Neues Album von Richard Dawson: Klangblitze der Selbsterkenntnis
Richard Dawson hat seit jeher den Blues. Auf seinem neuen, tieftraurigen Album „End of the Middle“ kommt noch Weltekel hinzu. Das klingt ziemlich gut.
„Die Beschreibung einer Familie eignet sich sehr gut, um von anderen Dingen zu sprechen“, sagt Richard Dawson. Der britische Musiker aus Newcastle, ganz im Norden, liebt Filme des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu, der genau das tut: vom banalen familiären Alltag erzählen, in dem aber all die anderen, größeren Dinge aufscheinen, die unser Leben prägen.
Auf Richard Dawsons neuem Album „End of the Middle“ erfahren wir von schicksalsgebeutelten Menschen, darunter ein Junge, der in der Schule gemobbt wird, eine alte Frau, die mit ihrer kargen Rente kämpft und mit ihrem Leben hadert, und einem Mann, der seinen im Koma liegenden Vater im Krankenhaus besucht und dabei ein Déjà-vu hat. Einst lag seine zu früh geborene Tochter an demselben Ort, und er hatte sich geschworen, sein Leben zu ändern. Ein Versprechen, das er natürlich oft gebrochen hat.
Erzählt wird das alles mit Gitarre und ein bisschen Schlagzeug und natürlich von Dawsons Stimme, in der alles Platz hat: das Banale wie das Existenzielle, wenn sie sich überschlägt und dabei nur vom Buffet auf einer Hochzeit singt. Im Protagonisten des Songs „Knot“ löst dieser Anblick allerdings einen solchen Weltekel aus, dass für einen Moment Selbstmord als einziger Ausweg erscheint.
Einsatz der Klarinette
In der Klangkulisse kommt allerdings noch eine Klarinette dazu, teils sehr exzessiv gespielt von Faye MacCalman. In den Albumcredits ist sie aufgeführt als „clarinet bolts of lightning“. Ihr Einsatz markiert den Blitz der (Selbst-)Erkenntnis, der in manchen seltenen Momenten ein grelles Licht wirft auf unser Leben und das absurde Theater, das wir jeden Tag aufführen.
Richard Dawson: „End of the Middle“ (Weird World/Domino/GoodToGo)
Ob Dawson unter diesem absurden Theater auch seine Absage beim PopKultur-Festival in Berlin 2018 subsumieren würde? Damals hatte der Sympathisant der antisemitischen BDS-Bewegung seinen Auftritt abgesagt, weil das Festival mit Geld von der israelischen Botschaft gefördert wurde. „
Ich habe ein paar sehr schwere Jahre hinter mir“, sagt Dawson im taz-Interview. „Auch wenn das Album keines der Dinge behandelt, mit denen ich selbst gekämpft habe, hat mir die Arbeit daran geholfen, mich bestimmten Problemen zu stellen. Was ich schön finde, ist, dass die Personen in meinen Songs sich verselbstständigen. Sie machen Dinge auf ihre Weise und nicht so, wie ich sie getan hätte, und so lerne ich auch etwas von ihnen. Vielleicht funktioniert es wie mit Tarot-Karten, die uns auch etwas über uns selbst erzählen, das uns aber nicht bewusst ist.“
Richard Dawson umkreist auf diesem Album, was am schwersten für uns zu fassen ist: die unausweichliche Sinnlosigkeit unserer Existenz, die wir so verzweifelt zu füllen versuchen. Gerne mit Konsum, wie Dawsons es im Song „Boxing Day Sales“ beschreibt (am ersten Weihnachtstag, dem Boxing Day, findet in britischen Geschäften traditionell die große Rabattschlacht statt): „Du schuldest es dir selbst“, singt Dawson da: „die klobige Espresso-Maschine aus rostfreiem Stahl, die noise cancelling Kopfhörer, den wattierten Kimono mit fliegenden Kranichen. Du kannst es dir nicht leisten, das nicht zu besitzen.“
Von den Melodien getragen
Die Absurdität des Daseins bleibt Dawsons Lebensthema, auch auf seinem letzten Album „The Ruby Chord“ hat er vom Alltag der Menschen gesungen, allerdings in einem postapokalyptischen Großbritannien. Das war musikalisch breit angelegt, mit Streichern, Harfe, einem Chor. Das neue Werk „The End of the Middle“ ist dagegen auf wenige Instrumente reduziert – aber in seiner erzählerischen Wucht nur unwesentlich weniger wirkungsvoll.
„Ich habe die Musik extrem zurückhaltend angelegt, Strukturen der Songs und Texte stehen im Vordergrund. Mich hat es interessiert, ob ich schaffe, dass alles splitternackt dasteht und von den Melodien getragen wird.“ Dawson hat es geschafft und zeigt sich auch auf „End of tdhe Middle“ als großer Meister einer zeitgenössischen Folkmusik.
Dass mit dem Albumtitel der Niedergang der britischen Mitteklasse gemeint sein könnte, weist Dawson übrigens zurück: „Ich kann den Begriff ‚Klasse‘ nicht ausstehen, ein furchtbares Wort. Die Annahme, es gäbe unterschiedliche Klassen von Menschen, widert mich an. Und es ist so englisch!“
Vielmehr klärt Dawson im Begleitschreiben zum Album auf, dass sich der Titel auf ihn selbst beziehen könnte: Dawson ist Mitte vierzig und sieht sich am Ende seiner Midlife- und Schaffensphase. „Was ich als Nächstes mache, muss etwas ganz anderes sein, etwas Überraschendes. Und ich dachte mir, wenn ich das im Waschzettel schreibe, gibt es kein Zurück mehr für mich.“
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