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Interview mit Jorge Semprún"Sozialist ohne Partei"

Der Schriftsteller Jorge Semprún hat ein KZ überlebt, war im Untergrund und als Kulturminister tätig. Ein Gespräch vor seinem 85. Geburtstag über die Entwicklung der Linken und den Sinn von Militanz.

Mahnmal von Peter Cremer vor dem ehemaligen KZ Buchenwald. Bild: dpa
Dorothea Hahn
Interview von Dorothea Hahn

taz: Herr Semprún, wann haben Sie sich zum letzten Mal entrüstet?

Jorge Semprún: Ich entrüste mich jeden Tag. In den letzten Tagen hat sich meine Wut vor allem gegen das Spektakel gerichtet, das die französische Parti Socialiste (PS) bietet. Diese Unfähigkeit, das richtige Programm und die richtige Person zu finden. Dieser kollektive Selbstmord.

Wer ist verantwortlich?

Ich mache keinen Qualitätsunterschied zwischen Ségolène Royal und Martine Aubry. Auch wenn sie in programmatischer Hinsicht unterschiedlich sind.

dpa
Im Interview: 

JORGE SEMPRÚNS Kindheit in Spanien endet im Bürgerkrieg. Als er 14 ist, zieht die großbürgerliche Familie Semprún nach Frankreich ins Exil. In Paris schließt Semprún sich der Résistance an. 1943 fällt er in die Hände der Gestapo und wird in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. In den 50er- und frühen 60er-Jahren ist er im Auftrag der Moskauer Exilführung der PCE im Untergrund im franquistischen Spanien tätig. Fast zwei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs und während seines Bruchs mit der Kommunistischen Partei beginnt Semprún eine Karriere als Schriftsteller, später auch Filmemacher. Sein erstes Buch "Die große Reise" führt in das Konzentrationslager Buchenwald. Später wird er unter anderem mit "Was für ein schöner Sonntag" (1980) dorthin zurückkehren. Andere zentrale Themen in seinem Werk sind die Auseinandersetzung und Kritik der kommunistischen Bewegung und der spanische Bürgerkrieg. Im Jahr 1988 holt ihn der Sozialdemokrat Felipe González für drei Jahre als Kulturminister nach Madrid. Semprún lebt in Paris. Am 10. Dezember wird er 85 Jahre alt.

Die Sozialdemokratie steckt auch anderswo in der Krise.

Stimmt. Die Sozialdemokratie hat vor einigen Jahren sehr viele europäische Länder regiert. Jetzt ist sie fast überall in der Minderheit. Aber die französische Ausformung dieser Krise ist die traurigste, die enttäuschendste und die karikaturenhafteste von allen.

Warum passiert es gerade bei der PS?

Die PS hinkt in ihrem Denken hinterher. Sie versucht sich verspätet auf dem Terrain von Modernität und Globalisierung und in der Beziehung zur Marktwirtschaft. Sie hat weder wie die Deutschen ihr programmatisches Bad Godesberg gehabt noch sich wie die spanischen Sozialisten gegen den Kapitalismus des franquistischen Staates positioniert. Die französische PS hat den jakobinischen Zentralismus nie infrage gestellt. Sie hat das französische Erbe einfach übernommen.

Hat die PS noch eine Zukunft?

Ich fürchte eine lange Krise, die die PS unfähig machen wird zur Opposition gegen das Regime von Sarkozy. Ich fürchte nicht ihr Verschwinden. Sondern ihre Spaltung, ihren Einflussverlust, ihr Abdriften an den Rand.

Ihr Abschied vom Kommunismus reicht mehr als vier Jahrzehnte zurück. Wie bezeichnen Sie sich heute?

Zur Zeit der Komintern gab es Leute, die sich als "Bolschewiken ohne Partei" definiert haben. Ich würde mich heute als "Sozialist ohne Partei" bezeichnen.

Wie hat sich Ihr politisches und moralisches Engagement mit dem Alter verändert?

Mein politisches Denken führt nicht mehr dazu, dass ich mich militant engagiere.

Was verstehen Sie unter Militanz?

Direkte und praktische Beteiligung. Das echte Kriterium ist die Praxis. Ich habe ein wenig das Syndrom der Résistance. Für mich bedeutet "militant" sein: zur Waffe greifen.

Was kann das in einer Demokratie bedeuten?

Sich am Wahlkampf beteiligen. Wenn ich jünger wäre, würde ich mich in Spanien in den Kampagnen gegen die Xenophobie engagieren. Oder gegen den Machismo. Es gibt echte soziale Bewegungen heute. Aber ich bin heute ein aktiver Sympathisant. Wenn man mich um meine Unterschrift bittet, gebe ich sie.

Ist Schreiben für Sie eine Form der Militanz?

Nein. Das ist es nie gewesen. Im Gegenteil. Es ist das Ende der Militanz. Ich schreibe nie ein Buch, um eine Sache zu verteidigen, oder eine Idee zu verbreiten. Sondern, weil es Personen und Situationen gibt, die mich interessieren. Ich arbeite langsam. Ich bin kein leichter Schriftsteller. Ich bin nicht überzeugt, dass das, was ich schreibe, interessant ist. Ich habe immer drei oder vier Projekte. Zu viele für die Zeit, die mir noch bleibt. Aber ab und zu bringe ich eines zu Ende.

Wenn Sie über Buchenwald schreiben …

… ist das nicht militant für mich.

Verfolgen Sie dabei eine pädagogische Absicht?

Nein. Die grundlegende Idee ist, dass die meisten Leute, die etwas zu sagen haben, tot sind. Das hat Schweigen zur Folge. Man muss versuchen, dem abzuhelfen, dieses auszugleichen. Dabei ist man zwangsläufig ungeschickt. Denn wir wissen nicht, was die Toten gesagt hätten. Damit hängt eine weitere Sache zusammen, die aber zweitrangig ist: Über die Lager zu sprechen, ist für mich eine Art, meine Erinnerung zu finden. Ich habe dort meine Identität geschmiedet. Inklusive der als Militanter.

Sie werden in wenigen Tagen 85. Aber Ihre Identität beziehen Sie aus dem Konzentrationslager, wo Sie als 20-Jähriger waren.

Ja.

Was bedeutet das konkret?

Die Erfahrung der persönlichen Freiheit. Die bewirkt, dass man sich unter extremen Bedingungen entscheiden kann, Widerstand zu leisten oder zu kapitulieren.

Es ist ein Ort des Todes.

Im Unterschied zum normalen Leben essen Sie im Lager weniger, schlafen weniger und sterben leichter. Aber der Hauptunterschied ist, dass Sie die freie Wahl haben. Im normalen Leben haben die Leute kaum eine Entscheidung zu treffen. Das wird von der Gesellschaft, von der Familie et cetera für sie erledigt. Aber unter den extremen Bedingungen des Konzentrationslagers, wo alles beschleunigt ist und schärfer und stärker als irgendwo sonst, ist die Wahl entscheidend. Die Wahl, Widerstand zu leisten. Die Wahl, solidarisch zu sein. Die Wahl, nicht vor einem SS-Mann zu kapitulieren, um eine zusätzliche Brotration zu bekommen.

In der größten Unfreiheit haben Sie die Freiheit der Wahl entdeckt.

Die menschliche Freiheit. Und zugleich das radikal Böse. Die Freiheit, das Böse zu tun. Das ist eine grundlegende Erfahrung für mich. Die meine Persönlichkeit bestimmt und strukturiert hat.

Ihr anderes großes Thema ist der spanische Bürgerkrieg und der Untergrund in den Jahren danach. Haben Sie auch da keine Absicht, Geschichte zu vermitteln?

Ich mag die Formel "Geschichtsunterricht" nicht. Aber ich habe ein neues Projekt, das noch keine Struktur hat. Es geht um die Debatte über die Erinnerung in Spanien. Heute kommt sie im Galopp zurück. Das ist ein Thema, das mich viel beschäftigt. Ich habe Lust, es zu behandeln. Ich weiß noch nicht, in welcher Form. Ob als Roman oder Essay. Oder als Abhandlung.

Warum tut Spanien sich so schwer mit der Erinnerung?

Die transición [demokratischer Übergang; d. Red.] ging mit Amnesie einher, mit Kompromissen und freiwilligem Vergessen. Stärker für die Linken als für die Rechten. Aber heute ist die spanische Demokratie trotz des baskischen Terrorismus konsolidiert genug, um sich den Luxus einer Erinnerung zu leisten.

Wie erklären Sie, dass Argentinien und Südafrika sich leichter getan haben mit der Gedächtnisarbeit?

Es gibt eine Reihe von Faktoren. In Spanien ist die Gedächtnisarbeit auch heute noch sehr schnell von Parteinahme und Rache getrübt. Das macht Spanien zu einer negativen Ausnahme. Intellektuell ziehe ich den argentinischen, chilenischen oder südafrikanischen Prozess vor.

Das 20. Jahrhundert ist auch eine Folge von linken Niederlagen. Darunter im spanischen Bürgerkrieg und durch den deutschen und italienischen Faschismus. Welche erfolgreichen Experimente der Linken gibt es in der Geschichte?

Es bleiben die Erfahrungen von Kämpfen und einer populären Erfindungsgabe in den Momenten des Kampfes. Aber am Ende steht immer ein Scheitern. Das Scheitern der Sowjetunion war das schwerwiegendste. Und das entscheidendste.

Sehen Sie wirklich nichts Positives in der Geschichte der Sowjetunion?

Ich sehe jede Menge positive Dinge. Im Allgemeinen sind sie nicht institutionell. Der Elan der Revolution hat die ganze Welt in Bewegung versetzt. Die Politik in der Krise von 1929 zum Beispiel war in großen Teilen nicht nur gegen die Wirtschaftskrise gerichtet, sondern auch gegen die ersten Erfolge der Fünfjahrespläne. Der New Deal wäre nicht verständlich ohne die Planwirtschaft der Sowjetunion. Man kann auch die Dichter lesen. Brecht. Oder Alberti. Oder Aragon. In der europäischen Poesie gibt es einen oft sehr schönen, wunderbaren Reflex dieses großen Lichtes des Oktobers. Das ist positiv. Das bleibt.

Sehen Sie die Linke langfristig auf Utopie festgelegt statt auf Realpolitik?

Die Frage ist ein echtes Dilemma. Es kommt nicht auf die Richtigkeit oder die ideologische Wahrheit an, sondern den praktischen Erfolg. Man muss Schluss damit machen, dass die Rechten die Gegenwart regieren und die Linken von der Zukunft träumen.

Wird das 20. Jahrhundert als Katastrophenjahrhundert in den Geschichtsbüchern bleiben?

Es war das Jahrhundert der Konzentrationslager, des Scheiterns der kommunistischen Revolution. Aber es ist zugleich das Jahrhundert der Emanzipation der Frau. Das Jahrhundert der Emanzipation der kolonisierten Völker. Das Jahrhundert der Verlängerung des menschlichen Lebens. Man kann einen pessimistischen Blickwinkel wählen. Man kann sagen, es ist das Jahrhundert der Extreme, wie Hobsbawm. Aber man kann auch sehr positive Dinge sagen.

Sie selbst haben sich nicht viel um diese positiven Dinge gekümmert.

Aus persönlichen Gründen. Meine Erfahrung ist eher die des Scheitern. Das Scheitern der kommunistischen Revolution. Der Sieg der Nazis mit seinen Folgen für die Lager. Aber das ist eine persönliche Frage. Diese Erfahrung hat mich zu einem bestimmten Typ von Texten getrieben. Literatur des Nachdenkens. Aber das 20. Jahrhundert ist nicht nur das.

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