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Nach dem Tabubruch im BundestagSchwingungen am linken Rand

Wie macht die Union nach Merz‵ Entgleisung weiter? Reicht die CDU im Osten der AfD die Hand? Und gibt es jetzt ein Momentum für die Linke?

Plötzlich hip: Linke Spit­zen­kan­di­da­t:in­nen Jan van Aken und Heidi Reichinnek Foto: Mike Schmidt/Picture Alliance

Union: Bleibt die Tür zur AfD jetzt wirklich zu?

Am Montagnachmittag brandet in einer Berliner Messehalle donnernder Applaus auf. Friedrich Merz hat auf der Bühne gerade eine Koalition mit der AfD ausgeschlossen: „Es gibt keine Zusammenarbeit, es gibt keine Duldung, es gibt keine Minderheitsregierung, gar nichts.“ Die Delegierten des CDU-Bundesparteitags klatschen begeistert – das wollten sie von ihrem Kanzlerkandidaten hören. Vor zwei Wochen noch wäre dieser Satz weniger bedeutend gewesen.

Merz meint, was er sagt, davon kann man ausgehen. Er ist Demokrat, Transatlantiker und Europäer. Er verachtet die extrem rechte AfD und will sie bekämpfen. Nur: Überzeugend war einst auch seine Ankündigung, im Bundestag keine Zufallsmehrheit mit der AfD einzugehen. Dann kam Aschaffenburg, und Merz’ Worte vom November galten nicht mehr. Aschaffenburg habe einen Notfall erzeugt, die Sachlage verändert, so die Rechtfertigung der CDU.

Was aber, wenn der nächste vermeintliche Notfall auftritt? Merz’ Glaubwürdigkeit ist erschüttert. Die Drohung, mit der AfD zu stimmen, sollte Druck auf die anderen demokratischen Parteien ausüben. Er wollte seinen Willen durchsetzen. Doch Merz hat damit eine Tür zu den extrem Rechten aufgemacht – und ganz bekommt er die nicht mehr zu. Jüngsten Umfragen zufolge scheint dieser Kurs der Union jedoch weder besonders zu nutzen noch zu schaden.

SPD: Kann man Friedrich Merz noch glauben?

Die SPD ist wegen Merz’ Tabubruch leise verunsichert und laut empört. Wie empört, das war zu hören, als SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich die Union im Bundestag aufrief, „das Tor zur Hölle wieder zu schließen“. Die Antwort war Gelächter bei der Union. SPD-Kanzler Olaf Scholz verkörpert derweil wie kein Zweiter die Devise „Pragmatismus statt Panik“. Bloß nicht übertreiben, außer beim Pensum des Aktenstudiums. Doch auch Scholz donnerte im Bundestag, dass „uns eine schwarz-blaue Regierung droht“, eine Vizekanzlerin Alice Weidel. In einem Podcast legte er nach: Die Union werde nach einem Wahlsieg pro forma mit SPD und Grünen verhandeln und im Oktober mit der AfD regieren. Ein kühne Prognose, ungewöhnlich für den sonst so vorsichtigen Kanzler.

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Den Merz-Move Richtung AfD hat die SPD nicht kommen sehen. Nicht nur Jusos sagen nun: Wir können nicht mit Merz regieren. Eine Groko können sich viele GenossInnen aus demokratischer Verantwortung vorstellen – aber nicht mit dem unzuverlässigen Merz. Warum sollte die SPD ihm noch glauben, dass der demnächst nicht die Wirtschaftskrise zum Notfall erklärt, um dann mit AfD-Stimmen Steuersenkungen durchzubringen? Die Empörung der SPD ist echt, die Ratlosigkeit auch.

Scholz und seine Partei betonen, dass sie beim Asylrecht extrem viel verschärft haben, die Grenzen kontrollieren und auf Geas setzen, das EU-Abschreckungsprogramm gegen „illegale“ Migration. Aber all das klingt immer komplizierter als die Jetzt-reicht-es-Sätze eines Friedrich Merz. Und es klingt wie nachholende Anpassung. Mit ihrem harten Migrationskurs hat die Union ein Mittel in der Hand, das der SPD wehtut – und zwar mehr als den Grünen. Denn die SPD-Anhängerschaft hat Sympathien für Tabula-rasa-Rhetorik. Im Willy-Brandt-Haus hatte man gehofft, dass Merz’ Tabubruch und die von Hunderttausenden unterstützten Proteste auf den Straßen den Sozialdemokraten zugutekommen. Doch die Umfragen sehen nicht danach aus. Daher rührt, weniger sichtbar, die Unsicherheit der SPD.

Grüne: Koalieren mit einem Wortbrecher?

Drei Tage nach dem Knall im Bundestag hat sich der Pulverdampf verzogen. Im Erdgeschoss der Grünen-Zentrale warten nur ein paar JournalistInnen auf Parteichefin Franziska Brantner. Es ist die Pressekonferenz nach der Vorstandssitzung, wie jeden Montag. Zuletzt war immer viel los, wegen Habecks Kapitalerträgen oder der Causa Gelbhaar. Diesmal sind viele Stühle leer. Was folgt aus den Großdemos vom Wochenende, so die Frage. Brantner glaubt, dass die Leute demokratische Mehrheiten wollen. Und „in vielen Städten“ habe es auch die Einladung an die CDU gegeben: „Kommt zurück in die Mitte.“ Die Tür für Merz bleibt also offen. Die Grünen haben zwar flink neue Plakate entworfen, Friedrich Merz werfen sie darauf „Wortbruch“ vor. Aber: Eine Koalition mit dem Wortbrecher bleibt eine Option.

Was sich allerdings verändert hat: Niemand schwärmt mehr von Schwarz-Grün als Projekt. Viele Realos hatten sich schon 2021 eine Kiwi-Koalition gewünscht, mit vertrauenswürdigen Partnern, durch die sich neue gesellschaftliche Mehrheiten erzeugen lassen. Davon reden nach Merz’ Wortbruch auch überzeugte Realos nicht mehr. Es geht jetzt um etwas anderes, die demokratischen Parteien müssen in den nächsten Jahren noch in der Lage sein, Mehrheiten zu bilden. Schwarz-Grün wäre also eher „betreutes Regieren“ mit einer Union, die man in der Mitte festnageln will.

Die linken Grünen, die immer skeptisch auf Schwarz-Grün blickten, sind für diese Vorstellung durchaus empfänglich. Die Demokratie retten und das Wegrutschen der Union Richtung AfD verhindern – das passt in ihren Wertekanon.

Und das, obwohl Ausschlüsse gerade in Mode sind. Die FDP schließt eine Koalition mit den Grünen aus, Merz eine Minderheitsregierung mit der FDP. Die Grünen schließen, schwindelig vom jüngsten Blick in den Abgrund, nichts aus. Ob aber nach dem 23. Februar etwas mit der Union geht, menschlich, programmatisch? Puh.

CDU Ost: Fällt die Brandmauer hier endgültig?

Am Freitag vor zwei Wochen lud Sven Eppinger ein Video bei TikTok hoch. Darin sieht man, wie sich der sächsische CDU-Landtagsabgeordnete über die gemeinsame Abstimmung mit der AfD im Bundestag freut. Eppinger ist für seine Offenheit Richtung AfD bekannt. Neben Eppinger sitzt sein Parteifreund Geert Mackenroth, früherer Justizminister in Sachsen. Die beiden fühlen sich vom Verhalten der Unionsfraktion im Bundestag sichtlich bestätigt. Und das gilt wohl nicht nur für sie.

Wenn Parteichef Merz eine Mehrheitsbildung mit der AfD im Bundestag für okay erklärt, warum sollte man es dann in Bautzen, Cottbus oder Stendal anders machen? Und wie viel ist dann der Passus im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Minderheitsregierung in Sachsen noch wert, in dem es heißt: „Eine Zusammenarbeit oder eine Suche nach Mehrheiten mit der AfD wird es nicht geben“? Für Merz fällt die gemeinsame Mehrheitsbildung im Bundestag weder in die eine noch die andere Kategorie.

Die Kräfte in der Ost-CDU, die die Abgrenzung schleifen wollen, dürften sich jedenfalls gestärkt fühlen. Sven Eppinger träumt in seinem Video schon von einer Minderheitsregierung, in der die CDU nicht mehr an SPD oder Grüne gebunden ist. Ob er damit wechselnde Mehrheiten meint oder gleich eine Tolerierung durch die AfD, sagt er nicht.

Linkspartei: Plötzlich wieder voll im Trend?

Die Linkspartei wirkte bis vor ein paar Wochen noch wie ein blasses Relikt. Die Partei taumelte – lange heillos zerstritten in TraditionalistInnen und Bewegungsfraktion – in die Bedeutungslosigkeit. Sie wirkte wie übrig geblieben, funktions­los. Die neuen Ostprotestparteien sind AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht. „Alle wollen regieren. Wir wollen verändern“, steht nun trotzköpfig auf den Wahlplakaten der Linken. Eine Partei, die in den Umfragen bei 3 Prozent rangiert und nicht regieren will, beantwortet eine Frage, die niemand gestellt hat. An das Rot-Rot-Grün-Projekt erinnern sich kaum noch Ältere.

Und jetzt plötzlich hip? Bei den Namen Jan van Aken und Heidi Reichinnek nickten bislang nur Politikinsider. Jetzt strömen hunderte JungwählerInnen zu stinknormalen Wahlkampfevents. Parteichef van Aken erzählte am Dienstag in Stuttgart, dass bei seinem letzten Auftritt dort nur 8 Leute kamen – diesmal waren es rund 800. Reichinneks „Auf die Barrikaden“-Video aus dem Bundestag wurde 29-Millionen-mal angeklickt. 11.000 neue GenossInnen sind in den letzten vier Wochen in die Partei eingetreten.

Die Linkspartei erfüllt eine um sich greifende Sehnsucht nach entschlossenem Protest in finsteren Zeiten, gerade bei Jüngeren. In manchen Umfragen ist die Linkspartei bei den 18- bis 29-Jährigen genauso beliebt wie die Grünen. SPD und Grüne können diese Protest-Stimmung nur bedingt bedienen – sie sind ja Merz’ Koali­tionspartner in spe.

So bringt das politische Beben in der Mitte den linken Rand in Schwingung. Das Momentum ist bei der Linkspartei. Oder ist das doch nur eine Momentaufnahme? Vielleicht hilft Merz’ Kumpanei mit der AfD der Linkspartei über die Fünfprozenthürde. Das Karl-Liebknecht-Haus müsste dem Unionschef eine Dankeskarte schicken.

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1 Kommentar

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  • Von dem, was in Sachsen unterhalb des Landesparlamentes an Zusammenarbeit schon alles ging, obwohl es weder sinnvoll noch erforderlich war, berichtet ja wenigstens die taz zum Glück immer mal wieder. Hier blogs.taz.de/grenz...n-der-braundmauer/ zum Beispiel, ganz besonders "erfreulich", wenn man sich ins Gedächtnis ruft, wie die OB-Wahl damals gelaufen ist und wie von der damaligen Spitze der Bundespartei auf den Leihstimmenregen reagiert wurde. Nun, nachdem Merz seinem so eklatant minderheitsregierendem Parteifreund in Dresden gezeigt hat, wie man zu stabilen Mehrheiten kommt, ...

    Und man wird sich Scholz' Einschätzung wohl anschließen müssen. Kenia wäre zwar auch ohne die Verteilung der Sonstigen schon nahe an der Zweidrittelmehrheit. Aber das sei ja mit Söder nicht zu machen. Denn auch CDU und AfD würden, wenn die Umfragen so einträten, eine Mehrheit haben. Lindner könnte sich da gerne beteiligen, würde er es denn wieder ins Parlament schaffen. Vielleicht überließe man ihm das Gesundheitsministerium, das will ja sonst keiner.