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Vernichtungskrieg gegen die UdSSRVom Antikommunismus getrieben

Jochen Hellbeck will das Bild des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion einer revidieren. Sahen die Nazis die UdSSR vor allem als jüdischen Staat?

1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjet­union. Die Aufnahme vom Juli zeigt einen deutschen Soldaten mit gefangenen Rotarmisten Foto: Bayerische Staatsbibliothek/bpk

Die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion waren in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik kein Thema. Die von den Nazis gehegte Furcht vor den „asiatischen Horden“ ließ sich umstandslos in die junge Bundesrepublik transportieren, einem Land, das als Frucht des Kalten Krieges geboren worden war.

Eine Beschäftigung mit den deutschen Massenmorden an den Menschen in diesem Land zwischen 1941 und 1945 hätte das von Joseph Goeb­bels geschaffene Bild von der östlichen „Bestie“ ins Wanken bringen können – und unterblieb deshalb. Erst im Jahr 1981 erschien mit „Die Truppe des Weltanschauungskrieges“ von Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm die erste umfassende Studie über das Wüten der Einsatzgruppen im deutsch besetzten Osten.

Nun hat der in den USA lehrende Jochen Hellbeck eine Studie mit dem Titel „Ein Krieg wie kein anderer“ über den „deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion“ verfasst, das auf dem Cover nicht weniger als eine „Revision“ der bisherigen deutschen Sichtweise auf diesen Krieg verspricht.

Der Autor legt ein mit Fakten gesättigtes Werk vor, das auch Quellen erschließt, die bisher wenig Beachtung gefunden haben. Die Schilderungen der bestialischen Gewalt des NS-Regimes sind beeindruckend und zugleich schwer erträglich. Sie machen deutlich, dass es sich aus Sicht des Deutschen Reichs nicht um einen Krieg handelte, sondern um einen Vernichtungsfeldzug, bei dem jeder deutsche Soldat zum Werkzeug rassistischer und antisemitischer Vorstellungen wurde.

Jochen Hellbeck: „Ein Krieg wie kein anderer. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Eine Revision“. S. Fischer, Frankfurt am Main 2025, 688 Seiten, 36 Euro

Zu wenig Russisch studiert?

Zugleich räumt Hellbeck mit Mythen der Nazis auf, die bis heute herumspuken. Es gab beim Vordringen der Roten Armee auf Reichsgebiet keinen Befehl Stalins, die Deutschen umzubringen, oder einen Aufruf des russischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg, deutsche Frauen zu vergewaltigen. Hellbecks Versuche, die tatsächlich begangenen vielen Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Rotarmisten zu erklären, wirken jedoch wenig überzeugend.

Hellbecks Kernthese lautet, dass der Kampf gegen den als jüdisch gedeuteten Bolschewismus eine ebenso zentrale Grundlage der NS-Ideologie gewesen sei wie der Antisemitismus. Die Nazis hätten die Sowjetunion als „jüdischen Staat“ verstanden. Es sei ihnen darum gegangen, zunächst den „jüdisch-bolschewistischen Gegner im Osten“ zu vernichten und anschließend die Juden in ganz Europa.

Bekannte Thesen von der Radikalisierung des NS-Antisemitismus bis zum Holocaust verschleierten die „zentrale Bedeutung der sowjetischen Juden in der Vorstellungswelt der Nationalsozialisten“, schreibt der Autor. Holocaust-Forschern wirft Hellbeck vor, zu wenig Russisch studiert zu haben, der westlichen Geschichtswissenschaft allgemein, im Antikommunismus verfangen zu sein. Die Ausstellung im Holocaust-Museum in Washington, D. C. sei ebenfalls sehr einseitig.

Angebliche Verbrechen, die sich widersprechen

Doch so stark sich diese These ausnimmt, so sehr steht sie auf tönernen Füßen. Wie verträgt sich Hellbecks Geschichtserklärung mit der Tatsache, dass der NS-Staat zwischen 1939 und 1941 zum Zwecke der Aufteilung Osteuropas Frieden mit der UdSSR schloss, einem laut Hellbeck in ihren Augen „jüdischen Staat“? Demnach hätten die Nazis fast zwei Jahre lang einen Kernpunkt ihrer Ideologie ins Gegenteil verkehrt. Andersherum gefragt: Hätte Hitler also ebenso seinen Antisemitismus für ein paar Jahre pausieren lassen können, wenn dies notwendig gewesen wäre?

Die Frage zu stellen, heißt, sie zu verneinen. Selbstverständlich zählte der Kampf gegen den Bolschewismus zu den wichtigen Charakterzügen der NS-Herrschaft, wozu auch die Behauptung gehörte, dieser Bolschewismus gehe von jüdischen Protagonisten aus. Aber eine Parallelisierung mit dem Antisemitismus geht fehl. Dieser zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er seinen Opfern willkürlich angebliche Verbrechen zuschreibt, die sich diametral widersprechen, sei es, dass Juden alle böse Kapitalisten seien oder auch böse Kommunisten. Beides tat die NSDAP je nach Lage. Die Sowjetunion wurde den Nazis aber vor allem deswegen zum Hauptfeind, weil ihre schiere Existenz der Wunschvorstellung eines germanischen Weltreichs widersprach.

Das ändert nichts an den Massenverbrechen von SS, Polizei und Wehrmacht an sowjetischen Soldaten und der Zivilbevölkerung, wobei Jüdinnen und Juden im Zuge des Holocaust am stärksten betroffen waren. Das ändert auch nichts an dem Umstand, dass die bundesdeutsche Politik über Jahrzehnte die Frontstellung des Kalten Kriegs dazu benutzt hat, um sich aus der Verantwortung für diese Verbrechen zu stehlen.

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2 Kommentare

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  • Hellbeck mag aus seinen im Kern ja richtigen Beobachtungen teilweise überspitzte Beobachtungen ziehen, ich fürchte aber, dass der Kritiker hier den umgekehrten Fehler macht und die Bedeutung des Antikommunismus und konkret des Kampfes gegen die SU für die Nazis (oder zumindest für den Teil der Nazis, der sich in aussenpolitischen Fragen letztlich durchsetzte - der Führungszirkel war ja ideologisch nicht homogen) unterschätzt:



    Der "Hitler-Stalin-Pakt" war kein wirklich Bruch mit dem "Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus"; weil Hitler nie beabsichtige, ihn auch nur mittelfristig einzuhalten: es war eine rein pragmatische Entscheidung, die situativen militärischen Erwägungen geschuldet war und am Ziel, nämlich der Zerschlagung der SU, nichts änderte.



    Es scheint mir auch zu kurz zu greifen, in der Existenz der SU als Staat allein ein Hindernis zum NS-Herrschaftsanspruch zu sehen: dasselbe könnte man ja auch von anderen Staaten behaupten, die aber nie in der gleichen Weise als nicht nur praktischer, sondern auch ideologischer Feind markiert wurden (und auch in der Regel nicht mit demselben Vernichtungswillen bekämpft wurden).

  • Zu diesem Buch habe ich auch schon die Rezension in Deutschlandfunk gehört. Ich frage mich weiterhin, wo das Bild vom Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wirklich revidiert wird? Sicherlich, die Quellenlage ist groß, nur wenige sind weithin bekannt, also sind die meisten Quellen für die meisten Leser neu. Der Krieg gegen die Sowjetunion wird auch schon lange als ein Vernichtungskrieg bezeichnet, was sich auf das tausendfache Abbrennen von Dörfern und Massenerschießungen bezieht.



    Wenn Hellbeck den Kampf des Nationalsozialismus gegen die Sowjetunion als einen gegen den "jüdischen Bolschewismus" beschreibt, dann wäre das keine Ergänzung zum Antisemitismus, sondern ein lupenreiner Ausdruck desselben.



    Was wirklich neu ist für den deutschen Diskurs, das ist die Publikation von Feuerdörfer mit Zeitzeugenberichten vom Vernichtungskrieg in Belarus. An sich inhaltlich bekannt, aber durch persönliche Perspektive und Details doch etwas neues, was das Verständnis der Geschichte erweitert.