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Ist da noch jemand?

Vor einem Jahr ist Alexei Nawalny gestorben. Russlands Opposition lebt heute im Exil oder im Untergrund – und ist vollkommen gespalten. Dem Kreml kann dies nur recht sein

Alexei, die Lichtfigur: Nawalnys Anhänger zeigen auf einem Laptop in ihrem Büro in Litauen ein Bild des Oppositio­nellen Foto: Rafal Milach/Magnum Photos/Agentur Focus

Aus Moskau Inna Hartwich

Jemand hat Süßes mitgebracht. Ein paar Bonbons, ein Gebäck in Bärchenform mit Kondensmilch als Füllung. Eine Plastikflasche Apfelsaft steht daneben und eine Grabkerze. „Wir denken an dich“, hat jemand auf eine Gummiente zwischen all den Plastikblumen und den Rosen, Nelken, Astern geschrieben. „Du fehlst.“

An diesem Sonntag jährt sich der Tod des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny zum ersten Mal. Ein Tod, so plötzlich und doch nicht erwartet, in einer Strafkolonie hinterm Polarkreis. Eine Erschütterung mehr in Zeiten voller Erschütterungen, seit Russland seine zerstörerischen Truppen in die Ukraine schickt. Ein vom Regime herbeigeführter Tod, durch zahlreiche absurde Urteile, durch Einzelhaft, durch Bestrafung und Erniedrigung, durch Fernhalten von Ärzt*innen. Durch den geballten menschenverachtenden Zynismus, der dem System Putin eigen ist.

Es war ein Tod, der vielen Russ*in­nen die Hoffnung nahm. Eine Hoffnung auf das „wunderbare Russland der Zukunft“, die ihnen ihr Idol Nawalny – auch hinter Gittern – mit einem Lächeln auf den Lippen immer wieder zu spenden vermochte. Selbst, wenn sie nicht hinter allem standen, was Nawalny an Ideen für Veränderungen im Land einbrachte. Und doch bleibt diese Hoffnung bis heute in ihren Tränen. In ihren Blumen. Im Bärchengebäck auf Nawalnys Grab auf dem unscheinbaren Friedhof im Moskauer Stadtteil Borissowo im Südosten der Stadt.

Baulärm aus der Ferne dringt in die Stille. Eine getigerte Katze streift zwischen den Gräbern umher. Ein paar junge Männer stehen am Grab, auf dem ein Kranz aus Plastikblumen in den Farben der russischen Trikolore liegt. „Wir kommen zum Atmen“, sagt einer von ihnen. Manchmal seien sie zu zweit hier, manchmal zu sechst wie an diesem Februardonnerstag. „Wir können wenig bewirken in diesem Land, ohne unser eigenes Leben zu gefährden, aber noch können wir frei denken, zusammen trauern, zusammen wütend sein, zusammen von einer Zukunft träumen, von der wir seit drei Jahren gar nicht recht wissen, wie sie aussehen soll“, sagt er. Die anderen schauen zu Boden. Einer nickt. Sie sind still, viel sagen wollen sie nicht. Sie wissen, dass am Friedhof und um den Friedhof herum Kameras hängen. Sie wissen, was Menschen in Russland blüht, die das Regime kritisieren, egal weshalb. Sie könnten schnell zu „Extremisten“ erklärt werden, sie könnten auch an die Front geschickt werden. Das ist das, was der Gesprächigste von ihnen als „Luft abschnüren“ bezeichnet. „Wir stehen einfach hier und fühlen uns für einen kurzen Augenblick so, wie wir sind, jeder für sich“, sagt er leise. Schon gehen sie wieder ihrer Wege, machen einer Frau Platz am großen Schwarz-Weiß-Foto Nawalnys. „Ewiges Gedenken“, steht auf dem Holzkreuz.

Am Eingang zu diesem Trauerort auf einer Moskauer Anhöhe sitzt ein Wachmann in seinem Auto, auf dessen Scheibe das schwarz-orange Z prangt, der Buchstabe, der die Unterstützung des russischen Kriegs in der Ukraine symbolisiert. Nawalny hatte den Krieg aus der Haft heraus angeprangert. „Nein zum Krieg“, hatten seine An­hän­ge­r*in­nen bei seiner Beerdigung am 1. März 2024 gerufen, einen in Russland verbotenen Satz, der die Trauerfeier zu einer Kundgebung machte, einem friedlichen, traurigen Abschied von einem Aufrechten, der für viele eine Projektionsfläche – für Mut und auch Hass – geblieben war.

Mit dem Tod des Politikers starb auch die Bedeutung des Worts Opposition in Russland, der Sinn dieses Worts. Denn niemand im Land, außer den staatlichen Akteur*innen, darf sich in Russland an legaler Politik beteiligen. Schlimmer noch: Alle, die das auch nur zu wagen versuchen, werden von staatlichen Organen für vogelfrei ­erklärt und strafrechtlich verfolgt.

Es gibt keine politische Opposition in Russland, es gibt lediglich einen politischen Untergrund innerhalb Russlands oder politische Emi­gran­t*in­nen außerhalb Russlands. Dazu noch wenige, vor allem ehemalige Lo­kal­politiker*innen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren. Die meisten von ihnen gehen vor allem zu Gerichtsverhandlungen, um den politisch Verfolgten das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein. Im Kopf haben sie stets, dass es auch sie treffen könnte, dass auch sie sich im Gerichtskäfig wiederfinden könnten.

Par­ti­sa­n*in­nen wählen andere Wege. Es sind auf der einen Seite solche, die Gleise, auf denen russische Militärtechnik unterwegs ist, manipulieren, auf der anderen solche, die mit kurzen Sätzen à la „Warten Sie auf den Frieden“ an den Ampeln und mit ähnlichen eher symbolischen Aktionen auf die Lage im Land aufmerksam machen. Und es sind politische Aktivist*innen, die überall auf der Welt nach Möglichkeiten suchen, ein Russland nach Putin zu gestalten. Damit versuchen sie auch, die Menschen quer durch Russland zu erreichen, auch wenn ihr eigenes Land für viele von ihnen mittlerweile unerreichbar geworden ist, weil hier ein Strafverfahren auf sie wartet. Die Gefängniszelle, der Tod.

In der Diaspora haben sie zunächst damit zu kämpfen, selbst Fuß zu fassen. Sich zu finden, ihre Rolle auszugestalten. In der Diaspora aber werden auch die Meinungsverschiedenheiten über das, was ihre verlorene Heimat denn falsch gemacht habe, was sie selbst falsch gemacht haben und wie all das wiedergutzumachen sei, offensichtlich noch größer. Die Fehde wird vor allem digital ausge­tragen mittels Recherchen über die jeweils andere Gruppe. Wie auch die russische Bevölkerung ist die ehemals russische Opposition atomisiert – und findet sich in gegenseitigem Hass wieder.

Da ist die Gruppe rund um Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK, für die ganz klar bereits der frühere Präsident Boris Jelzin und seine Oligarchen für das Putin’sche Übel verantwortlich sind. Sie drehen Filme, die sie „Verräter“ nennen, und treten selbst denen auf die Füße, die Nawalny und seine Mit­strei­te­r*in­nen grundsätzlich schätzen.

Da ist auch die Gruppe um den Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski, der zehn Jahre in russischen Strafkolonien verbrachte, bevor Putin ihn 2013 kurz vor den Olympischen Spielen in ­Sotschi begnadigte und ins Ausland entließ. Aus London operiert der einstige Öl­magnat mittels seines Medienunternehmens und ist im Westen gut vernetzt. Mit seinem Antikriegskomitee aus älteren Ver­tre­te­r*in­nen der russischen Opposition lädt er zu Konferenzen ein, die die „Nawalny-Gruppe“ jedes Mal meidet. ­Chodorkowski ist in ihren Augen ein Verräter. Zudem soll sein einstiger Partner, ­Leonid Newslin, für den Überfall auf den Ex-FBK-Chef Leonid Wolkow verantwortlich sein. Wolkow war in seinem litauischen Exil im März 2023 mit einem Hammer überfallen worden. Chodorkowski verurteilte die Tat, distanzierte sich aber nicht von Newslin.

Im Clinch liegen die Nawalny-Leute auch mit dem ebenfalls ausgewanderten Aktivisten Maxim Kaz. Wie so viele informiert dieser über seinen erfolgreichen Youtube-Kanal über die Geschehnisse in Russland und der Welt. Nun wollen die ­FBKler nachgewiesen haben, dass Kaz’ Ehefrau Gelder aus russischen Staatsunternehmen annimmt. Finanziert sich Kaz also aus schmutzigem Re­gime­geld? Der gegenseitige Shitstorm gewinnt in solchen Si­tua­tionen die Oberhand. Und gerade Re­gime­kri­ti­ker*in­nen, die in Russland geblieben sind, fragen sich, ob die Diaspora nichts Besseres zu tun habe.

Die beim Gefangenenaustausch im vergangenen August freigekommenen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa versuchen sich als einigende Kraft. Zusammen mit Nawalnys Ehefrau Julia betonen sie den gemeinsamen Feind: Wladimir Putin. Eine Antikriegsdemo, die die Andersdenkenden aus Russland vereinen sollte, hatten sie vor einigen Monaten in Berlin bereits organisiert. Eine zweite soll am 1. März folgen. Doch auch ihnen schlägt teils scharfe Kritik entgegen.

Einmal können sich die Gruppierungen nicht darüber einigen, ob denn die russische Flagge bei solch einer Demonstration angebracht sei, einmal gar nicht ausmachen, wer denn da alles mitlaufen solle. Zudem sind Forderungen nach Waffenlieferungen und militärischer Unterstützung für die Ukraine nicht Jaschins und Nawalnajas Sache.

So bleiben heftige Diskus­sio­nen über die Moral und über kollektive Schuld, es bleiben Anschuldigungen und Kränkungen. Derweil baut der Kreml weiter an der Imitation politischen Lebens in Russland.

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