Regisseurin über „My Undesirable Friend“: „Es wird immer Menschen geben, die Nein sagen“
Julia Loktev begleitete für eine Dokumentation unabhängige Journalistinnen in Russland. Nach dem Angriff auf die Ukraine mussten ihre Protagonistinnen das Land verlassen.
taz: Frau Loktev, Sie haben kurz vor Beginn des Ukrainekriegs angefangen, Doschd, einen unabhängigen TV-Sender in Russland, mit der Kamera bei der Arbeit zu begleiten. Die Journalist:innen mussten stets damit rechnen, verhaftet zu werden. Wie gefährlich war das Ganze für Sie als US-amerikanische Filmemacherin?
Julia Loktev: Also Brittney Griner wurde ungefähr zu der Zeit verhaftet, als ich da war, aber ich dachte mir – ich bin ja keine berühmte Basketballspielerin. Die US-Botschaft hat alle Amerikaner:innen aufgefordert, Russland zu verlassen, ja. Aber ich wollte so lange bleiben, wie meine Protagonist:innen bleiben. Die Risiken, die ich eingegangen bin, sind vernachlässigbar im Vergleich zu den Risiken, die sie jeden Tag bei ihrer Arbeit eingegangen sind, und sicherlich vernachlässigbar im Vergleich zu dem Risiko, damals und jetzt in der Ukraine zu leben. Ich habe Russland am 2. März 2022 verlassen, eine Woche nach Ausbruch des Krieges, denn zu diesem Zeitpunkt war keine einzige Person mehr in Russland, die ich filmen konnte.
wurde 1969 in Leningrad (heute: Sankt Petersburg) geboren. Sie wuchs in Colorado, USA, auf und studierte in Montreal und New York. Ihre Filme erzielten zahlreiche Preise, unter anderem beim Sundance Film Festival
taz: Als Sie anfingen zu drehen, wussten Sie da schon, dass die Journalist:innen nur noch eine gewisse Zeit in Russland würden arbeiten können?
Loktev: Ich habe mit den Dreharbeiten begonnen, als die russische Regierung im Sommer 2021 anfing, Journalist:innen als ausländische Agent:innen zu bezeichnen. Damals ahnte niemand, dass Russland wirklich einen Krieg in der Ukraine anzetteln würde. Natürlich gab es seit 2014 den Krieg in der Ostukraine und auf der Krim, aber niemand rechnete mit einer „full-scale-invasion“. Alle erwarteten, dass etwas passieren würde – aber eher, dass das Monster sie fressen und nicht in das Nachbarland einmarschieren würde.
taz: Die Menschenrechtslage in Russland war nicht immer so schlecht wie in den letzten Jahren.
Loktev: Nein. Im Film zeigt die Journalistin Sonya Groysman alte Zeitschriftencover aus der Zeit, als sie 15 Jahre alt war und in Russland regelmäßig protestiert wurde. Damals konnten Zeitschriften Texte drucken über die Rechte von Homosexuellen. All das änderte sich 2011, 2012, als Putin wieder an die Macht kam. Ich habe angefangen, einen Film über unabhängige Journalist:innen in Russland zu machen. Daraus wurde ein anderer Film, als Russland die Ukraine angriff. Worum es in dem Film geht, hat sich wiederum im letzten Monat für mich als US-Amerikanerin verändert. Ich muss ständig über die Parallelen zu den USA nachdenken. Wir bewegen uns unglaublich schnell in Richtung Autoritarismus.
taz: Die Geschehnisse lassen sich vergleichen?
Loktev: Für mich ist das kein Film, der nur von Russland handelt. Bei mir zu Hause in New York habe ich zu Testvorführungen eingeladen. Freund:innen aus dem Iran, aus Tunesien waren da, Freund:innen, die unter der Diktatur in Argentinien aufgewachsen sind, die sagten: Das ist unsere Geschichte. Sie hatten noch nie einen Film gesehen, der so deutlich vermittelte, wie es ist, in einer autoritären Gesellschaft zu leben und zu versuchen, in der Opposition zu sein. Auch das wird für mich als US-Amerikanerin immer wichtiger.
taz: Haben die Doschd-Journalist:innen Ihnen sofort vertraut?
Loktev: Ja. Sie waren von Anfang an sehr offen, vielleicht, weil sie alle selbst Geschichtenerzähler und Journalisten sind. Es spielt sicher auch eine Rolle, dass ich ursprünglich aus Russland komme. Russisch ist meine Muttersprache, aber ich bin in die USA gezogen, als ich neun Jahre alt war, und spreche Russisch daher ein bisschen wie ein Kind. Vielleicht bin ich deshalb weniger einschüchternd. Außer Anya Nemzer, die ich schon lange kenne, lernt man praktisch alle Figuren als Zuschauer:in ungefähr zur gleichen Zeit kennen wie ich. Ich trete mit der Kamera in ihre Wohnung und dann geht es einfach los.
taz: Warum sind Ihre Protagonistinnen alle Frauen?
Loktev: Ich habe auch einige Männer gefilmt, aber die Geschichten, die gut funktionierten, waren zufällig alle die, in denen Frauen im Mittelpunkt standen. Außerdem gibt es im russischen Journalismus einen unglaublich hohen Anteil an Frauen. Wenn man sich im Studio von Doschd umschaut, liegt ihr Anteil dort bei 80 Prozent.
taz: Wie geht es ihnen jetzt?
Loktev: Alle sind im Exil. Ich habe direkt weiter gefilmt, zwei Tage später, als viele von ihnen in Istanbul ankamen und keine Ahnung hatten, wie ihr Leben weitergehen sollte. Diesen zweiten Teil des Films bearbeite ich gerade. In den letzten drei Jahren sind die meisten von ihnen viele Male umgezogen. Und keine von ihnen hat in ihrem neuen Leben wirklich ein Gefühl von Stabilität. Sie alle sind weiter journalistisch für Russland tätig, versuchen, den Menschen dort die Wahrheit zu vermitteln, arbeiten für ein Land, von dem sie nicht wissen, wann oder ob sie jemals zurückkehren können. Das finde ich herzzerreißend und unglaublich mutig.
taz: Keine der Journalistinnen hat Russland seitdem wieder betreten, nehme ich an?
„My Undesirable Friends“ (Berlinale Special) läuft wieder am 23. 2. um 10 Uhr an der Urania
Loktev: Die meisten würden verhaftet werden, wenn sie zurückkehrten. Gegen sie laufen Strafverfahren. Tatsächlich war die einzige meiner Protagonistinnen, die zurückkehrte, Ksenia Mironova, um die Verurteilung ihres Verlobten mitanzusehen, eines Journalisten, der wegen „Hochverrats“ zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sie kehrte für ein paar Tage nach Russland zurück, einfach weil das ihre letzte Chance war, ihn zu sehen.
taz: Die Protagonistinnen in Ihrem Film sind alle recht jung und hatten einmal davon geträumt, als Journalistinnen die Übel der Welt aufzudecken. Wollen heute noch Menschen in Russland journalistisch tätig werden?
Loktev: Ich bin sicher, dass es immer noch Menschen gibt, die träumen, und ich bin auch sicher, dass es eine junge Generation gibt, die einen Weg finden wird. Der Wunsch der Menschen, die Wahrheit herauszufinden und nicht in dieser verrückten orwellschen Lüge zu leben, wird immer da sein. Es wird immer Menschen geben, die Nein sagen. Die klar sagen wollen, schwarz ist schwarz und weiß ist weiß.
taz: Ihr Film zeigt die Entwicklungen wie in Echtzeit, er ist fast sechs Stunden lang geworden.
Loktev: Nun ja, mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ist während der Dreharbeiten etwas nicht Unerhebliches passiert. Ursprünglich wollte ich einen Film über Journalisten machen, die zu ausländischen Agent:innen erklärt werden, was ich schon an sich für interessant hielt. Wenn eine Gesellschaft anfängt, Menschen aus ihrer eigenen Gesellschaft zu markieren, dann fallen einem automatisch historische Fälle ein, in denen Menschen sich selbst als „other“ kennzeichnen mussten. Da die Doschd-Journalist:innen zu ausländischen Agent:innen erklärt wurden, mussten sie das auf jedem ihrer Texte, auf jedem Social-Media-Post vermerken. Sie mussten der Regierung ihre persönlichen Finanzen offenlegen. Das war es, worum es in dem Film ging: eine Gesellschaft, die Menschen „othert“, also zu „anderen“ erklärt. Und noch Anfang Februar 2022 dachte ich: Vielleicht wird das ein Film über Menschen, die herausfinden wollen, mit wie viel Repression sie leben können.
taz: Es gibt eine Stelle im Film, über die ich länger nachdenken musste. Da sagt die Journalistin Anya Nemzer, dass Ressentiments wie Fremdenfeindlichkeit und Homophobie keine Dinge seien, die Menschen einfach so empfänden, sondern dass sie nach demTop-down-Prinzip implementiert würden, die Menschen diese Ressentiments dann aber bereitwillig übernähmen. Glauben Sie, dass das stimmt?
Loktev: Ich möchte gern glauben, dass es stimmt. Es gibt eine Szene, die ich aus dem Film geschnitten habe, über die ich wiederum immer wieder nachdenke. Anya erzählt, wie 2014 eine Reihe von Professor:innen und Theaterregisseur:innen einen Brief zur Unterstützung der Invasion der Krim unterschrieben haben. Anständige Leute eigentlich. Und sie begründeten den Schritt damit, dass sie ein Theater oder eine Institution zu schützen hätten. Darüber denke ich aktuell als Amerikanerin oft nach, da sich in den USA immer mehr Unternehmen und Organisationen, einschließlich der Medien, anstellen und im – wie Timothy Snyder es nennt – „vorauseilenden Gehorsam“ in die Knie gehen. Alle finden natürlich Ausreden, sie versuchten bloß ihr Unternehmen oder ihre Organisation zu retten. Es wird nicht gut für sie ausgehen.
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