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Sinti und Roma in DeutschlandMit keinem Wort erwähnt

Deutschland habe eine historische Verantwortung gegenüber Sinti und Roma, sagt Kelly Laubinger. Sie kritisiert Leerstellen bei den Koalitionsverhandlungen.

Gefährdet: das europäische Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin Foto: K.M.Krause/imago

Berlin taz | „Je länger ich in den Papieren aus den Koalitionsverhandlungen gelesen habe, desto fassungsloser wurde ich“, sagt Kelly Laubinger. Der Geschäftsführerin der Sinti Union Schleswig-Holstein geht es nicht so sehr darum, was auf den 169 Seiten der Arbeitsgruppen aus CDU, CSU und SPD steht – sondern um das, was dort nicht steht. „Sinti und Roma werden nicht ein einziges Mal erwähnt“, kritisiert Laubinger.

Konkret geht es ihr um eine Passage im Papier der Arbeitsgruppe 1 zur Innenpolitik. Dort heißt es: „Deutschland trägt eine besondere Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens.“ Ein Umstand, den Union und SPD völlig zurecht betonen, sagt Laubinger. „Wenigstens an dieser Stelle hätte auch die historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Sinti und Roma erwähnt werden müssen.“

Bis zu einer halben Million Sinti und Roma ermordeten die Nationalsozialisten bis 1945. Sie wurden systematisch entrechtet, deportiert und ermordet. Doch erst 1982 erkannte Deutschland diesen Völkermord an. Mit dem Ende der NS-Herrschaft habe die Diskriminierung und Kriminalisierung aber nicht geendet, sagt Laubinger. Vielmehr dauere sie bis heute an.

Das zeige sich am Umgang der Polizei mit Angehörigen der Minderheit ebenso wie in der medialen Darstellung, an struktureller Diskriminierung im Bildungswesen oder daran, dass zugewanderte und geflüchtete Roma abgeschoben würden – „obwohl unter ihnen Nachfahren von Überlebenden sind“, sagt Laubinger. „Dass wir nun nicht mal erwähnt werden, reiht sich ein in die lange deutsche Tradition, die Geschichte von Sinti und Roma unsichtbar zu machen.“

Mahnmal droht Beschädigung

Dazu passe, dass im Papier zu Kultur und Medien die große Bedeutung der Gedenkstättenlandschaft in Deutschland genannt werde. „Währenddessen droht dem erst 2012 eingeweihten europäischen Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin massive Beschädigung, weil die Bahn eine S-Bahn-Trasse darunter bauen will.“

Zusammen mit dem jüdischen Publizisten Max Czollek hat Laubinger ihre Kritik auch in den sozialen Medien verbreitet. „Gerade in Bezug auf den Völkermord und den historisch tradierten spezifischen Rassismus“ sollten Sinti und Roma „gleichberechtigt“ neben Jüdinnen und Juden und Antisemitismus benannt werden, heißt es in dem Post.

Den Unmut könne er gut nachvollziehen, sagt Mehmet Daimagüler. Er ist der erste Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus. Noch zum Gedenktag am 2. August habe CDU-Chef Friedrich Merz betont, „in der Tat“ sei vielen Menschen in Deutschland „das Ausmaß der Verbrechen“ gegen die Minderheit sowie die fortdauernde Diskriminierung und Ausgrenzung noch „viel zu wenig bekannt“, erinnert Daimagüler.

Auch ihm sei die Leerstelle in den Papieren aufgefallen, sagt Daimagüler. Er habe die Verhandler eigens angeschrieben. „Aus der Union hieß es, man werde meine Hinweise berücksichtigen.“

Darauf setze er. „Die demokratischen Parteien im Bundestag haben vor etwa anderthalb Jahren umfassende Forderungen im Kampf gegen Antiziganismus beschlossen. Auch mit den Stimmen von Union und SPD“, sagt Daimagüler. „Ich gehe davon aus, dass diese Beschlüsse auch in einer neuen Regierung Gültigkeit haben.“

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