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Ein paar Informationen, und Gummibärchen für die gute Laune: Maja Wallstein beim Straßenwahlkampf in Forst (Lausitz), Ende Januar Foto: Pawel Sosnowski

Haustürwahlkampf mit der SPD im OstenRote Manöver

2021 holte die SPD in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg alle Direktmandate. Können die Ge­nos­s*in­nen das am Sonntag gegen die AfD wiederholen?

Die Schiedsrichterin

S ie müsse kurz hüpfen, sagt Maja Wallstein und springt vor Freude auf und ab. Ihr Pferdeschwanz wippt mit. Der 1. FC Energie Cottbus hat sie gerade auf Instagram mehrmals erwähnt. Anlass war der Besuch der SPD-Bundestagsabgeordneten einen Tag zuvor. Nichts geht über die Liebe zwischen einem Fan und ihrem Verein.

Wallstein kann man als FC-Energie-Ultra bezeichnen. 1987 wurde sie in Cottbus geboren, von klein auf nahm der Vater sie mit ins Stadion. In ihrer Freizeit pfeift sie selbst Spiele in der Amateurliga. Die Cottbuser Kurve steht also. Doch in den Dörfern und Gemeinden südlich von Cottbus, da wird es für Wallstein schon schwieriger, Fans zu finden – Fans für die SPD.

Maja Wallstein ist seit 2021 sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete, direkt gewählt in der Lausitz im Wahlkreis Cottbus – Spree-Neiße. 205.000 Menschen leben hier, knapp 40 Prozent von ihnen sind über 60 Jahre alt, der Ausländeranteil beträgt rund 8 Prozent. Knapp 28 Prozent der Wäh­le­r:in­nen stimmten bei der letzten Bundestagswahl für Wallstein, es war ein hauchdünner Vorsprung vor dem AfD-Bewerber. Am Sonntag könnte es andersherum sein.

An einem kalten Tag im Januar hat sich Wallstein vormittags die Kreisstadt Forst ausgesucht, um Menschen für sich und die SPD zu begeistern. Die Ortsgruppe hat einen Stand gegenüber von Kaufland aufgebaut. Wallstein spricht Pas­san­t:in­nen an, bietet Gummibärchen an, „Für die gute Laune!“, und Faltblätter, „Ein paar Informationen zur Wahl.“

Sagen Sie mir, was ich falsch gemacht habe.

Maja Wallstein, Wahlkreis Cottbus-Spree-Neisse

In Forst sorgten Tuchfabriken einst für Wohlstand, sanierte Gründerzeithäuser zeugen noch vom Glanz vergangener Tage. Seitdem die ­Industrie weg ist, schrumpft die Stadt, und das sieht man. Jede zweite Fuß­gän­ge­r:in ist mit Rollator unterwegs. Wallstein geht auf eine Gruppe Seniorinnen zu, die vor einem Café mit aus­gebleichtem Schild stehen und an ihren Fluppen ziehen. Eine verstaut die Packung in der Handtasche und winkt ab. „SPD ist ja gar nicht meins. Ich wähle die AfD und nischt anderes.“ Die anderen schweigen.

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Wallstein gibt nicht auf. Was sie sich von der Politik wünschten?, will sie wissen. Und konkreter noch: „Von mir. Sagen Sie mir, was ich falsch gemacht habe.“ Die Frauen sagen, dass alles immer teurer werde und man kaum noch einen Arzt in der Nähe finde. „Beim Augenarzt in Döbern musste Schlange stehen.“ Und die Frauen wünschen sich Frieden auf der Erde, dass das aufhört mit dem Krieg. Alle Parteien hätten da versagt. Alle, außer der AfD.

Wallstein könnte sagen, dass es Putin war, der die Ukraine überfallen hat, dass das billige russische Gas seitdem ausblieb und die Energiepreise explodierten. Sie könnte von den drei ukrainischen Frauen und ihren vier Kindern berichten, die sie gleich nach Kriegsbeginn bei sich zu Hause aufgenommen hat. Sie könnte die Krankenhausreform loben, die gerade Standorte im ländlichen Raum sichern soll. Und anmerken, dass die AfD außer Sprüchen gegen Ausländer für arme Leute nichts zu bieten hat. Aber all das tut sie nicht. Erstens stimmt es ja, Lebensmittel sind deutlich teurer geworden. Und auf dem Land gibt es tatsächlich kaum Ärzte.

Und Maja Wallstein ist keine, die den Menschen ihre Meinung aufdrängt. Sie hört lieber zu. Jeden Sommer geht sie drei Monate auf Zuhörtour, zieht mit Bollerwagen über die Dörfer und sucht das Gespräch über den Gartenzaun hinweg. Sie erfahre dort, was die Menschen wirklich bewegt, berichtet Wallstein. Den Witwer etwa, der über kriminelle Ausländer herzog, aber vor allem Angst hatte, dass ihm die Vespa seiner verstorbenen Frau auch noch abhanden kommt. Die Frau, die sie anraunzte, alle SPD-Politiker seien Verbrecher, aber vor allem wütend war, dass die Krankenkasse ihre Schmerzmittel nicht mehr bezahlte. Weil sie das falsche Formular ausgefüllt hatte, wie Wallstein nach einem Telefonat mit der Krankenkasse erfuhr.

Was sie aus diesen Gesprächen mitnimmt? „Dass wir als Gesellschaft noch nicht verloren sind“, sagt Wallstein. „Egal, wie weit wir auseinander liegen, 99,9 Prozent der Gespräche enden respektvoll.“ Die Frau, der sie half, die Erstattung für ihre Medikamente zu beantragen, habe sie sogar umarmt. Wallstein ist überzeugt: „Es reicht nicht, dass wir gute Politik machen, wir müssen gute Beziehungen aufbauen.“

Aber das ist mühsam in einer Zeit, in der traditionelle Milieus auseinanderfallen und die Bindung zwischen klassischen Parteien und Wäh­le­r:in­nen abnimmt.

Die Beziehung zwischen der SPD und ihren Wäh­le­r:in­nen ist gerade ziemlich erkaltet. Einer Analyse des Wahlforschungsinstituts Ipsos zufolge hat die SPD rund die Hälfte ihrer Wählerschaft seit der Bundestagswahl 2021 verloren.

Über die Gründe kann Wallstein nur spekulieren. „Ach, in den letzten Jahren gab es immer was, was gegen uns gesprochen hat. Es gibt ja auch tausend Dinge, die schlecht laufen.“ Aber genau deshalb engagiere sie sich ja.

Bevor sie 2009 in die SPD eintrat, war sie Mitglied bei den Jusos. Kämpfte, vergeblich, gegen die Fusion zweier Hochschulen – der damalige SPD-Ministerpräsident Matthias Platzeck nannte sie „Krawallstein“. „Ich muss ihm wohl ziemlich auf die Nerven gegangen sein.“ Heute sind sie befreundet, am Abend desselben Tages wird Platzeck auf ihre Einladung hin ins Volkshaus Guben zum Gespräch mit Bür­ge­r:in­nen kommen.

Mittags baut die SPD den Stand in Forst ab, Wallstein fährt mit dem Auto nach Guben, die Neiße entlang. Auf der anderen Flussseite ist schon Polen. Guben ist eine Grenzstadt, die Innenstadt schmuck saniert. In Kaltenborn dominieren dagegen vierstöckige Plattenbauten, dazwischen Grünstreifen und kleine Wäldchen. Die Tür-zu-Tür-App der SPD sagt ihr, dass sie hier ganz gute Chancen hat, dass man ihr öffnet.

Auf den Klingelschildern stehen deutsche, slawische und arabische Namen. Hinter manchen Türen bellen Hunde, hinter einer weint ein Kind und eine schrille Stimme schreit: „Jetzt putz dir endlich die Nase oder biste bescheuert.“ Die Wände sind dünn, mitunter riecht man Zigarettenrauch aus einer Wohnung bis ins Treppenhaus.

Die Menschen, die öffnen, reagieren tatsächlich überwiegend freundlich, die meisten nehmen Faltblatt samt Gummibärchen. Ein Junge gibt die Gummibärchen zurück: „Wir dürfen nicht, wir sind Muslime.“ Ein älterer Mann mit einem Che-Guevara-Shirt lädt sie auf einen Tee ein, aber Wallstein will noch ein paar Türen schaffen. Eine Rentnerin würde gern am Abend zum Gesprächsabend mit Platzeck kommen, aber der Bus fährt ab halb acht nicht mehr ins Zentrum. Wallstein organisiert ihr ein Taxi. Und geht treppab, treppauf zur nächsten Tür, Block für Block. Der Wahlkampf wird zur Fitnesseinheit. Während Wallstein kaum Ermüdungserscheinungen zeigt, wankt die Reporterin und wird am nächsten Tag Muskelkater haben.

Vor einem Aufgang gehen zwei grauhaarige Damen spazieren: die ältere auf ihren Rollator und auf den Arm ihrer Begleiterin gestützt. Wallstein sagt ihr Sprüchlein auf: „Guten Tag, ich bin Maja Wallstein, ihre Bundestagsabgeordnete, ich …“ – „Ich habe sie doch beim letzten Mal gewählt“, unterbricht sie die jüngere der beiden. – „Es wird unfassbar knapp dieses Jahr“, sagt Wallstein und schaut gequält. Diesmal könnte der AfD-Kandidat gewinnen. „Hoffentlich“, fügt sie an, „gehen wenigstens alle zur Wahl, die eine demokratische Partei wollen.“ Die ältere schüttelt den Kopf. „Ich geh nicht mehr wählen.“ Die jüngere guckt sie streng an. „Also, das kleine Stück bis zum Wahllokal können wir alle laufen.“ Sie nickt Wallstein aufmunternd zu. Die ist immerhin über die Landesliste abgesichert – Platz 2, das sollte reichen für den Einzug in den Bundestag.

Zu dem Gespräch mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten kommen am Abend etwa 50 Leute nach Guben, darunter die Dame mit dem Taxi samt Freundin, und ein Ehepaar aus einem der umliegenden Dörfer. Wallstein haben sie auf deren Zuhörtour kennengelernt, ihre Namen wollen sie nicht nennen. „Das können wir uns auf dem Dorf nicht leisten“, sagt die Frau bestimmt. „Nicht, dass wieder Schuhcreme im Briefkasten ist.“ Aber die Maja, die hat sie beide überzeugt. „Die hat Herz. Sie belehrt nicht nur, sie will wirklich was erfahren.“ Beide werden wohl die SPD wählen. Wegen Maja.

Der Aufklärer

„Der Blick ins Gelände ist durch nichts zu ersetzen“, sagt Johannes Arlt. Der 40-Jährige ist Soldat durch und durch. Schnittiger Scheitel, raspelkurze Seiten, klare Ansagen. Arlt ist Offizier der Luftwaffe, Abteilung Drohnenaufklärung. Siebenmal war er in Auslandseinsätzen, viermal Afghanistan und dreimal Mali. An diesem nebligen Tag im Januar ist er in der Mecklenburgischen Pampa unterwegs, im Haustürwahlkampf

Sein Wahlkreis umfasst die Mecklenburgische Seenplatte und den Landkreis Rostock, von der Fläche her der größte Wahlkreis in Deutschland und dabei einer der am dünnsten besiedelten. 243.000 Menschen verteilen sich über 6.000 Quadratkilometer, knapp 40 Prozent von ihnen sind über 60 Jahre alt, der Ausländeranteil liegt bei 4 Prozent. Von einem höheren Mindestlohn, wie die SPD ihn in ihrem Wahlprogramm fordert, würden hier ein Drittel der Erwerbstätigen profitieren.

Arlt und sein Team stehen vor dem Konsum von Hohen Demzin, der seit Sommer geschlossen hat. Auch das Dorf scheint menschenleer zu sein. Arlt schaut auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt 10.26 Uhr, also ein bisschen später als geplant.“ Er wendet sich an die drei Wahlkampfhelfer, die im Halbkreis um ihn stehen. „Bastian, kannst du Datenerhebung machen? Ich würde rechts der Kirche Haustürwahlkampf machen, und das andere Team geht links runter, da werfen wir nur Flyer ein. Wir treffen uns dann hier wieder und bewegen uns gemeinsam in Richtung des nächsten Ortes.“ Sie teilen sich auf.

„Der Blick ins Gelände ist durch nichts zu ersetzen“: Johannes Arlt (mit roter SPD-Tasche) und sein Team unterwegs bei Teterow Foto: Anna Lehmann

Den Kleinbus hat er neben dem Feuerlöschteich geparkt, auf der Kühlerhaube prangt ein großer Bundesadler. Der Bus ist ein E-Auto, aber Arlt verzichtet auf die äußere Kennzeichnung: „Sonst kommt man mit den Leuten gar nicht ins Gespräch.“ Auch bei Arlt würde man nicht auf Anhieb vermuten, dass er als Schüler ein Musikgymnasium besucht hat und ursprünglich Geige studieren wollte. Dass er drei Firmen gegründet hat, die erste als Schüler. Zugleich ist er seit seiner Jugend SPD-Mitglied, weil ihm Solidarität wichtig ist. Sein Vater hatte die Partei in der DDR mitgegründet. Er war es auch, der ihn dazu überredete, Wehrdienst zu leisten. Arlt blieb dann beim Bund.

Seine Dienstuniform ist derzeit im militärhistorischen Museum in Dresden ausgestellt, als Leihgabe. Seit 2021 besteht seine Arbeitskleidung aus Hemd und Jackett. Vor dreieinhalb Jahren eroberte er den Wahlkreis von der CDU, nun tritt er erneut als Direktkandidat an, und zwar ausschließlich. Nach Streit mit seinem Landesverband um die Position auf der Liste verzichtete er ganz auf einen Platz: „Sollen die Bürger entscheiden, ob ich meine Arbeit gut gemacht habe.“

Meine Bilanz. Zum Beispiel das Krankenhaus in Teterow, das bleibt. Das konnte ich erkämpfen.

Johannes arlt, wahlkreis Mecklenburgische Seenplatte

Mit roter Umhängetasche und einem Packen Zettel in der Hand nähert er sich einem Gehöft. Der Schlüssel steckt von außen. „Das ist typisch hier“, sagt Arlt, „viele schließen nicht ab.“ Er klingelt. Keiner da. Arlt will weitergehen, da kommt ein Mann mit Anorak und Schlappen über den Hof. „Der Herr Arlt“, begrüßt er ihn. „Sie kennen mich?“, fragt Arlt und bleibt stehen. „Na klar, von der Zeitung“, sagt der Mann in breitem Mecklenburger Dialekt. Er arbeitet sonst als Fahrer bei einer Abrissfirma, ist gerade krankgeschrieben. Arlt reicht ihm einen Zettel. „Meine Bilanz. Zum Beispiel das Krankenhaus in Teterow, das bleibt. Das konnte ich erkämpfen.“ Der Mann nickt. „Das ist wichtig.“ Er habe seit Juli 2023 keinen Zahnarzt mehr, seit dieser in Rente gegangen und keine Nachfolger gefunden habe.

Dass gerade in ländlichen Regionen Praxen mangels Nachwuchs schließen müssen, ist ein gesamtdeutsches Phänomen. In den ostdeutschen Flächenländern kommt jedoch noch der Aufstieg der AfD erschwerend hinzu. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnte im August davor, dass sich ausländische Ärzte „bedanken“ würden, wenn sie in einer AfD-Hochburg landeten. In Mecklenburg-Vorpommern hat jede siebte Ärztin einen ausländischen Pass. In Umfragen liegt die AfD, die im Wahlprogramm „Remigration“ fordert, mit 30 Prozent deutlich vor CDU und SPD.

Wen er wählt, das will der Abrissfahrer nicht verraten. Aber so viel steht für ihn fest: „Die AfD darf man nicht ranlassen. Da geht hier alles den Bach runter.“

2021 gewann Arlt das Direktmandat mit 31,1 ­Prozent deutlich vor CDU und AfD. Diesmal wird es viel knapper, „wir kämpfen buchstäblich um jede Stimme“. Doch er hofft, dass er sich gegen die AfD-Bewerberin durchsetzen kann: „Ich komme ja nicht mit leeren Händen. Ich habe einiges vorzuweisen.“

Drei Dörfer weiter klingelt Arlt bei einem Mann, der erzählt, er arbeite als Zugbegleiter. Er beschwert sich bei Arlt über die „Migranten“, die jeden Tag aus Langeweile mit der Bahn fahren würden, die Frauen anquatschten und vor dem Bahnhof abhingen. „Das ist nicht mehr schön“, sagt der Mann. Arlt verweist auf die geltende Rechtslage, nach der Asylbewerber die ersten Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland nicht arbeiten dürfen. „Wir verbieten es ihnen. Wir erziehen die Leute zum Gammeln.“ Vielleicht müsse man mal mit der Polizei reden, ein bisschen mehr Präsenz am Bahnhof würde womöglich schon ausreichen. Aber er gibt dem Mann auch recht. „Wir müssen das Problem in den Griff bekommen.“

Aus dem Wahlkampf versucht Arlt, das Thema Migration rauszuhalten, auch wenn er nach den Anschlägen von München und Aschaffenburg häufiger darauf angesprochen werde. Er sagt dann, dass er das dänische Migrationsmodell der sozialdemokratisch geführten Regierung unterstützt. „Und dafür werde ich mich in meiner Partei auch weiter einsetzen.“ Dänemark tut alles, um möglichst wenig Asyl­be­wer­be­r:in­nen ins Land zu lassen, Ankommende werden in Sammellagern untergebracht. Und für diejenigen, die Asyl bekommen, gilt eine Integrations- und Arbeitspflicht. Arlt ist mit einem Dänen verheiratet, er pendelt mit ihm und seinem kleinen Sohn zwischen Neustrelitz, Kopenhagen und Berlin.

Arlt verhehlt auch nicht, dass er die Entscheidung der SPD für Olaf Scholz als Kanzlerkandidat falsch fand. Er hatte für Verteidigungsminister Boris Pistorius geworben. Zu diesem hat er einen guten Draht, hat ihn für den Abend zum Bür­ge­r:in­nen­ge­spräch nach Teterow eingeladen. Der Saal im Kulturhaus ist bis auf den letzten Platz besetzt, 100 Menschen sind gekommen.

Vor dem Kulturhaus demonstrieren gleichzeitig etwa 50 Menschen gegen die Veranstaltung, das Bündnis Sahra Wagenknecht und diverse Friedensgruppen haben dazu aufgerufen. Arlt schnappt sich eine Thermoskanne mit Kaffee und Pappbecher und geht raus zu den Demonstranten. „Danke, dass Sie von Ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen. Darf ich Ihnen was Warmes anbieten?“ – „Vorsicht, da ist Blut drin!“, ruft ein weißhaariger Mann.

Drinnen im Saal nimmt Boris Pistorius die eher skeptische Stimmung wahr, erzählt als Erstes von seinen Austauschfahrten als Schüler in die damalige Sowjetunion, von Russisch als Abiturfach. Und dass er den Job als Verteidigungsminister mache, damit die Menschen in Deutschland weiter in Frieden leben können. „Wir wollen keinen Krieg“, ruft er. Selbst die Skeptischen applaudieren.

Die Integrationsbeauftragte

„Was bist denn du für ein süßer Schatz“, fragt die ältere Dame und beugt sich verzückt über den Kinderwagen. Hellrosa ist der Wagen, hellrosa ist auch der Mantel von Rasha Nasr. Zwei schicke Farbtupfer im Grau des nieselkalten Nachmittags. Nasr hat ihre sechs Monate alte Tochter zum Wahlkampfstand mitgenommen. Es ging nicht anders, ihr Mann, der sie betreuen wollte, ist krank. Aber das entpuppt sich nun als Vorteil. Nasr beugt sich verschwörerisch zur Seite: „Die Kleine ist meine beste Wahlkampfhelferin“, sagt sie fröhlich in sächsischem Singsang. Der kinderlieben Dame drückt sie ein Faltblatt der SPD in die Hand.

Das Einkaufszentrum, vor dem Nasr und die SPD ihren Wahlkampfstand aufgebaut haben, ist nur spärlich besucht, einige wenige Menschen bleiben stehen und suchen das Gespräch. Kein Wunder: Es ist kalt. Und um vier Uhr beginnt es bereits zu dämmern. Ein Wahlkampf mitten im Winter und gegen einen Rechtsruck in der Gesellschaft. Gibt es etwas Mühsameres? Rasha Nasr lacht. „Ich habe noch keinen Wahlkampf geführt, der nicht mühsam war. Aber wir Sachsensozis sind eben dickköpfig.“

Dass Nasr im Wahlkreis Dresden I das Direktmandat holen wird, ist extrem unwahrscheinlich. Der Wahlkreis geht traditionell an die CDU, so auch 2021. Aber damals lag die SPD beim Zweitstimmenergebnis knapp vorn, erst auf Platz zwei folgte die AfD. 306.000 Menschen wohnen hier, von der barocken Altstadt bis zu den Plattenbauten in Prohlis. Ein Viertel der Bevölkerung ist jünger als 24 Jahre, der Ausländeranteil liegt bei 13,6 Prozent, für Sachsen ist das ungewöhnlich viel. Rasha Nasr selbst ist 32 und gebürtige Dresdnerin. Ihre Eltern kamen einst aus Syrien in die DDR. Die Tochter machte ihr Abitur in Nassau und studierte an der TU Dresden Politikwissenschaft. Anschließend arbeitete sie unter anderem als Integrationsbeauftragte der Stadt Freiberg.

„Wir Sachsensozis sind dickköpfig“: Rasha Nasr hat ihren Wahlkreis in Dresden. Hier bei einer Paneldiskussion 2023 Foto: Janine Schmitz/imago

Der damalige Landesvorsitzende Martin Dulig begeisterte sie 2017 für die SPD. Ähnlich wie der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck heute traf Dulig damals Menschen am Küchentisch. Sie fand das damals so cool, erzählt Nasr beim Kaffee im Center, dass sie in die SPD eintrat, mitten in einer der größten Krisen der Partei. Die Sozialdemokraten verloren die Bundestagswahl 2017 mit ihrem damaligen Spitzenkandidaten Martin Schulz mit 20 Prozent, ein historisch schlechtes Ergebnis. Dieses Mal könnte es noch schlimmer kommen. Mit Nasr kamen vor dreieinhalb Jahren 48 Abgeordnete im Juso-Alter in den Bundestag, so viel wie noch nie. Linke SPDler hofften, dass die Jungen die Fraktion aufmischen würden, aber es kam anders. Putins Überfall auf die Ukraine disziplinierte, außerdem sahen sich viele gar nicht als Jusos. Nasr ist bei der reformpolitischen Gruppe der Netzwerker in der SPD-Bundestagsfraktion aktiv. Sie habe schnell gelernt, sagt sie, „dass Arschbombe aufs Buffet nichts bringt“. Sie wurde stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales, verhandelte das Fachkräfteeinwanderungsgesetz mit. Dabei habe sie gelernt, wie das politische Spiel funktioniere. „Alle lügen. Man muss lernen, die Interessen zu lesen.“ Mittlerweile könne sie sicher übers politische Parkett laufen, „wenn auch noch nicht tanzen“.

Mit dem dritten Platz auf der Landesliste ist ihr Einzug in den neuen Bundestag relativ sicher. Dass sie, wie 2021, acht Abgeordnete aus Sachsen sein werden, glaubt Nasr jedoch nicht: „Wenn wir zu fünft wären und bundesweit bei 20 Prozent lägen, wäre das schon toll.“

Aber selbst danach sieht es im Moment nicht aus. Vor Weihnachten überfuhr ein saudi-arabischer Bürger Hunderte Menschen auf einem Weihnachtsmarkt in Magdeburg, im Januar tötete ein abgelehnter afghanischer Asylbewerber ein Kleinkind und einen Familienvater. Im Februar fuhr ein Afghane, der vor acht Jahren als Minderjähriger nach Deutschland flüchtete, in München absichtlich in eine Gewerkschaftsdemo. Die Fälle lassen sich kaum vergleichen, zwei der Täter gelten als psychisch krank, der Magdeburger Attentäter stand der AfD nahe, der in München rief islamistische Parolen.

Doch seitdem ist Migration das Top-Thema im Wahlkampf, und auch Nasr und ihre Sachsensozis werden im Wahlkampf immer wieder darauf angesprochen. „Die einen sagen, es kommen zu viele, wir wollen, dass unsere Kinder wieder sicher sind. Die anderen sagen: Bleibt stabil, überlass es nicht allein der Linkspartei, für eine humane Asylpolitik zu werben.“

Nasr hat sich entschieden. Sie findet es falsch, dass die SPD versuche, mit immer schärferen Gesetzen gegen Asylbewerber vorzugehen. Sie hat Olaf Scholz öffentlich dafür kritisiert und im ­Bundestag gegen das Sicherheitspaket der SPD-Innenministerin gestimmt, das für ausreisepflichtige Flüchtlinge keinerlei Sozialleistungen mehr vorsieht. Sie sei nicht naiv, habe gar nichts gegen Abschiebungen, sagt sie. Aber das sei eben auch nicht die Antwort auf alle Probleme. Sie sieht ihre Partei beim Thema Migration vom rechten Zeitgeist getrieben und warnt: „Jedes Mal, wenn Parteien der Mitte dort versucht haben, strenger zu werden oder Vorschläge von der AfD übernommen haben, hat es nur der AfD in die Hände gespielt.“

Doch auch in der migrantischen Community ihrer Eltern verspüre sie den Wunsch nach schärferen Gesetzen. „Die Menschen mit Migrationsgeschichte, die es geschafft haben, wollen sich stark abgrenzen von denen, die neu dazukommen. Da heißt es: Die machen Probleme, die versauen uns den Ruf.“

Es sei schade, sagt sie, dass Deutschland nicht den Anspruch habe, die Gesellschaft so weiterzuentwickeln, dass sich möglichst viele Menschen als Teil dieses Landes sehen. Stattdessen versuche man seit Jahrzehnten, die Grenzen möglichst eng zu ziehen.

Nasr weiß, wohin es führt, wenn „Fremde“ vor allem als Problem betrachtet werden. Als sie im Sommer hochschwanger im Supermarkt einkaufte, habe ein Mann versucht, ihr seinen Einkaufswagen in den Bauch zu rammen. „Dann sind wir dich und dein Balg endlich los“, zischte er. Sie war so geschockt, dass sie nicht mal Anzeige erstattete. Es war nicht das erste Mal, dass sie bedroht wurde. Sie hat deshalb mit ihrem Team einen Selbstverteidigungskurs gemacht. „Da haben wir gelernt, wie man sich groß machen kann.“

Die Anfeindungen hinterlassen ein bitteres Gefühl. Nasr hofft, dass die Bundestagswahl glimpflich ausgeht, auch für ihre Partei. Und dass die SPD danach wieder knallhart auf Sozialpolitik setzt.

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3 Kommentare

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  • Vielen Dank für diese sehr plastische, differenzierte und einfühlsame Reportage. Ja, wir müssen gute Beziehungen aufbauen, genau hinhören und hinsehen und Zusammenhänge verstehen (wollen). Manchmal ist es die fehlende Zuzahlung zu Schmerztabletten und jemand, der/die uns dabei hilft sie doch noch zu bekommen. Manchmal ist es ein Kind, das die Verbindung doch noch herstellt und einer, der das Krankenhaus rettet oder ein Taxi organisiert. Hier werden die Menschen hinter der Politik erfahrbar, Abgrenzungen und Vielschichtiges. Das tut gut in der Kälte da draußen und klingt nach guter Basispolitik.

  • „2021 holte die SPD ... Direktmandate. Können die Ge­nos­s*in­nen das am Sonntag gegen die AfD wiederholen?“

    Willkommen im Märchenland all derer, die im Demokratieunterricht nicht aufgepasst haben. Direktmandate sind die Schlaftablette für alle WählerInnen, die vorm heimischen Fernseher schlafen und noch nicht mitbekommen haben, dass es allein auf die Zweitstimmen ankommt. Die spielt nur im Fall der Grundmandatsklausel , also für die

  • Mit dem neuen Wahlrecht müssen Direktmandate durch Zweitstimmen gedeckt sein.

    Wenn die SPD in Brandenburg alle Direktmandate holen sollte, aber nur 30% der Zweitstimmen, dann kriegen nur 60% der Wahlkreis-Sieger tatsächlich einen Sitz im Bundestag, und die SPD-Landesliste zieht überhaupt nicht. Auch Platz 2 auf dieser Liste hilft dann nicht.

    Die taz hatte das gerade am Beispiel Bremen erklärt, aber für Brandenburg gilt das gleiche.