sie wahrscheinlich beinahe wie Götter. Sie wissen alles, können alles, haben stets alle Regeln parat. Je älter ein Kind wird, desto mehr erlebt es aber auch, dass die Eltern fehlbar sind, dass sie Dinge richtig und falsch machen – und mit dem Leben womöglich genauso sehr hadern, wie man das als Kind oder Heranwachsender tut.
„Was Marielle weiß“. Regie: Frédéric Hambalek. Mit Julia Jentsch, Felix Kramer u. a. Deutschland 2025, 86 Min.
taz: Die Prämisse von „Was Marielle weiß“ erinnert stark an den „Panoptikum“-Vergleich in Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“. Im Panoptikum können alle Gefangenen den Wachturm sehen, aber nicht den Wächter selbst. Die Insassen haben so ständig das Gefühl, überwacht zu werden. Foucault nutzte diese Metapher, um das Ordnungsprinzip in westlich-liberalen Gesellschaften zu beschreiben: Die Menschen disziplinieren sich selbst, weil sie sich unter ständiger Beobachtung und Beurteilung wähnen. Will Ihr Film auf etwas Ähnliches hinaus?
Hambalek: Ich habe lustigerweise „Überwachen und Strafen“ gelesen, als ich das Drehbuch geschrieben habe. Spezifisch für den Film habe ich daraus nicht so viel mitgenommen, allerdings hat sich in diesem Prozess meine Idee immer mehr auf die Frage hin destilliert, wie sich Menschen wohl verhalten, wenn ihre Privatsphäre sofort weg wäre, wenn sie sich immer vor einer höheren Instanz rechtfertigen müssen. Bei Foucault mag das ein Justizapparat oder ein Staat sein – noch spannender ist für mich der Mikrokosmos der Familie. Ein Kind ist wie eine moralische Instanz, die man selbst heranzieht. Ich bin selbst Vater, und in dieser Rolle vermittelt man einem Kind auch Ideale, die man selbst nicht erfüllt oder gar nicht erfüllen kann. Kinder haben aber gerade in dem Alter, in dem Marielle ist, eine Phase, in der sie selbst unglaublich moralisierend sein können. Und das fand ich interessant: Diese gottgleiche Instanz, die man geschaffen hat, sucht einen nun selbst heim. Das ist für mich amüsant, witzig – und auch ironisch.
taz: Oft wird in Filmen die Technik bemüht, wenn vom „gläsernen Menschen“ erzählt wird. Sie haben stattdessen ein magisch-realistisches Handlungselement gewählt: Marielle bekommt von einer Mitschülerin eine Ohrfeige und gelangt so zu ihrer übernatürlichen Fähigkeit. Warum haben Sie sich für diese Variante, die Tochter als unfreiwilliger „Big Brother“, entschieden?
Hambalek: Ich wollte den Einsatz von Technik auf jeden Fall vermeiden. Das lenkt unweigerlich vom existenziellen Kern des Problems ab. Ich hätte Marielle natürlich mit diversen Apps oder Überwachungskameras ausstatten können, aber das wäre bereits zwei Jahre später veraltet. Ich wollte den Fokus voll und ganz auf das veränderte Verhalten der Eltern richten.
taz: Im Film werden die Eltern durch das Wissen um ihre Überwachung durch die Tochter zunächst vorsichtiger: Mutter Julia (Julia Jentsch) und Vater Tobias (Felix Kramer) verhalten sich am Arbeitsplatz so, wie sie von ihrem Kind gesehen werden wollen. Dann verändert sich ihr Auftreten radikal, sie überschreiten Grenzen – es kommt zu einer Affäre, sogar zu Handgreiflichkeiten mit Kollegen. Was ist das für Sie? Radikale Selbstbefreiung oder Kapitulation vor dem moralischen Erwartungsdruck?
Hambalek: Das kann man so sehen oder so. Für mich gibt es ein Moment der Befreiung, vor allem bei Mutter Julia. Später wird sie sich von ihrer Grenzüberschreitung aber wieder distanzieren. Als der Film schon fertig geschnitten war und ich ihn noch mal sichtete, dachte ich: „Mein Gott, tu das nicht! Du verleugnest dich hier wieder – es war doch eine Befreiung!“ Was ich daran interessant finde: Wenn man sich selbst befreit, wenn man ganz zu sich selbst steht, muss man sich immer fragen: Ist das denn richtig, selbst auf Kosten anderer? Was kann und was darf man anderen eigentlich zumuten? Das sind die für mich spannenden Fragen, in die sich die Eltern hier hineinbegeben.
taz: Ist „Was Marielle weiß“ am Ende auch ein Plädoyer für mehr Verschwiegenheit und Verschleierung – gerade in familiären Zusammenhängen?
Hambalek: Für mich fragt der Film, welche Geheimnisse es braucht. Wo wäre es vielleicht besser, wenn es in einer Familie mehr Offenheit gäbe – und wo nicht? Ich glaube, „Was Marielle weiß“ ergreift nicht Partei für das eine oder andere, aber ich sage es mal so: Ich fände es sehr amüsant, wenn man den Film so lesen würde.
taz: Sie wenden sich dem Sujet „Elternschaft“ in Verbindung mit „Geheimnissen“ immer wieder zu. In Ihrem Langfilmdebüt nimmt der Zwang zur familiären Heimlichkeit noch deutlich radikalere Züge an: In „Modell Olimpia“ versucht eine Mutter, ihrem erwachsenen Sohn die gefährliche Neigung zu sexuellen Gewaltfantasien in Eigenregie abzutrainieren. Ein ungewöhnlicher Stoff für ein Erstlingswerk, oder?
Hambalek: Ich habe immer mehrere Ideen, die mich interessieren. In diesem Fall war es schlicht und ergreifend so, dass ich möglichst schnell einen Film drehen und nicht auf eine Debütfilmfinanzierung warten wollte, die sich über Jahre hinziehen kann. Daher dachte ich mir: Ich habe 10.000 Euro mit meinem Bausparvertrag gespart, ich habe einen befreundeten Kameramann und eine Crew – ich frage sie einfach, ob sie Lust haben, einen Langfilm zu drehen. Das hatten sie, und dann musste ich aus meinen Ideen die auswählen, die mit diesem Budget machbar ist, womöglich sogar von der Limitierung profitieren kann. Ich glaubte, diese Idee würde mir sowieso niemals jemand finanzieren. Und das Schöne ist: Im Rahmen dieses Budgets konnten wir letztlich alles machen, was wir wollten.
Frédéric Hambalek wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Er studierte Filmwissenschaft und Amerikanistik in Mainz. Für sein erstes Spielfilmdrehbuch gewann er 2016 den Tankred-Dorst-Preis der Drehbuchwerkstatt München. Sein Regiedebüt „Modell Olimpia“ lief 2020 beim Tallinn Black Nights Festival.
taz: Trotz der Extremsituationen, in die Sie Ihre Figuren mitunter geraten lassen, bleibt Ihr Inszenierungsstil meist auffällig nüchtern. Sowohl in „Modell Olimpia“ als auch im neuen Film bewegen sich die Protagonisten durch nahezu sterile Räume, die Kamera bleibt oft statisch, es gibt wenig Musikeinsatz. Warum?
Hambalek: Ich bin ein großer Freund von Fokus. Ich will alles weglassen, was nicht den Kern der Sache trifft. Es hat aber, so hoffe ich, auch mit den Stoffen zu tun. Ich versuche, einen jeweils passenden Stil zu finden, daher gibt es bei der Art zu inszenieren zwischen den Filmen auch Unterschiede. Was gleich ist, ist aber auf jeden Fall dieser Versuch der Präzision. Bei „Was Marielle weiß“ war einfach klar: Ich will auf die Gesichter der Eltern halten und sehen, wie sie sich unter dem unerbittlichen Blick der Tochter winden. Bei „Modell Olimpia“ war ein gegenteiliger Gedanke der Hintergrund: Menschen sind immer vollkommen unergründlich, wir können nie wirklich in sie hineinsehen – und daher sind sie eher wie Objekte gefilmt. Beim Produktionsdesign möchte ich wiederum vom realen Leben ausgehen, und da finde ich oft totale Leere vor. Ich sehe sehr oft weiße, kahle Wände, glatte Oberflächen und spärliche Einrichtung. Es scheint fester Teil unseres modernen Lebens zu sein, alles wegzuräumen, was auch nur irgendwie stören könnte. Das heißt aber nicht, dass ich beim nächsten Stoff nicht vielleicht viel mehr aus dem Vollen schöpfen möchte.
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