Serhij Zhadan über seinen Erzählband: „Der Krieg bricht die Sprache“
Serhij Zhadan ist seit einem Jahr in der ukrainischen Armee und hat neue Erzählungen veröffentlicht. Hier spricht er über das Schreiben im Krieg.

Der ukrainische Autor Serhij Zhadan hat ein neues Buch veröffentlicht, das so ist wie keines seiner vorherigen Bücher. Der Erzählungsband „Keiner wird um etwas bitten“ skizziert den Alltag in der Ukraine nach Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 202. Zhadan erzählt von einem Land, in dem „das Leben zerbrochen, […] die Zeit zerbrochen“ ist, „sich das Gefühl des Atmens verändert“ hat, wie es in einer Short Story heißt. Zhadan hat sich selbst den Streitkräften seines Heimatlandes angeschlossen, er ist für Kommunikation zuständig und betreibt aus seiner Heimatstadt Charkiw Radio Chartija, ein Frontradio. Er hat der taz schriftlich einige Fragen beantwortet.
taz: Serhij Zhadan, Sie sind seit Frühjahr 2024 Mitglied der 13. Brigade der ukrainischen Nationalgarde. Wie geht es Ihnen, wie ist Ihre Situation?
Serhij Zhadan: Die Lage in der Brigade ist stabil – unsere Einheit ist an der Verteidigung der Region Charkiw beteiligt. Da viele Soldaten in der Brigade aus Charkiw kommen, ist das für sie ein zusätzlicher Ansporn, ihre Stadt und ihre Stadtteile zu verteidigen, die quasi unmittelbar hinter den Schützengräben liegen. Die Brigade soll jetzt umstrukturiert werden – in naher Zukunft wird ein ganzes Corps der Nationalgarde nach den Erfahrungen unserer Brigade aufgebaut. Für uns bedeutet das eine neue Herausforderung, neue Aufgaben, neue Arbeit. Wir wollen eine völlig neue Einheit aufbauen, die sich vollkommen von den Prinzipien der Sowjetarmee löst und sich an den Prinzipien der Nato ausrichtet.
geb. 1975, wuchs in Charkiw auf und hat sich mit Romanen wie „Depeche Mode“, „Die Erfindung des Jazz im Donbass“, „Mesopotamien“ und „Internat“ in die erste Riege europäischer Schriftsteller geschrieben, weit über die Ukraine hinaus. Seine Bücher erscheinen im Suhrkamp-Verlag. 2022 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
taz: Wie ist Ihre bisherige Zeit beim Militär verlaufen?
Zhadan: Nach der Ausbildung auf dem Truppenübungsplatz habe ich zwei Monate lang in einem Unterstützungsbataillon gedient. Dann wurde ich in die Abteilung für zivil-militärische Kommunikation versetzt. Dort bin ich derzeit tätig. Unser Team leistet Kommunikations- und Medienarbeit sowohl innerhalb der Brigade als auch außerhalb, im nichtmilitärischen Bereich. Wir schlagen kommunikative Brücken zwischen der Armee und dem Hinterland und versuchen, die Soldaten der Brigade mit allem zu versorgen, was sie brauchen – angefangen von der technischen Ausrüstung bis zur moralischen und psychologischen Unterstützung. Wir sind eine innovative Brigade und verfügen über eine fortschrittliche, gut ausgebildete Führung. Wir sind fest davon überzeugt, dass man eine völlig andere Armee aufbauen kann, eine Armee, in der Raum ist für Führung, Selbstverwirklichung und gegenseitigen Respekt. Und vor allem, in der das Leben jedes einzelnen Soldaten den größten Wert darstellt.
taz: Europa und die USA sind dabei, als westliche Einheit zu zerfallen. Wie viel Sorge macht Ihnen die veränderte geopolitische Situation?
Zhadan: Ich persönlich habe eigentlich immer in erster Linie auf die Ukrainer gehofft. Unsere Freiheit und unsere Zukunft sind zunächst einmal vor allem für uns selbst wichtig, so viel steht fest. Natürlich rechnen wir weiterhin mit unseren Verbündeten, vor allem mit den europäischen, aber es ist unser Land, und niemand muss uns davon überzeugen, dass wir für unser Land einstehen müssen.
taz: Ihre Prioritäten haben sich während Ihrer Zeit bei der Brigade völlig verschoben, sagten Sie vor einigen Monaten in einem Interview. Wie bedeutend ist es für Sie, Geschichten wie die in Ihrem neuen Buch „Niemand wird um etwas bitten“ zu schreiben?
Zhadan: Für mich war es wichtig, diese Erfahrung festzuhalten – die Erfahrung des ersten Kriegsjahrs. Für mich geht es in diesem Buch um die Geschichten und Stimmen, deren Zeuge ich geworden bin, die ich persönlich gehört habe. Es sind Geschichten über den Raum zwischen Krieg und zivilem Leben, über das Leben in den ukrainischen Städten in Frontnähe. Ich wollte diesen Grenzraum zwischen Leben und Tod, zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Liebe und Hass einfangen.
taz: Was hat sich in Ihrem Schreiben verändert, ist es momenthafter, deskriptiver geworden?
Zhadan: Alles hat sich verändert – der Ton, der Stil, die Figuren, der Rhythmus. Der Krieg bricht die Sprache. Er vereinfacht sie, macht sie farblos. Das ist ein schwieriger psychologischer Prozess. Ich habe noch keine Vorstellung davon, wie ich nach dem Krieg schreiben werde.
Serhij Zhadan
taz: In einer Geschichte spazieren Vater und Sohn durch das verlassene Charkiw und sehen sich eine Aufzeichnung des legendären Fußballspiels an, in dem Maradona das Handtor erzielt hat. Ist diese Geschichte eine Art Parabel für die Situation in der Ukraine?
Zhadan: Die Kinder stehen für mich in diesem Krieg einfach an erster Stelle – sie sind am verletzlichsten, sie sind am wenigsten geschützt. Und gleichzeitig sind sie es, denen die Zukunft gehört, an ihnen hängen Hoffnung und Optimismus. Die Kinder, die im Land geblieben sind, machen den Glauben und die Stärke aus.
taz: Betreiben Sie weiterhin das „Frontradio“ Radio Chartija?
Zhadan: Ja, wir haben das erste Brigade-Radio in der ukrainischen Armee gegründet – Radio Chartija (dt.: „Radio Charta“, benannt nach der Einheit Zhadans). Es ist ein Onlinemedium, mit dem wir versuchen, das Leben und die Aktivitäten der Brigade abzubilden, ihre Philosophie und ihre Grundsätze vorzustellen. Wir sind auf unserem Youtube-Kanal oder über unseren Radio-Button zu hören und zu sehen. Wir lassen auch Kulturschaffende und Vertreter der Gemeinden, die direkt an der Front liegen, zu Wort kommen und versuchen, aktuelle Themen und Diskussionen zu begleiten. Wir wollen spüren, wie sich die Töne und Stimmen der Gesellschaft verändern, wie das Land heute klingt, was es sagen – und was es hören will.
taz: Wie sieht die Arbeit der Journalist:innen bei Radio Chartija aus?
Zhadan: Wir nehmen viele Podcasts auf und berichten direkt von den Positionen, wo unsere Soldaten stehen. Wir haben aber auch ein Studio, aus dem wir live senden, in das wir viele interessante Gäste einladen, die heute in Charkiw leben, Armeeangehörige, aber auch Zivilisten. Wir möchten die Stadt porträtieren, die seit mehr als drei Jahren die Stellung hält und versucht weiterzuleben und sich selbst zu erhalten. Die Studio-Mitarbeiter sind auch unterwegs, sie fahren in Orte und Dörfer, die an der Front liegen, und senden live von dort. Der Radiosender ist nicht mein persönlicher Arbeitsschwerpunkt, aber ein wichtiger Teil dessen, was ich im vergangenen Jahr getan habe.
taz: Wie ist Ihr Tagesablauf derzeit?
Zhadan: Jeden Tag gibt es zahlreiche Aufgaben, Sitzungen, Gespräche und Absprachen. Das ist eine Menge Arbeit, aber sie kommt der Brigade und meinen Kollegen zugute, so dass niemand motiviert werden muss.
Was gibt Ihnen Kraft nach mehr als drei Jahren Krieg?
Zhadan: Die eigene Verantwortung und die große Liebe zu den Menschen, mit denen ich Zeit und Ort teile.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
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