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Roman von Jorge Semprún als Theaterstück„Ich musste wählen, ein anderer zu sein“

Das Berliner Maxim Gorki Theater zeigt „Schreiben oder Leben“. Jorge Semprún verarbeitete in dem Roman Erinnerungen an seine Zeit im KZ Buchenwald.

Das junge Ensemble verbindet Semprúns Erinnerung mit den Generationen und all jenen, die das Stück erleben Foto: Ute Langkafel MAIFOTO

Buchenwald – Berlin – Paris: Ein junges, deutsch-französisches „Wanderensemble“ zeigt sein Gastspiel „Schreiben oder Leben“ am Samstagabend im Studio R des Maxim Gorki Theaters, bevor sie gemeinsam, ganz im Stil Molières, nach Paris weiterziehen. Die Premiere fand bereits Anfang April in der Gedenkstätte Buchenwald statt, anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung der beiden Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Vielstimmig hört man „Bonjour!“, „Hallo!“, „Bisous!“ beim Betreten des Studios, die jungen Spielenden empfangen herzlich. Sie tragen, was sie so tragen, spielen, wie sie eben gerade sind. Die Atmosphäre ist locker, fast feierlich. Viele kennen sich bereits, viele im Publikum sind aus Frankreich angereist.

Angeführt wird die Truppe von der in Nazareth geborenen französischen Filmschauspielerin Hiam Abbass und dem Theaterregisseur Jean-Baptiste Sastre. Hiam Abbass arbeitete unter anderem mit Ariane Mnouchkine, der Gründerin des Théâtre du Soleil in Paris, wo das junge Ensemble im Juni noch spielen wird – und wird auch im nächsten Film Terrence Malicks zu sehen sein. Das Regie-Duo arbeitet seit über zehn Jahren zusammen, begibt sich weltweit in Vereine, Communitys und Regionen, um dort das Menschliche zu erforschen, wie sie sagen. Wie etwa in einem Projekt mit einem Berliner Obdachlosenchor oder einem theatralen Triptychon in Frankreich, das die Herausforderungen der modernen Gesellschaft fassen sollte, entlang Simone Weils „Plädoyer für eine neue Zivilisation“.

Der reine Text, Semprúns Erzählung, steht im Mittelpunkt der Inszenierung

„Schreiben oder Leben“ ist ihre aktuelle internationale Theaterproduktion, in der sie gemeinsam mit 33 jungen Menschen aus Bourges, Clichy-sous-Bois, Alès, Paris, Weimar, Erfurt und Berlin dem gleichnamigen Roman „Schreiben oder Leben“ von Jorge Semprún ins Zentrum stellen. Für den Roman erhielt Semprún 1995 den Prix Littéraire des Droits de l’Homme.

Die Erfahrung des Lagers

Tatsächlich steht der reine Text, Semprúns Erzählung, im Mittelpunkt der Inszenierung. Roh, ohne jede Ablenkung, nur etwas Kreide liegt auf dem Bühnenboden. An die kahle schwarze Bühnenwand ist mit ihr die Nummer einer Baracke geschrieben: 56.

Eine französische Spielerin spricht einen langen Monolog Semprúns. Die Zuschauenden folgen aufmerksam – sogar, wenn sie vieles sprachlich nicht verstehen können. Die harten Begriffe „Sonderkommando“ oder „Stubendienst“ spricht sie aber auf Deutsch.

Semprún, spanischer Schriftsteller und Aktivist, floh in jungen Jahren vor dem spanischen Bürgerkrieg nach Paris und wurde dort Teil einer kommunistischen Résistance-Bewegung. 1943 verhaftete ihn die deutsche Gestapo und deportierte ihn in das KZ Buchenwald, zwei Jahre später kehrte er nach Paris zurück. Sein Zeugnis „Schreiben oder Leben“ erscheint aber erst sehr viel später. Das jahrelange Ringen um Sprache und den eigenen Erinnerungsprozess ist das, was das Stück erzählt:

„Schreiben oder Leben?“, fragt eine Spielerin zu Beginn, vor diese Entscheidung sah sich Semprún gestellt: Sein Wunsch, Schriftsteller zu werden, wurde durch die Erfahrung des Lagers erschüttert. Um überhaupt weiterleben zu können, musste er sich entscheiden: „Ich musste wählen, ein anderer zu sein, nicht mehr ich selbst zu sein, um weiterhin etwas zu sein: jemand“, erzählt sie weiter.

Die Angst Semprúns vor schwindender Erinnerung

Die Inszenierung lebt, neben ihrer entschlossenen Position zum Text, von ihrer Mehrsprachigkeit: Französisch, Deutsch, Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und Romanes sind die Sprachen, die die Spie­le­r:in­nen selbst mitbringen und mit dem Originaltext verweben. Einmal interpretiert eine portugiesisch-französische Spielerin passend dazu das Lied, das Barbara einst sang: „Bien sûr, ce n’est pas la Seine/ Ce n’est pas le bois de Vincennes/ Mais c’est bien joli tout de même/ À Göttingen, à Göttingen.“

Hiam Abbass, Jean-Baptiste Sastre und ihr junges Ensemble haben sich bewusst gegen zeitgenössische Elemente und Irritationen entschieden, um freizulegen, worum es ihnen allen geht: Die Angst Semprúns vor schwindender Erinnerung. Bald, so sagt ein junger Spieler, wird es „kein unmittelbares Gedächtnis mehr, keine körperliche Erfahrung des Lagers“ mehr geben.

Der Satz widerlegt sich aber im Moment seines Aussprechens ein Stück weit selbst: Hier wird aus den Mündern junger Menschen gesprochen. Das Ensemble verbindet sich an diesen Abenden mit Semprúns Sorge, verbindet die Erinnerung mit den Generationen und all jenen, die es hier erleben.

Die Symbolik der Begegnung der Jugendlichen und die reale Kraft und Tragweite von Literatur treffen im Studio R an diesem Abend aufeinander. Doch es ist nicht nur das, was man an diesem Samstagabend sieht, vielmehr ist es das großangelegte Projekt als solches, das man erlebt, das so stark ist: Das Sichannehmen Semprúns, je­de:r nacheinander, auf ganz unterschiedliche sprachliche Weise. So, wie die Spielenden eben gerade sind.

Und Paris wird nicht die letzte Station sein, an der das internationale junge Ensemble Halt machen wird: Für 2026 ist eine Reise durch weitere Städte in Deutschland und Frankreich geplant, bis nach Marseille.

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1 Kommentar

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  • Danke. Chapeau

    “Was für ein schöner Sonntag!“

    unterm——



    “Der Titel des Romans geht zurück auf die sarkastische Äußerung des Mithäftlings Fernand Barizon. In der Finsternis stehen die Häftlinge um 5 Uhr morgens im Schneetreiben beim Appell: „Was für ein schöner Sonntag!“



    „Er hat das mit übertriebenem Gelächter gesagt, als sagte er ‚Merde!‘ Aber er hat nicht merde gesagt. Er hat gesagt ‚Was für ein schöner Sonntag, Kumpel!‘, auf Französisch, beim Anblick des schwarzen Himmels um fünf Uhr morgens.“



    Die Appelle, das zum Teil stundenlange Stehen in eisiger Kälte, sind für Semprún ein zentrales Bild für die Lager, nicht nur für die KZs, auch für den GULAG, wie ihn Solschenizyn schildert. Es sind Momente des Ausgeliefertseins mit dem Blick auf Stacheldraht, Wachtürme und Bewacher, mit dem Wissen, dass es Menschen gibt, die in diesem Augenblick im Warmen sitzen. Es sind aber auch Momente der Kameradschaft, der heimlichen Solidarität der „Kumpel“, Momente für Träume von schönen Sonntagen der Vergangenheit.…“



    de.wikipedia.org/w...%C3%B6ner_Sonntag!



    &



    de.wikipedia.org/w...Jorge_Sempr%C3%BAn



    Quelle homme 💐