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„Ich spüre mehr Verantwortung“

Der Oscar-prämierte Spielfilm „Für immer hier“ schildert das Schicksal einer brasilianischen Familie in der Militärdiktatur. Regisseur Walter Salles spricht über seine Erinnerung an diese Zeit und die Aktualität des Stoffs

Die Familie von Eunice Paiva (Fernanda Torres), ohne Rubens Paiva Foto: DCM

Interview Thomas Abeltshauser

Im Jahr 1971 wird der brasilianische Regimekritiker Ruben Paiva (Selton Mello) aus seinem Haus in Rio de Janeiro von Beamten der Militärdiktatur verschleppt. Auch seine Frau Eunice (Fer­nanda Torres) wird verhaftet, kommt nach 13 Tagen Verhörfolter wieder frei. Sie beginnt einen Kampf gegen das Regime, der sich über Jahrzehnte hinziehen wird. Regisseur Walter Salles kennt die Familie Pavia seit seiner Jugend und erzählt ihre Geschichte als leise bewegendes Politdrama über ein düsteres Kapitel der brasilianischen Geschichte. Durch den Rechtsruck im Land während der Bolsonaro-Ära, 2019–2022, weist sie erschreckende Parallelen zur Gegenwart auf. „Für immer hier“ wurde vorletzte Woche mit dem Oscar als bester internationaler Film ausgezeichnet.

taz: Herr Salles, Sie sind seit den 1960er Jahren eng mit der Familie ­Paiva befreundet. Warum haben Sie sich nun entschlossen, deren Geschichte zu verfilmen?

Walter Salles: Weil ich ohne Marcelos Buch, das 2015 veröffentlicht wurde, nicht wahrgenommen hätte, dass die Tatsache, dass seine Mutter sich angesichts einer Tragödie neu erfindet, sowohl eine außergewöhnliche menschliche Geschichte ist als auch ein Spiegelbild dessen, was in Brasilien insgesamt passiert ist. Sein Buch erstreckt sich über 30 Jahre und zeigt den Werdegang dieser Frau, die sich von einer Hausfrau in einer patriarchalischen Gesellschaft, wenn auch in einer fortschrittlichen Familie, zu einer Aktivistin entwickelt, die sich gegen das Vergessen einsetzt.

taz: Wie viel von Ihren eigenen Erinnerungen ist in den Film eingeflossen?

Salles: Was mir sehr präsent in Erinnerung geblieben ist, ist das Helle der ersten halben Stunde. Das Licht im Haus, die Zuneigung zwischen den Figuren, die Tatsache, dass Türen und Fenster offen standen und alles ständig in Bewegung war. Deshalb ist die Kamera am Anfang so fließend, sie wandert zwischen den Figuren, weil es keine Distanz zwischen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern gab. Ganz im Gegensatz zu meinem Zuhause, wo das klar getrennt war. Bei den Paivas war alles freier, deshalb zog es mich dort hin. Dort hörte ich zum ersten Mal etwas über Politik, über Tropicália, die brasilianische Musik. Ich habe viel gelernt bei diesen Besuchen, alles aufgesaugt. So vermischen sich im Film meine Erinnerungen mit denen aus Marcelos Buch.

taz: Wie ist Ihre eigene Familie mit der Militärdiktatur umgegangen?

Salles: Mein Vater Walter Moreira Salles hatte vor der Diktatur als Finanzminister an der linken Regierung von João Goulart mitgewirkt. Wir sind nach dem Putsch 1964 ins Exil gegangen. 1969 kehrten wir zurück, da war ich 13, und lernte bald Nalu kennen, die mittlere Schwester. So wurde ich in diese Familie aufgenommen. Wir sind bis heute befreundet.

taz: Erleichtert die persönliche Bindung, diese Geschichte zu erzählen?

Salles: Im Gegenteil, es ist noch viel schwieriger, weil ich mehr Verantwortung spüre. Aber ich habe Marcelo auch immer wieder um Rat gefragt, wenn ich Zweifel hatte oder Details noch genauer wissen wollte. Zum Beispiel die Szene relativ am Anfang des Films, wenn die Militärs in Zivil sich Zugang zum Haus verschaffen. Ich dachte zunächst, dass sie dabei alles auf den Kopf gestellt haben, wie man es normalerweise in Filmen über Diktaturen sieht. So drehten wir es auch, aber irgendwas kam mir dabei komisch vor. Also habe ich Marcelo nachts angerufen, um ihn zu fragen, was damals genau passiert ist. Und er meinte: „Sie haben Schubladen geöffnet, sahen sich alles an und legten es wieder an seinen Platz zurück. Sie waren wie Buchhalter.“ Also habe ich am nächsten Tag die Szene noch mal komplett neu gedreht.

taz: Die Verhaftung wird zum Einschnitt für die Familie und damit den Film.

Salles: Was passiert war, habe ich nicht selbst erlebt, musste ich mir vorstellen. Wie lassen sich die Angst und Beklemmung filmisch darstellen, die Abwesenheit des Vaters? All das stammt aus dem Buch oder aus meiner Interpretation. Visuell habe mich für diesen Teil viel mit den Werken Vilhelm Hammershøis auseinandergesetzt, einem dänischen Maler aus dem 19. Jahrhundert. Seine Bilder sind oft Innenräume, die einmal bewohnt waren und nun verwaist sind. Sie bezeichnen eine Leerstelle, sind Ausdruck von Einsamkeit. Das half mir, die Atmosphäre im Haus der Paivas zu schaffen.

taz: Sie haben sieben Jahre an dem Film gearbeitet, also damit begonnen, lange bevor der Rechtspopulist Bolsonaro 2019 an die Macht kam. Wie hat sich das auf das Drehbuch ausgewirkt?

Salles: Der ganze Zweck des Films hat sich im Laufe der Jahre verändert, weil er von der Realität eingeholt wurde. Gerade stellen wir überall auf der Welt mit Erstaunen fest, wie zerbrechlich die Demokratie ist. Als wir 2015 mit diesem Projekt begannen, hätte ich nie für möglich gehalten, dass wir in eine solche Dystopie geraten würden. Nach und nach wurde aus einem Film über eine Vergangenheit, die wir verdrängt hatten, ein Film, der sich immer mehr mit der Gegenwart zu befassen schien. Wir haben den Film dann elliptisch bis 2014 verlängert, um zu verstehen, wie lange es dauerte, bis die Demokratie nach Brasilien zurückkehrte und wie schnell wir sie in den vier Jahren der Zerstörung beinahe wieder verloren hätten.

taz: Inwieweit kann „Für immer hier“ in Brasilien die Diktatur und ihre Folgen wieder ins Bewusstsein rücken?

Salles: Ich bin fest davon überzeugt, dass Literatur und Kino Mittel gegen das Vergessen sind. Filme ermöglichen eine genaue Reflexion der Zeit, in der wir leben. Wenn ich mir das neorealistische Kino ansehe, habe ich eine genaue Vorstellung davon, wie Italien am Ende des Faschismus und am Ende des Zweiten Weltkriegs war. Ich sehe Rossellinis „Rom, offene Stadt“ und verstehe das Gewicht der Besatzung. Und der Film hat eine breite Debatte ausgelöst, auch wenn die extreme Rechte immer versucht, Dinge zu ignorieren oder umzudeuten. Vor allem aber zeigt er, wie es ein Akt des Widerstands sein kann, das Leben intensiv zu leben, mit Haltung und im Einklang mit den eigenen Überzeugungen.

Foto: Adam Chitayat
Walter Salles

Walter Salles wurde 1956 in Rio de Janeiro geboren. Sein Debüt-Spielfilm „Foreign Land“ von 1995 gewann mehrere internationale Preise. Für „Central Station“ erhielt er 1998 bei der Berlinale den Goldenen Bären. Er produzierte unter anderem „City of God“ (2002) von Fernando Meirelles.

taz: Sie wechseln in Ihrem Film die Formate, nutzen Super-8-Aufnahmen als eine Art Erinnerung der Familie an eine untergegangene Zeit.

Salles: Der Film handelt davon, was diese Familie hätte sein können und was dieses Land hätte sein können. Ein Land, das an eine andere Form der Bildung glaubte, das an Kultur glaubte, das an politischen Pluralismus glaubte. All das wurde durch die Militärdiktatur und ihre Folgen zunichtegemacht. Es geht am Ende also auch darum, was wir verloren haben, persönlich und kollektiv.

taz: Ihr letzter Spielfilm, die Jack Kerouac-Adaption „On the Road“, liegt 13 Jahre zurück. Warum diese Leinwandpause?

Salles: Ich habe lange keinen Stoff gefunden, der diese Art von menschlicher und politischer Komplexität aufweist. Um mich viele Jahre in ein Projekt zu vertiefen, muss ich völlig davon überzeugt sein. Ich habe in dieser Zeit Dokumentarfilme gemacht, aber auch viel geschrieben. Ein weiteres Drehbuch ist fertig. Ich arbeite an einer Dokuserie über den brasilianischen Fußballer Sócrates, lange Kapitän der Nationalmannschaft, der in den 1970ern die Bewegung Democracia Corinthiana ins Leben gerufen hat, die das Land zurück zur Demokratie führen sollte. Er brachte die Politik in den Fußball und hat dadurch eine große Bedeutung für Brasilien. Ich bin also gut beschäftigt, machen Sie sich keine Sorgen.

„Für immer hier“. Regie: Walter Salles. Mit Fernanda Torres, Fernanda Montenegro u. a. Brasilien/Frankreich 137 Min.

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