Friedenspreis 2022 für Serhij Zhadan: Schreiben aus der Lunge heraus

Wie geht Menschlichkeit in der Poesie? Und was heißt es, menschlich zu sein im Krieg? Eine Laudatio auf Serhij Zhadan.

Ein Mann vor einem Publikum und einer Deutschlandfahne, er fasst sich symbolisch ans Herz

Serhij Zhadan nach seiner Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Frankfurt Foto: Sebastian Gollnow/dpa

In James Baldwins Essay „Der Kampf des Künstlers um Wahrhaftigkeit“ finden wir die folgende Zeile: „Dichter (und damit meine ich alle Kunstschaffenden) sind letztlich die Einzigen, die die Wahrheit über uns wissen. Nicht die Soldaten. Nicht die Staatsmänner. Nicht die Priester. …]Nur Dichter.“

Künst­le­r*in­nen besitzen zwar eine gesellschaftliche Verantwortung, doch: Sie stellen sich zu keiner Wahl auf, erteilen niemandem die Absolution, greifen nicht zur Waffe. Ihre Aufgabe ist es, unbestechlich zu beschreiben, was ist. Was sie sehen. Wovon sie Zeu­g*in­nen werden. Sie richten und urteilen nicht. Sie suchen nach Worten, die Gültigkeit haben werden auch noch in einem nächsten Jahrzehnt, in einem nächsten Jahrhundert. Aus der Komplexität menschlicher Empfindungen flechten sie Zöpfe eng an die Kopfhaut der Welt – und halten damit die Erdkugel zusammen.

Wir wissen voneinander nicht aus den Geschichtsbüchern, sondern aus der Kunst. Wir wissen von der Innenseite des Menschlichen nicht aus den Wissenschaften, sondern von Malereien auf den Wänden der Steinzeithöhlen. Wir erfahren kaum etwas voneinander aus den Tagesnachrichten. Dort kommt das gelebte Leben nicht vor. Dort sind die Schockmomente, der Alarmismus, die Eskalation zu Hause. Dagegen kann die Poesie nichts tun. Auch ist sie weder für moralischen Beistand zuständig, noch kann sie als Friedensbringer dienen.

Frieden ist in den heutigen Tagen ein viel zu großes Wort, um es als Metapher zu benutzen. Kann Poesie Frieden stiften? Vielleicht den inneren Frieden. Einen Moment der Reparatur der Welt, in dem ein Einzelner aufatmet. Indem sich jemand in einem Gedicht wiedererkennt, oder in einem Satz, oder in einer Szene, und plötzlich wie über ein weites Feld schaut und nicht mehr in den eigenen Abgrund.

Bücher können helfen, du selbst zu bleiben

Poesie kann das beklemmende Gefühl, dass die Welt in ihre Einzelteile zerfällt, für kurze Zeit lindern. Um es mit dem diesjährigen Friedenspreisträger Serhij Zhadan zu sagen: „Natürlich können Bücher den Krieg nicht beenden. Aber Bücher können dir im Krieg helfen, du selbst zu bleiben, dich nicht zu verlieren, nicht unterzugehen.“

„Früher nannte man ihn den ukrainischen Rimbaud, jetzt ist er … Zhadan“, schreibt Juri Andruchowytsch über seinen jüngeren Kollegen: „… sicher im Ton, makellos in den Details, … anarchisch und kompromisslos sozial, zugleich absolut poe­tisch …“. Wie funktioniert das Prinzip Zhadan?

Der Dichter legt seine Finger auf die Pulsschlagader der Menschen um ihn herum. Wir als Lesende sind stets mitten unter jenen, die früh am Morgen die Tore zu den Schlachthöfen öffnen, wir sitzen mit ihnen abends in den Kneipen, schlafen neben ihnen in den Baracken. Aber dieser Autor ist kein Realist, eher ein hoffnungsloser Romantiker – leidenschaftlich gerne beschreibt er den Himmel, den tauenden Schnee, die ihre Farbe wechselnden Kronen der Bäume.

Serhij Zhadans Bücher erscheinen auf Deutsch bei Suhrkamp.

Momente von Futurismus und von Mystik flackern auf in seinem Schreiben. Popsongs, Paul Celan und Georg Trakl tauchen auf. Neben den dubiosen Hel­den*­in­nen eines unbewältigbaren Alltags haben von allem Anfang an Engel in seinen Texten Platz (es wird auf sie geschossen, von ihren Flügeln regnet es Federn auf die Welt), am Rande der Stadt werden Hexen gehängt, an Gott wird appelliert, und immer wieder erstrahlt die Stadt Charkiw als eine Kloake der Glückssuchenden, die in ihrem feuchten Maul alle und alles zu verschlingen scheint.

Die Heimatstadt als erotisch aufgeladene Inspirationsquelle

Neben den Desperados ist für Serhij Zhadan die Heimatstadt eine beinahe schon erotisch aufgeladene Inspirationsquelle. Er beschreibt Charkiw wie eine Geliebte, sucht immer und immer wieder neue Seiten an ihr, huldigt ihr, verdammt sie. Seine Prot­ago­nis­t*in­nen versuchen sie zu erobern, in ihr einen Platz zu finden, aber sein, wie Zhadan Charkiw nennt, „Mesopotamien, weil Mesopotamien für Babylon steht“, ist uneinnehmbar.

Die zahlreichen Gedicht- und Erzählbände, die Romane und Essays entfalten eine Wirkung, die an die Gemälde von Pieter Bruegel erinnert. „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“, „Die Kinderspiele“, „Die Bauernhochzeit“: hektische Wimmelbilder, die so aufregend sind, dass man, unfähig wegzuschauen, nicht anders kann, als den Wegen der Porträtierten nachzuspüren. Wie sind sie dorthin gelangt? Was ist ihnen auf dem Weg geschehen? Woher kommt dieses gleißende Licht auf ihren Gesichtern?

Zhadan malt Tableaus, auf denen unvergessliche Randgestalten sich in das Bewusstsein der Leserschaft hineinsaufen und hineinraufen, sich einmeißeln in das Narrativ einer sich neu verortenden ukrainischen Gesellschaft. Man liest seine Bücher „Anarchy in the UKR“ oder „Hymne der demokratischen Jugend“ oder „Die Erfindung des Jazz“ im Donbass und schmeckt das Blut der Perestroika im Mund. Man begreift ein wenig vom gelebten Leben derjenigen, die durch einen eisernen Vorhang von einem getrennt waren. Oder man begreift, wenn man auf der anderen Seite dieses Vorhangs aufgewachsen ist, mehr über sich selbst. Über die kollektive Erfahrung der postsowjetischen Jahre.

Porträt einer Frau mit kurzen lockigen Haaren und in weißem T-Shirt

Sasha Marianna Salzmann ist Roman- und Thea­ter­au­to­r*in. Ihre Romane „Außer sich“ und „Im Menschen muss alles herrlich sein“ waren für den Deutschen Buchpreis nominiert.

„Er hat mich dazu gebracht, ukrainische Kultur zu entdecken. Er hat mich verstehen lassen, dass wir überhaupt eine eigene Kultur haben“, sagte eine junge Besucherin des Konzerts von Serhij Zhadan und seiner Band Sobaki dieses Jahr in Frankfurt. Ganz unzweifelhaft spricht sie für jene Generationen von Ukrainer*innen, die sich von dem postdiktatorischen Schutt, dem Erbe der Sowjetunion, haben mühsam befreien müssen. Und leider spricht sie auch für viele von uns, die allzu lang die große ukrainische Kulturnation weitgehend ignoriert haben.

Immer mit humanistischer Haltung

Serhij Zhadan ist mit seiner Literatur und seiner Musik gerade auf einer Tournee durch Europa, damit die Verbindung zu jenen, die aus der Ukraine fliehen mussten, nicht abreißt. Damit sie auch ein Stück Normalität haben können im Exil. Von humanistischer Haltung zeugt Serhij Zhadans Werk allerdings von Anfang an, noch vor dem Ausbruch dieses entsetzlichen Krieges.

Die Perspektive, die ein Schreibender bei seinen Beobachtungen einnimmt, verrät alles über seine Haltung zur Welt. Zhadan, der uns in seinem Werk so viele unterschiedliche Biografien wie nur möglich vergegenwärtigt, wählt nie die Vogelperspektive. Wir werden in seinem Blick keine Distanz erkennen.

Wenn in seinem Debütroman „Depeche Mode“ der Protagonist Dog in die Psychiatrie eingewiesen wird, dann kommt Zhadan mit. Er sitzt an seinem Bett, er folgt ihm in das Zimmer des Chefarztes, wo Dog „Spiritus, Ascorbinsäure und irgendwelche Tabletten auf einmal“ schluckt. Er ist dabei, wenn man seinen Freund am nächsten Morgen auf dem Boden findet und versucht, ihn wiederzubeleben.

In seinem Gedichtband „Warum ich nicht im Netz bin“ besucht der Dichter Typen wie Jura, einen studierten Historiker, der sich im Internet für eine Tschetschenin ausgibt, eine Scharfschützin. Er „schreibt über ihren Glauben / schreibt über ihre Zweifel / schreibt über ihr Feingefühl, / führt eine Strichliste auf ihrem Gewehrschaft …“ Jura zeigt Zhadan seine Posts. Die beiden sitzen in einem dunklen, stickigen Raum, der nur vom Bildschirm des Computers beleuchtet wird, und Zhadan registriert, dass in Juras Wohnung natürlich keine Gewehre zu finden sind. Aber er verrät Jura nicht. Er hört ihm zu und macht selbst Notizen.

In Zhadans Poesie holt die ukrainische Gesellschaft Luft

Der erste Text in dem Gedichtband „Antenne“ ist ein Nachdenken über den eigenen Vater, der zu Zhadans großem Erstaunen Tagebuch führt, obwohl er sonst nicht liest (auch nicht die Bücher seines Sohnes) und nicht einmal Briefe schreibt. Seine Handschrift ist auffällig ungeübt. Stattdessen macht der Vater seltsame Einträge über sein Leben: „eine Art Chronik der vergehenden Zeit, … wo er gewesen war, … wer ihn angerufen hatte.“

Wer braucht schon sein Tagebuch?, fragt sich der Sohn nach der Beerdigung des Vaters. Die Antwort liegt auf der Hand: Er. Das ist unmissverständlich: Er, Zhadan. Denn Serhij Zhadan ist der Sammler und Erfinder zahlreicher Tagebücher. Er führt Tagebuch für diejenigen, deren Leben nicht für Hel­d*in­nen­ge­schich­ten taugt. Die unbemerkt wieder aus der Menschheitsgeschichte verschwinden. Diesen Individuen, fiktiven wie realen, widmet er sein gesamtes Werk.

“… Dichter in vorrevolutionären Zeiten … haben eine schwierige Rolle … Du musst da sein, wenn der Sturm vorüber ist. Du wirst in den nächsten Sturm geraten. Sturm ist immer“, heißt es bei James Baldwin. Möglicherweise rührt die verführerische Energie von Serhij Zhadans Arbeit aus der Illusion, dass die Rolle, die er übernommen hat, gar nicht so schwer sei. Immer ist er mitten unter seinen Leuten. Er schreibt und spricht sozusagen aus deren Lunge heraus.

In Zhadans Poesie holt die ukrainische Gesellschaft Luft. Und nicht nur die ukrainische. Dank der herausragenden Übersetzungsarbeit von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr kann die deutschsprachige Leserschaft nicht nur einen Eindruck davon bekommen, wie es in der ukrainischen Fremde zugeht. Poesie, wenn sie gelingt, flicht uns zusammen. Wir suchen und finden gemeinsame Erfahrungen und wenn es nur die Erfahrung eines geteilten Gefühls ist. Das „Andere“ wird in der Poesie die Erfahrung des Selbst. „Wir sind nicht ‚anders‘. Wir sind Möglichkeiten. Und wenn man Romanliteratur von uns und über uns liest, eröffnet sich die Möglichkeit, Zentren des Ichs zu betrachten …“, schreibt Toni Morrison in „Selbstachtung“.

Ist ein Krieg vermittelbar?

In Zhadans Roman „Depeche Mode“ findet sich eine Figur, Zhadan genannt, in der Lunge eines Engels wieder, während auf diesen Engel eingedroschen wird. Unweigerlich drängt sich das Bild nun unter ganz anderen politischen Vorzeichen auf.

Wie also Frieden erreichen, wenn auf einen eingedroschen wird? Wie auch nur eine wahrhaftige Zeile schreiben, wenn das Bombardement die Alltagsgeräusche bestimmt? Wie diesen Krieg vermitteln? Ist ein Krieg vermittelbar?

In seinem letzten Buch, „Himmel über Charkiw“, eine Art Tagebuch der ersten Kriegsmonate in diesem Jahr 2022, heißt es: „Das Schreiben widerspricht dem Tod. Der Wunsch, Gefühle und Bedeutungen festzuhalten, Erzählungen zu umreißen, Motive nachzuerzählen, verträgt sich überhaupt nicht mit der Idee von Zerstörung, Vernichtung, Verschwinden. Wir greifen nach dem Schreiben wie nach der trügerischen Möglichkeit, die Konturen der Wirklichkeit einzufangen und zu bewahren … Inwiefern ist diese Illusion berechtigt? Jedenfalls ist sie ungebrochen – “

Und durch seinen unbeugsamen Willen, „Konturen der Wirklichkeit einzufangen“, hält der Dichter die Wirklichkeit beisammen. Sie zerfällt nicht mehr, jedenfalls für kurz nicht mehr, in einzelne ausgestanzte Teile. In einer Zeit, in der Worte, Positionen, Urteile uns wundreiben bis aufs Fleisch, schafft dieser Dichter Momente des Aufatmens durch radikale Menschlichkeit.

Menschlich bleiben

Aber was heißt das schon, menschlich sein? Was heißt schon menschlich bleiben auch in finsteren Zeiten? Ein vielzitierter Satz aus Hannah Arendts Dankesrede anlässlich der Verleihung des Lessingpreises lautet, „Menschlichkeit erweist sich in der Freundschaft, nicht in der Brüderlichkeit.“ Die politische Theoretikerin bestand darauf, dass das, was uns zu Menschen macht, die philia ist. Und das wahre Wesen von Freundschaft sei das Gespräch.

Das Gespräch mache uns zu Menschen: „Denn menschlich ist die Welt nicht schon darum, weil sie von Menschen hergestellt ist, und sie wird auch nicht schon dadurch menschlich, dass in ihr die menschliche Stimme ertönt, sondern erst, wenn sie Gegenstand des Gesprächs geworden ist.“

Wie man als Aktivist menschlich, also im Gespräch mit anderen, bleibt, ist offensichtlich: Die ganze Welt kann auf Social Media verfolgen, wie Serhij Zhadan im umkämpften Charkiw Menschen evakuiert, Bedürftige versorgt, zu Schutzsuchenden in die Metrostationen steigt, um mit ihnen zu singen. Bereits vor der Kriegsausweitung im Februar 2022 war er dafür bekannt, dass er entlang der Demarkationslinie zu den im Donbass besetzten Gebieten Militärstützpunkte besuchte und den Soldaten seine Gedichte vorlas.

Aber wie geht Menschlichkeit in der Poesie?

Jeder einzelne von Zhadans Texten wird bestimmt von der Haltung des Dialogs, der Auseinandersetzung mit seiner Außenwelt. Seine Dichtung ist nie hermetisch, nie in sich verschlossen. Ein Auge schaut immer hinaus in die Welt, eine Hand scheint ausgestreckt und bereit, die Lesenden mit ins Gespräch zu ziehen.

Kein Soldat. Kein Staatsmann. Und kein Priester. Niemandem wird hier Absolution erteilt. Niemand stellt sich zur Wahl oder kann sie gar gewinnen. Ja, der Dichter sieht, was geschieht, aber er ist kein Seismograf, der nur stoisch die Erdbebengefahr protokolliert. Er ist ein Freund. Einer, der versteht, und wenn er nicht versteht, ist er bereit, zuzuhören. Hier ist einer, der sich mit an den Tisch setzt und das Glas hebt. Der auf den Hochzeiten seiner Desperados mittanzt. Einer, der bei jeder Beerdigung, von der er erzählt, dabei war. Einer, der die Gabe hat, die Stimme des Einzelnen auf ewig in seinen Texten weiterleben zu lassen. So, dass sie Gültigkeit hat in einem nächsten Jahrzehnt, in einem nächsten Jahrhundert.

Was Prosa, Poesie – Kunst überhaupt – nicht kann, ist, die Welt zu retten. Sie gewinnt keine Kriege. Sie liefert, wenn es ihr ernst ist, keine Heilsversprechen. Aber was sie kann, ist, den Augenblick herstellen, in dem man erleichtert, erstaunt oder verzückt aufatmet. Und dieses kurze Luftholen mag einen Moment des Friedens enthalten. Denn Luft holen ist immer auch ein Zeichen der Hoffnung.

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