: DieHoffnunghatvieleGesichter
Rund um das ukrainische Cherson hat sich der Krieg tief in die Landschaft gefressen. Noch immer ist die Front hier nicht fern. Doch die wenigen Menschen, die geblieben oder zurückgekehrt sind, bauen ihr Zuhause wieder auf
Aus Bila Krynytsia und Bilohirka Daniel Schulz (Text) und Khrystyna Lizohub (Fotos)
Wenn du jemanden findest, der so über dich spricht wie Serhiy über seinen Traktor, dann hast du im Leben vielleicht ein paar Dinge richtig gemacht.
„Der Traktor ist meine Seele“, sagt Serhiy. Sanft nach vorn gebeugt steht er da, er lächelt so, dass er seine schmalen Lippen kaum anhebt in den Mundwinkeln, und doch erreicht dieses Lächeln sein ganzes, vom kalten Wind gerötetes Gesicht. Serhiy steht vor seinem Traktor und der wiederum stützt sich auf einen abgesägten Baumstumpf, sonst würde er umfallen, er hat gerade nur zwei Räder. Die anderen beiden stehen ein paar Meter weit weg, mitsamt dem Vorderteil der Maschine. Serhiy hat seinen Traktor geteilt, um ihn endlich zu reparieren. Im Frühling 2022 haben Mörsergranaten den Motor zerfetzt.
Du kannst dir die zerschossenen alten Teile anschauen, sie liegen noch dort, wo die Granaten eingeschlagen sind vor Serhiys Haus. „Es tut weh, wenn ich sehe, wie jeder aufs Feld fährt, nur ich nicht“, sagt Serhiy, bückt sich und klopft mit einem riesigen Inbusschlüssel neben der Getriebewelle herum, die vorn aus dem Traktor herausragt. Da soll der neue Motor hin.
Zwei Jahre hat Serhiy gespart und seit gestern liegt vor seinem Haus, fast an der gleichen Stelle, wo damals die Granaten eingeschlagen sind, ein großes Paket. Die Pappe hat Serhiy schon aufgerissen, aus dem Loch schaut braunes Metall. Heute ist Sonntag, heute bereitet Serhiy alles vor. Morgen baut er den neuen Motor ein. Noch einmal dengelt Serhiy mit seinem Inbusschlüssel neben die Getriebewelle. Öl und Fett regnen in schwarzen Brocken auf den Rasen. Serhiy murmelt etwas in Traktorsprache von Dichtungen und einem Ausrücklager und dann schaut er mit seinem leisen Lächeln auf und sagt auf Ukrainisch: „Ich muss da raus, das Land singt.“
Das Land ist die Steppe nordöstlich der Stadt Cherson, flach und weit unter einem ebenso weiten Himmel. Übersetzt du die Ortsnamen vom Ukrainischen ins Deutsche, könntest du meinen, du wärst in Tolkiens Auenland geraten. Serhiys Dorf heißt Bilohirka, Weißhügel, ein paar Kilometer weiter, auf der anderen Seite des sich wie eine Schlange windenden Flusses Inhulez liegt Bila Krynytsia, Weißbrunnen. Es gibt auch ein Sukhyi Stavok, Trockener Teich. Aber da leben keine Menschen mehr, nur noch Hühner suchen Futter zwischen den Ruinen.
Bis Bilohirka kamen Russlands Soldaten Anfang 2022 bei ihrem Versuch, die gesamte Ukraine zu erobern. Über den Inhulez schafften sie es nicht, der war die Grenze, was nicht heißt, dass sie über dieses schmale Wasser nicht schießen konnten mit ihren Mörsern, ihrer Artillerie, ihren Mehrfachraketenwerfern. Ukrainische Soldat:innen schossen zurück. In den Gärten von Bilohirka und Bila Krynytsia liegen mehr Patronenhülsen, Granatreste und Raketentrümmer als dort Blumen wachsen. Gut, es ist März, der Frühling kommt erst noch. Die Ukrainer:innen vertrieben die Besatzer schließlich im Herbst 2022 nach Osten auf die andere Seite eines viel breiteren Flusses, als es der Inhulez je sein wird, auf die andere Seite des Dnipro.
Fünfzig Kilometer weit ist die Front heute von Serhiy und seinem Traktor weg. Der Krieg hat sich hier so tief in die Landschaft gefressen, dass es schwerfällt, sich die Dörfer, Felder und Straßen ohne ihn vorzustellen. Einschusslöcher ziehen sich in sprunghaften Mustern über Hauswände und Tore, Schützengräben zerschneiden die Höfe, der blaue Himmel blendet durch hölzerne Dachstuhlgerippe, aus der schwarzen Erde der Weizenäcker ragen die leeren Rohre abgeschossener Raketen. Im struppigen Gebüsch am Rand der Wege flattern zerrissene Einkaufstüten aus Plaste, sie sind ein Signal: Hier wurden Minen geräumt. Was bedeutet, dass an den vielen Stellen, wo keine Plastetüten flattern, noch Minen liegen.
Wer will hier leben?
Wer baut die Häuser wieder auf, pflanzt neu, schüttet die Gräben zu?
Serhiy Brazhenko lebt hier, 59 Jahre alt, bald wird er 60. Er ist ein Melonenbauer, die Gegend hier ist berühmt für ihre Melonen. Serhiy ist ein Poet, wenn es um Landmaschinen und Schwarzerde geht, und über die Zwiebeln schwärmt er wie ein Minnesänger. Seine Sätze werden kürzer, wenn er über Menschen redet. Die Straße hinein nach Bilohirka, die mit Serhiys Haus beginnt, führt an einsamen Wänden, Steinhaufen und Erdlöchern vorbei, von den einst fünfzehn Familien in dieser Straße wohnen hier noch vier, sagt Serhiy. Und dann so ganz nebenher, du hast es kaum gemerkt, hat er dir da eben wirklich gesagt, dass er in den Trümmern nebenan aufgewachsen ist, dass es sein Elternhaus war und dass sein Bruder dort während der Besatzung gestorben ist? Ja, das hat er. Serhiys Mutter immerhin, die lebt noch, sie ist mit ihren 87 Jahren noch einmal umgezogen, nach Davydiv Brid. Brid heißt Furt auf Ukrainisch, der Inhulez ist an der Stelle so flach, dass ihn die Salzhändler früherer Tage dort durchquerten.
Auf Serhiys Grundstück stehen Schilder. Sie warnen weiß auf rot: „Nebezpechno! Miny!“, „Gefährlich! Minen!“. Zur Sicherheit prangt zwischen diesen Worten noch ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Und trotzdem tritt ein Mann zu dem Gespräch mit Serhiy dazu und dann tritt dieser Mann mit seinen Stiefeln gegen das dunkle, runde Ding, das neben einem der Totenkopfschilder halb aus dem Rasen guckt. Er will nur mal zeigen, dass diese Sorte Minen nicht so einfach explodiert, da müsste noch mehr Druck ausgeübt werden, sagt er, und mit viel Druck gibt er dir auch die Hand. Ein silbergrauer Hund bellt ihn an, so wie hier die ganze Zeit Hunde jemanden anbellen. Alle sehen sie wie Würste im Fellmantel aus. Es geht ihnen gut.
Ungefähr 120 Menschen lebten vor der Invasion in Bilohirka, heute sind es noch etwa 20. Gerade in den kleinen Dörfern sind nur sehr wenige geblieben oder zurückkommen, sagen die beiden Starosta dieser Gegend. Starosta heißt „Ältester“, es ist ein Amt, in das man für fünf Jahre gewählt wird, in Friedenszeiten. Der eine ist für Dörfer rechts des Inhulez zuständig, der andere für die links des Flusses. Beide sind kräftige Männer und auf ihren beiden Gesichtern liegt eine Spannung, als warteten sie darauf, endlich ausatmen zu dürfen. Ständig sind sie im Auto unterwegs, ständig am Telefon. Sie schauen sich kaputte und halb kaputte Häuser an und berechnen die Schäden, sie schlichten bei Streitigkeiten, wenn Hilfslieferungen verteilt werden, sie kämpfen um Unterlagen, damit eine Frau endlich auf dem Friedhof beerdigt werden kann. Ihr Körper liegt seit der Besatzung neben ihrem Haus vergraben.
Die meisten, die in diesem Frühjahr hier leben, sind entweder nie gegangen. Weil sie zu alt waren, zu krank, weil sie nicht wussten wohin. Oder es sind Menschen wie Serhiy, die etwas zu bestellen haben, das Land nämlich. Es sind Menschen, die sich an diesem Land festgehalten haben, auch während der Besatzung, der Kämpfe, der Explosionen. Einen Monat harrten Serhiy und seine Frau aus, bevor sie Mitte April 2022 flohen. Kaum hatte die ukrainische Armee ihr Dorf im Herbst zurückerobert, kamen sie wieder. Nur die Stursten sind noch hier, sagen die Starosta. Alle haben eine Geschichte des Überlebens.
Siehst du das Loch dahinten? Das war unser Wohnzimmer. Raketeneinschlag. Zum Glück habe ich den Tieren gerade Wasser gegeben. Sonst wäre ich tot. Das erzählen dir die Großmütter von Bilohirka. Auch Serhiys Haus hat es erwischt. Bis er es schafft, das wieder aufzubauen, wohnen er und seine Frau im Stall. Ein großer Raum, rechts das Doppelbett, in der Mitte ein Kanonenofen, links die Küche und neben dem Regal mit den Tellern und Tassen das Klo. Hinter einem Vorhang.
Neben dem Stall, der jetzt ein Wohnhaus ist, ragt eine von Soldaten gezimmerte Holzverschanzung aus der Erde wie der faulige Zahn eines riesigen Tieres. Serhiy hat es noch nicht geschafft, das abzureißen und wegzuschaffen, ebenso wie er die Schützengräben quer durch seinen Hühnerhof noch nicht ganz zugeschüttet hat.
Andere sind in ihre Garagen gezogen. In ihre Küchen. In dieser Gegend haben die Menschen oft zwei Häuser, ein größeres fürs Wohnen und Schlafen, ein kleineres fürs Kochen und Essen. Wenn sie Glück haben, steht eins davon noch.
Was gibt Hoffnung? Sicher nicht die Versprechen auf baldigen Frieden aus Washington, nicht das grausame Gestammel aus dem Weißen Haus.
Seit dem Herbst schickt Russland fast täglich Schwärme von Drohnen in die Ukraine. In diesen Tagen im März sterben ein 14-jähriges Mädchen und seine Eltern in Saporischschja. Ein 5-jähriges Mädchen und zwei andere Menschen in Kyjiw. Diese Sprache verstehen die Leute hier. Auch wenn die Drohnen die weite Steppe meist nur überfliegen in Richtung der großen Städte. Nachts kann man ihr Brummen hoch am Himmel hören und das Maschinengewehrfeuer der mobilen Einsatzgruppen der ukrainischen Armee, die versuchen, den Tod vom Himmel zu schießen. Auch wenn die Drohnen die Steppe nur überfliegen, wissen die Menschen hier, dass man in Russland noch an sie denkt.
In Velyka Oleksandrivka schlug am 1. Juni 2023 eine Rakete ins Kulturhaus ein. 1. Juni, Internationaler Kindertag in der Sowjetunion, der DDR und anderen sozialistischen Ländern und heute noch in Russland und der Ukraine. Die Rakete kam um 10 Uhr morgens, zur einer Zeit, da hätten sie vor vier Jahren mit den Kindern vielleicht im Kulturhaus gefeiert. Aber weil man nicht nur in Russland noch an die Menschen hier denkt, sondern die Menschen hier auch noch an Russland, waren am 1. Juni 2023 keine Kinder dort.
Velyka Oleksandrivka ist so etwas wie die Hauptstadt der kleinen Steppendörfer, hier sitzt die Verwaltung, hier gibt es eine Klinik. Du fährst an den Trümmern des Kulturhauses vorbei, du denkst daran, dass die Deutschen diesen Ort „Alexanderstadt“ genannt haben, als es vor 84 Jahren noch sie waren, die das Land hier besetzten und die Menschen töteten.

Was also gibt Hoffnung? Was ist überhaupt Hoffnung?
Die Hoffnung sind 760 Steine. 760 Steine passen auf den Truck, der am Donnerstag, den 20. März 2025, in Bila Krynytsia vor dem Hoftor des Starosta, westlich des Flusses hält. Er wird mit diesen Steinen sein Haus wieder aufbauen, seine Eltern und eine Verwandte, die mit ihrem Enkel hierher geflohen ist, leben noch in der Garage. Ob der Kindergarten des Ortes, in dem seine Partnerin Ljudmyla gearbeitet hat, je wieder aufgebaut wird, weiß er nicht. Sie lebt inzwischen davon, aus Hühnern Würste zu machen.
Die Hoffnung sind 44 Bretter vor Serhiys Grundstück in Bilohirka, ein jedes 6 Meter lang. Die Hoffnung sind 6 Fenster, die der Starosta aus Bila Krynytsia zusammen mit anderen Männern neben die Bretter stellt, obwohl dieser Starosta auf dieser Seite des Inhulez nicht zuständig ist.
Die Hoffnung heißt Masha. Maria Khomyakova, 33 Jahre alt, weiches Gesicht und weiche Stimme. Aber es liegt auch etwas Raues in dieser Stimme, das sekundenschnell erblüht, wenn Masha lacht. Wenn sie schreien muss zwischen Männern und Motoren. Masha ist Szenenbildnerin in Kyjiw und sie ist diejenige, die die Steine und die Bretter bezahlt hat, die in Bila Krynytsia und Bilohirka vor den Häusern liegen. Sie hat sich zusammengetan mit anderen Frauen. Sie haben eine Organisation gegründet, „Women’s Forum“, sie haben Gelder im Ausland gesammelt, und dann haben die Frauen Trucks gemietet, Fahrer bezahlt, Steine und Holz. Das mit den Fahrern war gar nicht so einfach, drei sind Masha wieder abgesprungen, kurz vor der Fahrt. Sie haben erfahren, dass sie sich zur Musterung melden sollen, sie hatten Angst, sie müssten zur Armee, in den Krieg. So nahe der Front stehen viele Checkpoints mit Soldat:innen und Polizist:innen. Vielleicht hätten sie die drei Männer gleich mitgenommen. Masha hat so lange telefoniert, bis sie neue Fahrer hatte.
Wegen des Krieges findet Masha auch keine Bauarbeiter für Bilohirka und Bila Krynytsia mehr. Sie werden eingezogen oder verstecken sich, versuchen wenig zu reisen, fliehen. Viele Frauen trauen sich das Häuserbauen noch nicht zu, sie haben es nie gelernt. Also lässt Masha Steine, Holz und Isolierwolle nur vor den Häusern abladen, in denen es noch Männer gibt. Masha stempelt Lieferscheine, Masha beißt sich auf die Zunge, wenn ein Angetrunkener sagt, freiwillige Helferinnen wie sie würden nichts tun, während von Masha bezahlte Arbeiter um ihn herum Mashas Steine stapeln. Masha zuckt nicht einmal, wenn es laut knallt. Minen, die jemand gefunden hat, Minen, die jemand gesammelt und in ein Loch geworfen hat und auf die jemand einen brennenden Autoreifen schleudert, damit sie explodieren.
Sie schickt dir nach diesen Tagen im März Bilder per Telegram, Bilder von Hämmern mit Köpfen aus Hartgummi. Kyianka heißt der Hammer der Zimmermannsleute auf Ukrainisch und Kyianka nennt sich auch Masha, weil sie in Kyjiw geboren ist und nicht nur zugezogen. Sie ist stolz darauf, und zu den Bildern mit den Hämmern schreibt sie: „Manchmal muss ich selbst so ein Hammer sein.“
Darya Pashnyuk, Bewohnerin von Bilohirka
Staatliche Hoffnung, die gibt es auch, Programme für den Wiederaufbau, viele mit einem „e“ im Namen, weil in der Ukraine vieles nur noch im Internet passiert. Ukrainer:innen, deren Häuser beschädigt wurden, können Geld für Baumaterialien bekommen. Für zerstörte Häuser gibt es digitale Zertifikate, mit denen man sich ein anderes Haus kaufen kann. Aber viele Menschen hier haben nicht die notwendigen Dokumente für diese Programme. Von 38 Häusern in Bilohirka existiert nur für eins die Besitzurkunde, erzählt der Starosta östlich des Flusses. Die Menschen haben über Generationen ohne Papiere gelebt und ihren Besitz per Handschlag verkauft. Was es überhaupt an Unterlagen gab, ist dann größtenteils im Krieg verbrannt.
Die Hoffnung sind Gurken und Tomaten. Wenn man die Straße an Serhiys Haus in Bilohirka vorbei bis ganz ans Ende fährt, kommt man zu den Gewächshäusern von Darya Pashnyuk und Kateryna Lypunova. Tropisch warm ist es hier drin, 25 Grad, es können 45 werden, würde man die Türen schließen. Dasha, 23 Jahre alt, kniet zwischen zentimeterhohen Gurkenpflanzen, greift nach grünen Schnüren, die von der Decke über ihr hängen, knotet und windet sie um kleine Stengel. Hochbinden heißt das, die Gurken sollen entlang der Schnüre nach oben ranken. Katya, 25 Jahre alt, topft Tomatenpflanzen in größere Gefäße um. „Natürlich haben wir Angst“, sagt Dasha. Angst davor, wie viel ukrainisches Land Trump an Putin verdealt, Angst davor, dass ihr Dorf noch einmal besetzt wird, Angst davor, dass sie sich wieder vor Soldaten aus Russland verstecken müssen wie während der ersten Besatzung 2022.
Die beiden führen dich aus der Wärme des Gewächshauses hinaus in die strahlende Märzsonne und den arktisch kalten Wind und durch eine Tür und nach rechts in ein Zimmer mit zwei Betten. An der Wand steht ein Wäscheständer und dahinter hängt ein Teppich, groß, braun und schwer, mit einem dieser Muster, sollen es Blumen sein, ein Wappen, ein Geschwür? Jedenfalls hebt Dasha den Teppich an, sie fasst die untere linke Ecke und hebt ihn hoch und dahinter siehst du den Sims eines Fensters und übereinander gemauerte Steine dort, wo Glas sein müsste. Hierhin haben sich die beiden Frauen verkrochen, wenn Soldaten aus Russland auf ihren Hof kamen.
Katya sagt: „Wir leben Tag für Tag. Monat für Monat.“ Dasha sagt: „Wir versenken uns darin, etwas wachsen zu sehen, in die Arbeit mit unseren Händen.“ Bilohirka war mal bekannt für seinen Gemüseanbau. Vielleicht wird es das wieder.
Wärme ist Hoffnung. Es wird wärmer werden und Yulias Bienen werden fliegen. Okay, eigentlich fliegen Yulias Bienen schon, seit Mitte Februar. Aber sie trainieren nur ihre Flügel, werfen die Scheiße ab, die sie während des Winters gesammelt haben. Yulia Petrienko, 36 Jahre alt, muss sie mit Honig füttern, damit ihre Bienenvölker nach dem Winter wieder wachsen können. 60 davon leben in Holzkästen hinter ihrem Haus, Holzkästen in Blau, Zartrosa und Grün. Fotos auf ihrem Mobiltelefon zeigen Erde und Asche an dieser Stelle.
Bila Krynytsia liegt zwar westlich des Inhulez, Russland hat Yulias Dorf nie besetzt, „aber sie haben unser Dorf mit Feuer unter Kontrolle gehalten“, wie Yulia sagt. Ihre Bienen sind verbrannt, ihre 200 Papageien getötet und vertrieben. Mit den Bienen hat sie neu angefangen, die Vogelzucht aufgegeben. Zu teuer. Yulia sagt, was Serhiy sagt, was Dasha und Katya sagen, sie sagt, sie konzentriert sich auf die tägliche Arbeit. Auf ihre Hände.
100 Bienenvölker hätte Yulia gern, das ist ihr Ziel. Und ein gesundes Kind. Sie und der Mann, mit dem sie hier lebt, werden wohl die 120 Kilometer in die große Hafenstadt Mykolajiw fahren, um es zur Welt zu bringen. Die Geburtstation, die näher dran war, musste schließen. Es leben zu wenig Menschen hier.
Ein letzter Besuch. Du fährst zu Dmytro Petrienko, dem Bruder von Yulia, der Imkerin, und Ljudmyla, der Frau, die einmal Kindergärtnerin war. Dmytro liegt auf einem Hügel über Bila Krynytsia. Ein Mann mit feinen Zügen und großen dunklen Augen. Auf dem Foto unter dem Kreuz trägt er Uniform und presst die Lippen zusammen.
23. 05. 1992 – 09. 04. 2023.
Über seinem Grab weht eine blau-gelbe Fahne. Ein paar Meter weiter weht eine zweite, dort liegt der Sohn neben dem Vater. Der Stein des Vaters ist zerschmettert, das Bild des Sohnes liegt auf der Erde. Granaten machen vor den Toten nicht halt.
Du fährst am golden glänzenden Unbekannten Soldaten vorbei, an einer Wegkreuzung in der Steppe. Der Unbekannte Soldat ist die sowjetische Art, an die vielen Toten zu erinnern und sie zugleich in der Namenlosigkeit verschwinden zu lassen, die vielen Toten, die es kostete, die Deutschen wieder zu vertreiben. Neben dem vergoldeten Denkmal, du musst nur einmal über einen Sandweg laufen, erhebt sich ein Kurgan, einer der vielen Grabhügel, in denen das antike Volk der Skythen seine Fürst:innen und Krieger:innen begrub. So ziemlich alle Hügel in der Steppe sind Gräber.
Der ganz alte Tod hat an Schrecken verloren, was einstmals Ehrfurcht gebot, ist heute nur noch ein Haufen Stein und Erde; Bauern pflanzen Getreide darauf an, fahren mit ihren Traktoren bis ganz hinauf.
Auf den Feldern siehst du Menschen mit Helmen, sie schauen nach unten und schwenken beim Laufen lange Metallstangen. Sie suchen Minen.
Du hast hier gelernt, dass nicht nur die Bäuer:innen von Bilohirka und Bila Krynytsia die Jahreszeiten gut kennen. Die Menschen, die hier Minen ausgesät haben, kennen die Jahreszeiten auch. „Lepestok“, Blütenblätter, heißen die kleinen Anti-Personen-Minen, die oft so schwer zu sehen sind. Es gibt sie in Hellgrün für den Frühling, Sattgrün für den Sommer und Braun für den Herbst.
Serhiy Brazhenko hat seinen Traktor tatsächlich repariert. Er ist mit der Egge auf sein Feld gefahren. Und dann mit einer Scheibenegge noch mal hinterher. Dann ging der Motor aus.
Als er davon am Telefon erzählt, denkst du an das, was andere im Dorf über Serhiy erzählen. Serhiy soll gesagt haben, dass er nicht mehr leben will, wenn er nicht endlich wieder auf seine Äcker fahren könne. Du denkst an das, was er selbst erzählt hat, über seine Großmutter, die den Holodomor überlebt hat, eine der großen von Stalin und seinen Getreuen verursachten Hungersnöte in der Sowjetunion. Eine Zeit, in der es keine Melonen gab und keine Zwiebeln und die Menschen alles gegessen haben, was sie kriegen konnten, auch andere Menschen. „Meine Großmutter hat zwei Dinge gehasst“, hat Serhiy dir neben seinem Traktor gesagt: „Krieg. Und Hunger.“
Aber Serhiy klingt fröhlich am Telefon. Die Leute, die ihm den Motor verkauft haben, seien eben keine guten Leute, sagt er, die hätten sich schon bei der Bezahlung seltsam angestellt. Er werde den Motor reparieren, sagt er noch, und dass Minensucher:innen ein weiteres seiner Felder geräumt haben. Er will bei Masha und ihren Frauen nachfragen, ob sie Samen für ihn kaufen können. Er will Melonen säen.
Daniel Schulz, 45, berichtet seit 2015 für die taz über die Ukraine. Bei seinem ersten Besuch hat er auch Masha kennengelernt.
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