: „Leider zeigen die wenigsten Zivilcourage“
Die Zahl der Diskriminierungsfälle steige, sagt die Juristin Eva Maria Andrades. Doch für viele Betroffene sei der Gang zur Beratungsstelle mit zu vielen Hürden verbunden
Interview Laura Catoni
taz: Frau Andrades, am 29. Januar brachte die Union ihren Antrag für eine massive Verschärfung der Migrationspolitik mit Stimmen der AfD durch den Bundestag. Was bedeutet dieses Ereignis für Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind?
Eva Maria Andrades: Das, was da im Bundestag passiert ist, ist extrem besorgniserregend. Es stellt einen Dammbruch dar, der vielen Menschen im Land das Signal gegeben hat, dass sie jetzt offener denn je MitbürgerInnen rassistisch diskriminieren können. Für alle, die von Rassismus betroffen sind, für Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte bedeutet das wiederum, dass sie nicht sicher sind und dass sie sich fürchten müssen.
taz: Inwiefern äußert sich der Rechtsruck in der Arbeit der Beratungsstellen, die sich unter dem Dach Ihres Verbands vereinen?
Andrades: Wir beobachten, dass die gemeldeten Fälle von Diskriminierung und die Beratungsanfragen in jüngster Zeit deutlich zugenommen haben. Damit setzt sich die Entwicklung der vergangenen Jahre fort. Viele BeraterInnen berichten, dass rassistische Beleidigungen und Angriffe heute offensichtlicher passieren als noch vor ein paar Jahren. In Magdeburg trauen sich rassifizierte Menschen seit dem Attentat auf dem Weihnachtsmarkt im Dezember zum Teil nicht mehr allein auf die Straße. KollegInnen vor Ort versuchen Betroffene mit Piepern auszustatten, damit diese auf sich aufmerksam machen können, wenn sie angefeindet oder angegriffen werden. Dass wir solche Maßnahmen brauchen, um Menschen vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen, macht mich sprachlos.
taz: Welche Möglichkeiten haben Betroffene darüber hinaus, um sich gegen Diskriminierung zu wehren?
Andrades: Grundsätzlich – das wissen viele Betroffene gar nicht – gilt: Diskriminierung ist verboten. Das regeln der Artikel 3 des Grundgesetzes und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Wer Diskriminierung erfährt, hat also Rechte. Die Beratenden in unseren Mitgliedsorganisationen klären Betroffene über diese auf und überlegen mit ihnen gemeinsam, welche weiteren, auch rechtlichen Schritte möglich sind.
taz: Angenommen, ich werde in der Bahn rassistisch beschimpft. Was kann ich ganz konkret in der Situation tun?
Andrades: Das kommt immer auf den Einzelfall an, und so eine rassistische Anfeindung bringt viele Betroffene in einen emotionalen Ausnahmezustand. Von ihnen zu erwarten, dass sie immer angemessen reagieren, wäre also nicht fair. Als Erstes gilt, sich zu schützen und nicht in weitere Gefahr zu bringen. Außerdem ist es ratsam, Menschen in der Bahn zu fragen, ob sie die Anfeindung mitbekommen haben. So lassen sich möglicherweise ZeugInnen finden, die im Fall einer Anzeige den Vorfall bestätigen können. Dann sollte man die Polizei rufen, um den Fall anzuzeigen. Allerdings haben nicht alle Betroffenen die Nerven und die Kraft dafür, und das verstehe ich. Ich rate dazu, den Fall zumindest zu melden, damit er in der Statistik nicht untergeht.
taz: Wie kann ich helfen, wenn ich die Situation in der Straßenbahn als außenstehende Person mitbekomme?
Andrades: Leider zeigt unsere Erfahrung, dass die wenigsten in solchen Momenten Zivilcourage zeigen. Natürlich ist auch die Frage, wie gewaltbereit die Person ist, von der die Diskriminierung ausgeht. Aber grundsätzlich hilft es Betroffenen ungemein, wenn sie Solidarität erfahren, indem man ihnen sagt: Ich habe gesehen, was passiert ist, das war nicht okay. Ich halte zu dir und kann dich unterstützen. Wenn möglich, sollte man bei der betroffenen Person bleiben, bis die Polizei kommt, damit sie nicht allein ist.
taz: Wie kann ich FreundInnen oder Verwandte unterstützen, die von Diskriminierung betroffen sind?
Andrades: Das Wichtigste: Zuhören, ernst nehmen und den Vorfall nicht relativieren. Für Außenstehende ist es vielleicht nur ein Einzelfall, aber für Betroffene reiht sich dieser oft ein in eine lange Kette von Diskriminierungserfahrungen, die irgendwann zu einer großen Last wird. Im Fokus sollte immer die betroffene Person mit ihren Bedürfnissen stehen. Was braucht sie gerade am dringendsten, um mit der Situation fertigzuwerden, und wie kann ich dabei helfen? Es geht um emotionale Unterstützung und nicht darum, alle Fristen und Hilfsadressen im Kopf zu haben. Stattdessen kann man zum Beispiel auf der Suche nach einer Beratungsstelle in der Nähe helfen und beim ersten Termin mitgehen. Im Fall von Diskriminierung am Arbeitsplatz kann ich unterstützen, indem ich mich als ZeugIn zur Verfügung stelle, wenn ich etwas mitbekommen habe.
taz: Nicht immer reicht der Mut, um sich mit seinem Chef oder seiner Chefin anzulegen, weil man im Job Diskriminierung erfährt.
Eva Maria Andrades
ist Geschäftsführerin des Antidiskriminierungsverbands Deutschland (advd). Ihm gehören rund 35 Organisationen an, die sich gegen Diskriminierung einsetzen.
Andrades: Das stimmt, und an diesem Machtverhältnis können auch wir erst einmal nichts ändern. Wir motivieren dennoch alle Betroffenen, sich trotzdem zu melden. In der Beratung kann man gemeinsam schauen, ob es Beweise für die Diskriminierung gibt, Verbündete im Team oder eine Beschwerdestelle im Unternehmen, an die man sich wenden kann. Viele Menschen trauen sich das nicht und melden sich erst, wenn sie innerlich schon abgeschlossen haben mit ihrem Job. Damit es erst gar nicht so weit kommt, brauchen wir in Deutschland einen besseren arbeitsrechtlichen Schutz vor Diskriminierung, mehr Beschwerdestellen in Unternehmen, an die sich Betroffene wenden können, und mehr Prävention, damit Unternehmen sensibler für das Thema Diskriminierung werden. Da haben wir noch einen langen Weg vor uns – wenn auch in den letzten 20 Jahren schon viel passiert ist in Sachen Antidiskriminierung.
taz: Bis heute meldet sich nur ein Bruchteil der von Diskriminierung Betroffenen in den Beratungsstellen. Warum ist das so und wie lässt sich das ändern?
Andrades: Nicht selten spielt sicher ein Gewöhnungseffekt eine Rolle. Wenn ich ein Leben lang die gleichen rassistischen Erfahrungen mache, immer wieder Ausschluss erlebe, nehme ich das irgendwann als Teil meines Alltags hin – so schmerzlich dieser auch ist. Häufig melden sich Betroffene erst, wenn die Diskriminierung mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden ist, wenn Gewalt oder der Verlust der Wohnung droht. Wir wissen auch, dass der Gang zur Beratungsstelle immer noch mit zu vielen Hürden verbunden ist. Weil Menschen gar nicht wissen, dass es Hilfsadressen gibt, oder es ihnen an Zeit und Energie fehlt oder am Vertrauen darauf, dass sie in der Beratung ernst genommen werden und diese auch etwas bewirken kann.
taz: Um marginalisierten Menschen besser helfen zu können, pocht Ihr Verband auf eine Reform des AGG, des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, die die Ampelkoalition verschlafen hat. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Reform mit der nächsten Bundesregierung kommt?
Andrades: Sagen wir so: Für Konservative hat das Thema keine besondere Priorität. Dabei ist eine Reform des 18 Jahre alten AGG dringend notwendig. Denn aktuell deckt es nur den Privat- und Dienstleistungsbereich ab. Erfahre ich bei der Polizei oder im Jobcenter Diskriminierung, greift das Gesetz nicht. Ein weiteres Problem ist, dass Betroffene ihre Rechte laut aktuellem AGG innerhalb von zwei Monaten nach dem Diskriminierungsfall geltend machen müssen, und diese Frist ist aus unserer Sicht viel zu kurz. Darüber hinaus müssen Betroffene selber klagen, wenn sie rechtliche Schritte gehen wollen. Vielen fehlen dafür Zeit, Energie und Geld. Daher fordern wir in einem neuen AGG ein Klagerecht für Antidiskriminierungsverbände, damit die Betroffenen diesen Weg nicht allein gehen müssen.
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