Schulversuch auf Abruf?: Mehr Klassenleitung, mehr Freiheit, weniger Noten
Eine Grundschule im sächsischen Meißen rückt vom klassischen Unterricht ab – und macht damit gute Erfahrungen. Das Konzept steht trotzdem auf der Kippe.
Die Auflösung der klassischen Schulstunden nach Fächern ist eine Besonderheit des Meißener Schulversuchs. Die Folge: Die Klasse verbringt den ganzen Vormittag mit ihrem Klassenleiter. Mit diesem Kernunterricht sollen die Basiskompetenzen Lesen, Rechnen und Schreiben gestärkt werden – ein Ziel, dem sich die Bildungsminister aller Bundesländer mittlerweile verschrieben haben, wenn auch nicht fächerübergreifend. Besonders an der Questenberg-Grundschule ist auch, dass sie von den klassischen Noten abrückt. In den Fächern Musik, Kunst, Sport und Ethik werden die Leistungen der Kinder nicht mehr bewertet.
Nach der Mittagspause dann können die Schüler verschiedene Kurse je nach individuellen Neigungen belegen. Dazu gehören herkömmlicher Hort, Ganztags- und Unterrichtsangebote. Die Schüler erwähnen eine Holzwerkstatt, Harry Potter, Percussion, Aquarellmalerei, Sport und Tanz, Töpfern oder Handarbeit. Manche sind mit zwei Kursen ausgelastet, bei maximal vier kann man sich anmelden.
Vorläufer des Schulversuchs war 2019 die Teilnahme an der Initiative des Bundes „Schule macht stark“, berichtet Schulleiterin Antje Buschmann. Das überrascht, denn die Schule oberhalb der berühmten Meißener Porzellanmanufaktur liegt auf den ersten Blick an einem von Eigenheimen geprägten Hang. Der sanierte Altbau ist durch einen modernen, bestens ausgestatteten Anbau ergänzt worden.
Förderbedarf ist hoch
Das Bundesprogramm richtete sich an Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern mit Förderbedarfen. Auch die Meißener Grundschule hat diese Schüler, sagt Schulleiterin Buschmann. So stamme etwa ein Viertel der 250 Schüler aus Migrantenfamilien, die unten im Triebischtal leben. Deren Integration gelinge laut der Schulleiterin gut und besser als im Durchschnitt. Das Schulkonzept setze auf Individualisierung und Differenzierung, so dass alle Kinder auf ihrem jeweiligen Niveau gefördert und gefordert werden. „Wir brauchen eine gute soziale Mischung“, sagt Buschmann.
Sie und ihre Kollege Bannier hätten sich damals „im Zimmer eingeschlossen“ und über konzeptionellen Verbesserungen gebrütet, berichtet die Schulleiterin. Dann kam auch noch Corona mit den umstrittenen teilweisen Schulschließungen hinzu. Die Krise stimulierte die Überprüfung, ob eingeschliffene Dinge so weiterlaufen dürfen. Mehr Stringenz und Rhythmus, Medieneinsatz, greif- und begreifbarere Unterrichtsgestaltung und vor allem eine intensivere persönliche Beziehung zwischen Schülern und Pädagogen strebten die beiden an. Das gilt insbesondere für den Draht zum Klassenlehrer oder zur Klassenlehrerin, der durch den Kernunterricht am Vormittag nun besonders gepflegt wird.
Bei Antje Buschmann fallen dazu Stichworte wie Bindung, Beziehung, Kontinuität. „Wenn es Schülern mit ihrem wichtigsten Lehrer gut geht, lernen sie auch besser.“ Diese Schülerinnen und Schüler wirken keinesfalls gedrillt, wenn sie erklären, es sei schön, „viel zusammen zu machen“. Überhaupt sagt ihnen das Prinzip des Kernunterrichts zu, „weil man nicht so durcheinanderkommt mit den Fächern“ und nicht wissen müsse, was gerade dran ist. Lehrkräften verlangt das freilich mehr Universalität ab, worauf sie sich aber nach anfänglichen Umstellungsproblemen einstellen konnten.
Keine Reformpädagogik
Der pädagogische Ansatz ist indes nicht von der Reformpädagogik inspiriert. Aber der Klassenraum sieht so locker aus wie bei Freiarbeit. Die Tische dürfen jeden Tag umgesetzt werden, Gruppen werden ausgelost. Aber wie bei der Lehrerbindung bevorzugen die Schüler selbst die Nähe von Freunden und Favoriten, Stabilität also. Abschreiben und spicken ist sinnlos, weil man ohnehin einander helfen soll. „Ich habe keine Angst, der Banknachbar kann gut, was ich nicht kann und umgekehrt“, spricht eine Zehnjährige weise.
Eigentlich ein heikles Thema. Es gibt zwar keine Hausaufgaben, aber in den integrierten Kernfächern am Vormittag sehr wohl Zensuren, so schwierig sie auch zu trennen sind in einem fächerübergreifenden Unterricht. Denn die Kompatibilität zum sächsischen Bildungssystem muss gewährleistet bleiben. Das verlangt nun einmal die frühzeitige Auslese, die nach der vierten Klasse erfolgt. In Sachsen kommen die Schüler danach entweder an die Oberschule, die Haupt- und Realschule vereint, oder auf das Gymnasium.
Einige Schüler wünschen sich übrigens doch Noten, und das sind wie erwartet die Begabtesten. Nicht nur die erwartete Trennung von ihren Freunden stimmt die Viertklässler traurig, sondern auch die von der Schule. Denn die könne sich „in den nächsten Probierjahren weiterentwickeln und noch besser werden als jetzt“.
Weniger als der Hälfte wird für das Gymnasium empfohlen, und manche wählen trotzdem die Oberschule. Vehement wenden sich Lehrer und Schulleitung gegen den Druck, möglichst viele Gymnasiasten und künftige Akademiker „liefern“ zu müssen. Das widerspreche nicht nur dem Schulkonzept, sondern auch dem Bedarf unserer Gesellschaft an Handwerkern und Praktikern. Ohnehin empfindet die Schulleiterin den „Lehrplan nicht vollständig verpflichtend“. Es gehe weniger um komplette Inhalte als um Orientierung und Kompetenzen. Ihr Konzept haben Antje Buschmann und Peter Bannier beim sächsischen Kultusministerium durchsetzen können. Ende 2022 konnten sie mithilfe zweier Ministeriumsmitarbeiterinnen ein professionelles Konzept fertigstellen. Vier Jahre darf sich die „Probierschule“ nun bewähren.
Das Interesse an dem Schulversuch ist heute schon spürbar, die Rückmeldung von Eltern und Schülern positiv. Die Vermeidung von Raumwechseln bringt einen Zeitgewinn und vermeidet Stress. Die Vermittlung der oft beklagten basalen Kompetenzen wird im Kernunterricht gestärkt. In Zahlen ist das noch nicht belegbar, die Entwicklung wird aber vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung der Uni Frankfurt begleitet und evaluiert. Die Zufriedenheit der Lehrer über Erfolge ihrer Schützlinge sei schon ein Indikator, erzählt Buschmann.
Wie lange noch?
Nicht mehr so sicher ist man sich auf dem Questenberg allerdings über das Wohlwollen des sächsischen Kultusministeriums nach der Bildung der CDU-SPD-Minderheitsregierung im Dezember. Im Vorjahr hatte ein Ministeriumssprecher über die Grundschule noch von „Pionierarbeit“ gesprochen und auf die Strategie „Bildungsland Sachsen 2030“ verwiesen. Dort wird explizit die Möglichkeit genannt, alternative Bewertungssysteme unter Beibehaltung der Grundschulnoten in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Sachunterricht zu erproben – die neue Landesregierung hat bereits zugesagt, diese Bildungsempfehlungen umzusetzen.
An der Questenberg-Grundschule weiß man noch nicht, woran man mit dem neuen Kultusminister Conrad Clemens (CDU) ist. Eindeutige Signale fehlten. Das beunruhigt Schulleiterin Buschmann: „Es wäre der Worst Case, wenn in zwei Jahren gesagt würde, machen Sie mal bitte alles so wie früher“.
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