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Die WahrheitGefühle aus dem Abseits holen

Auf Fachbesuch in Deutschlands erstem und einzigem männlich gelesenen Therapiestadion zu Gelsenkirchen auf Schalke.

Die Fans des SV Mannsein, hier völlig außer sich und Rand und Band Foto: Reuters

Im brausenden Dröhnen Tausender Stimmen, im Rhythmus wuchtiger Trommelschläge versinkt fast jedes andere Geräusch. Nur hin und wieder schafft es ein „Bist du blind oder was?!“, ein „Wie kann er den nicht machen?!“ oder ein „Ich bin genug, so, wie ich bin“, durch die anbrandenden Männerstimmen zu brechen. Keine ungewöhnlichen Ansagen in Deutschlands erstem Therapiestadion.

Hier, in Gelsenkirchen auf Schalke, sind wir auf Einladung von Dr. Aljoscha Dittmann, Professor für Sportpsychologie und Erfinder des Konzepts Therapiestadion. „ ‚Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen‘, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Und es braucht eben ein Stadion, um einen Mann zu heilen“, schreit uns der drahtige Enddreißiger Dittmann quer über das von der Depressivenkurve gerade angestimmte „Steht auf, wenn ihr am Boden seid“ in die Ohren.

Die Veltins-Arena wird zur kollektiven Couch für Tausende therapieunfähige Alphamänner

Einmal im Quartal wird die Veltins-Arena deshalb zur kollektiven Couch für Tausende vermeintlich therapieunfähige Alphamänner. Denn dass Männer keine Gefühle zeigen, ist bekannt. Dass sie es beim Fußball eben doch tun, ebenso.

Entstanden sei die Idee in einer Sportsbar, erklärt Dittmann in der Halbzeitpause. Wo auch sonst als in einer Sportsbar hätte Fußballtherapie erfunden werden können. Ein Freund Dittmanns kommentierte dort am Tresen die eigene Gefühlslage nach dem Tod des Vaters nur mit einem lakonischen „Muss ja“. Beim anschließenden Fußballgucken konnte er dann „plötzlich eine ganze Bande an Emo­tio­nen zeigen. Da dachte ich: Das muss sich doch therapeutisch verwandeln lassen.“

Nach der ersten Halbzeit stehen wir mit Dittmann wieder mitten auf der rammelvollen Tribüne: Die Heimmannschaft erhält einen Elfmeter – und verschießt. Enttäuschung wogt durch die Fankurve. Sportpsychologe Dittmann stupst den Mann neben sich, der wegen Burn-out hier ist, an: „Hat der Schütze jetzt Grund, sich selbst zu hassen?“ – Nein, erwidert der Mann automatisch, ohne vom Spielfeld wegzusehen, er habe den Elfer durch seine Schwalbe ja überhaupt erst erarbeitet.

Plötzlich weiten sich seine Augen, er schaut Dittmann entgeistert an. Dann rinnt ihm eine Träne herunter, er fällt dem Erfinder des Konzepts Therapiestadion um den Hals: „Natürlich! Auch ich darf Fehler machen, solange ich mein Bestes gebe!“ – „Ganz genau, mein Lieber“, erwidert Dittmann, der sich lächelnd zu uns beugt: „Ob Praxis oder Stadion – Hauptsache, Therapie.“

Flüsternd, damit der just geheilte Mann es nicht mitbekommt, erklärt uns Dittmann die psychologischen Grundlagen seiner Methode: Sind die Männer vom Spiel abgelenkt, gibt ihr Unterbewusstsein Antworten, die sich ihr Ego nie trauen würde zu geben. „Um diesen Prozess etwas zu forcieren, haben wir die Spieler hier in der Veltins-Arena angewiesen, möglichst viele dramatische Chancen zu schaffen.“

In einem Spiel mit drei Roten Karten, fünf Elfern und unzähligen kleineren „Situationen“ sei es ihm sogar schon mal gelungen, einen Mann von seinem ungesunden Bindungsstil, von Depressionen und von Angst vor Menschenmengen auf einmal zu heilen – und anschließend in der Nachspielzeit noch entspannt ein Bier mit ihm zu trinken.

Dass hier in Gelsenkirchen heute nicht wirklich Schalke aufläuft, sondern ehrenamtliche „Gefühlsballvereine“ mit Namen wie SV Mannsein, Softie BSC oder 1. FC Magdichburg, scheint die Zuschauer nicht zu stören, im Gegenteil. Laut Dittmann erhöhe das die Bindung an die Vereine noch, viele der ursprünglich von ihren Frauen hergeschickten Männer kämen freiwillig wieder. Es seien sogar schon erste Ultraverbände entstanden, die in der Winterpause gemeinsam über vergebene Chancen im Spiel und im Leben weinen oder „Gaslighting ist doch ein Verbrechen!“ grölen.

Bevor wir Dittmann und seine Kummerpatienten in Ruhe lassen, nimmt er uns noch mit in den Bauch des Stadions, zur „Ansprache nach der Begegnung“: „Wir haben festgestellt, dass niemand so viel Einfluss auf Männer ausübt wie ein Fußballtrainer, der eine feurige Rede hält.“ Nur, dass es dabei eben nur vordergründig um Fußball gehe. Denn von Sätzen wie „Es geht nicht um den einen Pass, die eine Flanke – es geht darum, lebenslang am Ball zu bleiben!“, „Die Mauer ist vor dem Tor, ja, aber vor allem ist sie in euren Köpfen!“ und „Ihr geht beim nächsten Mal raus und fangt an, im Hier und Jetzt zu leben!“ nehmen die Männer oft mehr mit als aus Monaten klassischer Therapie.

Gedenkumkleide Christoph Daum

„Tiefenpsychologie ist das ja irgendwie auch, wir sind hier schließlich im Keller“, lacht Dittmann. Und tatsächlich verlassen die Männer wenige Minuten später sichtlich bewegt die „Gedenkumkleide Christoph Daum“. Nicht ohne sich zu versichern, dass auch ein Mann weinen darf, was an diesem Tag allerdings niemand beherzigen will.

Auf dem Weg zum Ausgang in der Veltins-Arena erklärt uns Dr. Aljoscha Dittmann, was er für die Zukunft vorhat: Im „Rückrundequartal“ wolle er Männer mit gerichtlich angeordneten Antiaggressionstrainings einladen und dazu ein Spiel der 2. Frauen-Bundesliga spielen lassen. Wer 90 Minuten, ohne zu schreien, durchhalte, habe bestanden. Bereits in Planung sei zudem eine Expositionstherapie für Arachnophobiker. Schließlich ist Spinnen fangen neben Schrauben schrauben und Grill anmachen Teil der männlichen Kernidentität.

Wer da nicht liefere, zweifle schnell an sich als mutigem Naturbezwinger. „Für die Therapie formen die Spieler einfach hin und wieder eine Spinne auf dem Platz“, erklärt Dittmann. Sollte ein Zuschauer schreien, werde er von den anderen ausgelacht, um solches Verhalten in Zukunft zu unterbinden. Man müsse ja nicht alles gleich austherapieren.

Schon halb aus dem Tor, fragen wir Dittmann noch rasch, ob es selbst im Therapiestadion unheilbare Fälle gebe. „Natürlich.“ Aber als Ultima Ratio für schwere Fälle habe er ja immer noch die neben Fußball einzige Methode, Männern Gefühle zu entlocken: Alkohol. Der funk­tio­niere zwar immer, allerdings bestehe dabei das Risiko, dass die Männer anfingen zu jammern. „Und Schlappschwänze, die kann nun wirklich niemand gebrauchen.“

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