: Mit der Macht der Geschichte
Beim Autobauer VW war man immer stolz darauf, dass Krisen mit der Belegschaft gemeinsam gemeistert werden. Kann das wieder gelingen?
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Aus Wolfsburg Thomas Gerlach
So eine Krise hatte die VW-Stadt Wolfsburg noch nie erlebt: Der „Käfer“, das Erfolgsmodell, war veraltet, neue Prototypen floppten, die Personalkosten stiegen unaufhörlich, dazu kam die Ölkrise. 1974 geschah dann das Unvermeidliche: VW musste zehntausende Beschäftigte entlassen. „Und das ganz leise, ohne irgendwelchen Krach“, erinnert sich Alt-Gewerkschafter Ernst Lieske und es schwingt Stolz mit, wie geschickt VW damals dem Abgrund entkam. Das Novum: Wer den Aufhebungsvertrag unterschrieb, bekam eine Abfindung. Insgesamt wurden bis März 1975 über 32.000 Stellen abgebaut.
Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung, auf diese Formel wird der „Geist von Wolfsburg“ oft gebracht. Er schwebt über der Stadt wie der Dampf, der drüben vom VW-Kraftwerk aufsteigt. Was anderswo Unternehmen wanken lässt, räumen Vorstand und Betriebsrat ab, und sie tun es gemeinsam.
Nach der Krise erreichte der Konzern 1974 mit dem Golf schnell wieder neue Höhen. Lieske hat das Modell mitentwickelt. Der schlanke Herr mit dem schmalen Oberlippenbart, Jahrgang 1947, sitzt heute wie ein Kapitän im Konferenzraum der IG Metall Wolfsburg. Er hält ein wenig Distanz zu der Handvoll Senioren ringsum, doch nicht aus Dünkel. Lieske laboriert noch an einer Erkältung, trotzdem ist er gekommen. Sie wollen über die Krise reden und unbedingt über den Geist, der Stadt und Werk verbindet.
Lieske, Arbeiter, Metaller und Unternehmensvertreter in einem, ist so etwas wie die Inkarnation dieses Geistes. Er kam in den 50er Jahren als Flüchtlingskind aus der DDR und hauste in einer der Baracken, aus denen die Stadt Wolfsburg damals bestand. Lieske hat Autoschlosser gelernt, hat sich zum Meister hochgearbeitet, war in der Entwicklungsabteilung des Unternehmens und wirkte später aufseiten des Vorstandes an Tarifrunden mit.
Wolfsburg ist wie keine andere Stadt Sinnbild für den Standort Deutschland, und VW ist das Symbol der Wirtschaftswunderjahre und des Wiederaufstiegs. Das weiß auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Am 17. Januar kam er zu seiner ersten „Highlight“-Veranstaltung, so bewirbt der SPD-Wahlkampfstab dieses Event, in die Stadt, rief: „Hallo Wolfsburg!“, und bekräftigte, dass bei dieser Wahl auch entschieden werde, „wie es weitergeht mit Arbeit und Beschäftigung!“ Die Stadthalle war gut gefüllt.
Das Gewerkschaftshaus der IG Metall, in dem Lieske und seine Mitstreiter sitzen, ist ein gläserner Bau mit Außenbildschirm in Richtung der VW-Konzernzentrale und der Botschaft: „Wir halten zusammen“. Die Senioren praktizieren das seit Jahrzehnten. Sie haben für VW die Rücken krumm gemacht, sie sind im Konzern aufgestiegen, und können auch als Rentner nicht lassen von VW. Die einen sind im Freundeskreis des VW-Museums, andere sind in der Seniorenvertretung der IG Metall, wieder andere bei den Christen bei VW. Anfang Dezember haben sie für ein Ende der Krise gebetet. Man kann sagen, mit Erfolg. Der Tarifvertrag, der vor Weihnachten unterzeichnet wurde, da sind sich alle einig, war, ähnlich wie der Abfindungs-Coup 1974, wieder ein Kunststück. Ernst Lieske hatte den Kompromiss schon Tage früher prophezeit. Wie Verhandlungen bei VW enden, das hat so ein alter Kämpe wie er wohl im Blut.
Oliver Blume hat das eher nicht. Blume, seit Herbst 2022 VW-Vorstandschef, hatte im September angesichts schwacher Umsätze, schleppender Verkäufe und Überkapazitäten bei der Kernmarke VW gleich mehrere Tarifverträge gekündigt und eine „Giftliste“ präsentiert, in der er Lohnkürzungen um zehn Prozent, Entlassungen und Standortschließungen androhte. Und das ohne Rücksprache mit dem Betriebsrat, ein Affront. Blume, ein Braunschweiger, hat damit so ziemlich alles ruiniert, was bei VW bisher so sorgfältig austariert war.
Viel erreicht hat Blume nicht. Betriebsratsvorsitzende Daniela Cavallo, die einzige Frau in dieser Welt voller Egos, hat einen „super Job“ gemacht, findet Karl-Heinz, „Kalle“, Forytta. Und er zählt auf: Keine Werksschließungen, keine Entlassungen, keine Einschnitte beim Tariflohn, und auch die Boni und Tariferhöhungen sind nicht weg, sondern fließen in einen Zukunfts-Fonds und können als Notgroschen dienen, falls die Krise 2030 nicht vorbei ist.
„Richtig fies ist es nicht geworden“, fasst Siebert Kloster zusammen. Kloster, Jeans, kariertes Hemd, Kumpeltyp, zugewandt. Er ist, wie alle hier, sofort beim Du. „Hier wird einfach eine andere Art der Arbeitnehmervertretung gelebt“, sagt Kloster, der Vorsitzender in der Seniorenvertretung der IG Metall ist. „Die Volkswirtschaft spielt hier noch genau dieselbe Rolle wie die Betriebswirtschaft, weil der Geist da ist, dass Beschäftigung gehalten wird, hier und an den anderen deutschen Standorten.“ Der Grund für diese Einmaligkeit ist das VW-Gesetz von 1960. Es garantiert dem Betriebsrat und dem Land Niedersachsen im 20-köpfigen Aufsichtsrat eine Mehrheit. Wolfsburg scheint für Gewerkschafter ein Leitstern zu sein.
Denn „jeder Stein da drüben“, Kalle Forytta deutet Richtung VW-Werk, sei von den Arbeitern bezahlt worden. Was nun folgt, ist ein historischer Exkurs, ohne den vieles hier ein Mysterium bliebe. Der Vorläufer von VW, das KdF-Werk, das Hitler ab 1938 errichten ließ, wurde auch mit dem Vermögen der Gewerkschaften finanziert, die 1933 verboten wurden. Das Geld kam der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) zugute, dem NS-Einheitsverband aller Arbeiter. Kurzum – im VW-Werk steckt jede Menge geraubtes Gewerkschaftsgeld. „Das darf man nicht vergessen!“, findet Forytta.
Die Nazi-Idee: Am 26. Mai 1938 wird der Grundstein für das Volkswagenwerk gelegt, das den von Ferdinand Porsche entwickelten KdF-Wagen („Kraft durch Freude“) produzieren soll. Bis 1945 wurden Rüstungsgüter produziert.
Der VW-Konzern: Im Mai 1945 wird die Siedlung in Wolfsburg umbenannt, im Juli beginnt die Produktion des KdF-Wagens als Volkswagen („Käfer“). 1949 geht VW an das Land Niedersachsen.1960 beschließt der Bundestag, VW in eine AG umzuwandeln. Das VW-Gesetz regelt, dass kein Anteilseigner mehr als 20 Prozent Stimmrechte ausüben darf. Das Land Niedersachsen und Arbeitnehmervertreter halten im Aufsichtsrat 11 von 20 Sitzen.
Die Expansion: VW eröffnete weltweit Werke, unter anderem in Brasilien, Mexiko, USA, China. Hersteller wie Audi und Porsche werden übernommen. 2024 ist VW mit gut 9 Millionen produzierten Einheiten nach Toyota der zweitgrößte Hersteller der Welt mit 684.000 Beschäftigten. Der Umsatz betrug 2023 322 Milliarden Euro.
Die Eigentümer: Größter Anteilseigner mit 31,3 Prozent ist die Porsche Automobil Holding SE im Besitz der Familien Porsche/Piëch. Niedersachsen hält 11,8 Prozent. (thg)
Im Mai 1938 reiste Hitler an und ließ sich zur Grundsteinlegung im KdF-Wagen chauffieren. KdF – „Kraft durch Freude“ – war eine der DAF-Untergliederungen, die „Volksgenossen“ bei Laune halten sollte, sie in den Urlaub schickte und den KdF-Wagen versprach: keine Luxuskarosse, sondern ein bezahlbarer „deutscher Volkswagen“. Das erste VW-Logo, Urbild aller späteren, war von einem stilisierten Hakenkreuz bekränzt. Im KdF-Werk, wo etwa 20.000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge schufteten, liefen dann leichte Geländewagen, sogenannte Kübelwagen, und die „Wunderwaffe“ V1 vom Band, bis 1945 die Amerikaner vor dem Werk standen. Werksleiter Anton Piëch und sein Schwiegervater Ferdinand Porsche, beide NSDAP-Mitglieder, die immer wieder Zwangsarbeiter heranschaffen ließen, seien damals stiften gegangen, schimpft Forytta, und sie hätten dabei zehn Millionen Reichsmark eingesteckt.
Später sei damit die Porsche Austria gegründet worden. „Das geht bis zur Porsche Automobil Holding SE“, dem DAX-Unternehmen. Es gehört dem Porsche/Piëch-Clan, ist größter VW-Anteilseigner und eine Geldmaschine. Im Juni 2024 hat der VW-Konzern 4,5 Milliarden Euro Dividende ausgeschüttet und 2023 eine Sonderzahlung von 9,5 Milliarden Euro. Kurzum, die „Familie“, so nennen sie den Clan hier, lebt gut von VW.
Als ab 1945 die Arbeiter Porsches KdF-Wagen, inzwischen zum „Käfer“ verwandelt, montierten, kassierte die „Familie“ pro Auto fünf Mark Lizenzgebühr von VW. Das macht bei 21 Millionen „Käfer“, die produziert wurden, einen gehörigen Batzen Geld. „Kalle“ hat sich in Rage geredet, und der Hoodie, den er trägt, gibt ihm etwas Robustes. Ein „Käfer“ von 1949 steht hier im Foyer des Werks. Die Männer werden ihn gleich streicheln, wenn sie sich zum Foto versammeln.
Benjamin Stern ist SPD-Direktkandidat des Wahlkreises Helmstedt-Wolfsburg. In eine Steppjacke gehüllt klingelt er im laufenden Haustürwahlkampf in langen Fluren an jeder Tür. „Hallo, Benjamin Stern, ich bin der SPD-Kandidat für die Bundestagswahl. Ich wollt mich einfach mal vorstellen.“ Stern surrt seine Begrüßung runter. „Hier ein Flyer …“ – „Bei einem anderen Kandidaten würde ich SPD wählen“, entgegnet der Mann. Nein, er meine nicht Stern, aber den Scholz! An der nächsten Tür läuft’s besser. „Wir sind SPD-Wähler“, ruft es aus der Wohnung. „Ja, sehr schön“, echot Stern. Der Rest ist Lachen.
Insgesamt hat Stern einen Lauf in Detmerode, einer Neubausiedlung im Südwesten der Stadt. Detmerode ist im Kleinen, was Wolfsburg im Großen ist: Eine Reißbrettstadt mit Wohnhochhäusern, Magistrale und einem Stadtteilzentrum mit schneeweißem Kirchenbau, entworfen vom Finnen Alvar Aalto, kurzum: Ein Versprechen auf eine lichte Zukunft. Und natürlich lebt so ziemlich jeder von VW, auch Stern, Jahrgang 1981. Als gelernter Koch kam er zu VW Group Services, einem Personaldienstleister. Seit 2018 ist er Betriebsratschef.
Wolfsburg ist SPD-Land. Aber eine Hochburg, nein, das weist Stern zurück. Die Stadt mit ihren 127.000 Einwohnern habe einen CDU-Oberbürgermeister und der Wahlkreis 51 reiche tief ins Umland, wo andere Themen dominierten wie Nahverkehr, Internetversorgung, Agrarpolitik. Auf 17 Prozent ist die AfD bei der Europawahl im Juni 2024 dort gekommen.
Klinkenputzen ist beschwerlich, aber spannend. „So kriegt man die Stimmung mit.“ Welche? „Es ist erschreckend, wie ich bei vielen die Angst in den Augen sehe, vor Krieg, vor Rechtsruck.“ Auch die Coronamaßnahmen sind noch Thema. „Der Tarifkompromiss bei VW, der hilft uns“, sagt Stern. „Das es weitergeht, ist beruhigend, und dass es keine Standortschließungen gibt, auch, und die SPD hat sich sehr schnell zu VW bekannt.“
Später, an einer Hausecke, fasst Stern zusammen: Strompreis deckeln, Schuldenbremse lockern, Bürokratie abbauen. „Wolfsburg ist bekannt für Fahrzeuge. Wir stehen für gute Wertarbeit und da wollen wir wieder hin.“ Die Medaille habe aber eben zwei Seiten, die Sichtweise des Kapitals und die der Beschäftigten. Erst zusammen ergibt das die Sozialpartnerschaft, auf die VW so stolz ist. „Das ist sehr stark verloren gegangen.“
Am nächsten Morgen jagen Schneeschauer über Detmerode. Axel Bosse, Wollmütze auf dem Kopf, steht auf dem Markt, eine Ladenstraße, die ihren Anfang bei der Kirche von Alvar Aalto nimmt. Und bei Bäcker Leifert. Dort hinein führt Bosse. Eigentlich müsste es eine Kneipe sein, Bosse ist Kenner der Wolfsburger Kneipenszene. Vor Kurzem hat er ein Buch darüber veröffentlicht, „Wolfsburg Kneipengeschichten. Zwischen Tiffany und Hühner-Rudi“.
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Doch Bosse kennt nicht nur die Tresen, er korrigiert auch manch allzu milde Erinnerung. So still und leise lief es nicht beim Stellenabbau 1974. „Die Ersten, die gingen, waren Italiener“, sagt er. Viele der „Gastarbeiter nahmen die Abfindung und kehrten in ihre Heimat zurück. Andere jedoch blieben. „Es ist kein Zufall, dass 1974 die ersten Pizzerien eröffnet wurden.“ Es traf aber nicht nur Italiener, sondern auch Frauen: „Doppelverdiener“ war das Stichwort, mit dem arbeitende Ehefrauen aus dem Werk gedrängt wurden. „Auch Frauen haben die 10.000 Mark genommen und eine Kneipe aufgemacht.“
Bosse hat auch eine VW-Biografie, doch eine krumme. Mit 15, als Maschinenbaulehrling, war Bosse in der alternativen Lehrlingsbewegung aktiv, die im maoistischen KBW aufging, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland. Die IG Metall schmiss ihn raus. Die Karriere bei VW war vorbei. Im zweiten Anlauf hat es dann geklappt. Der vom Maoismus geläuterte Bosse wurde wieder in die IG Metall aufgenommen und hat als VW-Ingenieur Roboter konstruiert, den „Lupo“, das Dreiliterauto, mitentwickelt und kann über die Anfänge der E-Autos berichten. Bosse hat unter vier Vorstandsvorsitzenden gearbeitet, hat Krisen kommen und wieder gehen sehen und Einblick erhalten in die Wolfburger Hofhaltung, die so gar nicht passen wollen zu der hochgehaltenen Mitbestimmung.
Bosse hat den beschworenen „Geist von Wolfsburg“ ganz anders kennengelernt. Er hat die Machtfülle erlebt, aus der Vorstände, Abteilungsleiter und Betriebsräte schöpften. Es ging um Statusfragen, wer etwa aufs Werkgelände fahren darf, um Ehrendoktorwürden, Verdienstorden. Vor allem aber hat Bosse gesehen, wie aus Sozialpartnern Kumpane wurden, aus Betriebsräten „Co-Manager“. Und es ging nicht nur um Eitelkeiten, sondern um Korruption, um Untreue, „Sexpartys“ und um viel Geld. 2005 flog der Spuk auf. Die Justiz verurteilte ehemalige Manager und Betriebsräte zu Geld- und Bewährungsstrafen, und der Betriebsratsvorsitzende musste für fast zwei Jahre hinter Gitter.
Vorbei war die Hybris aber nicht. „Wo ich hingucke, wächst Gras!“ Diese Selbstherrlichkeit stammt von Martin Winterkorn. Unter diesem Vorstandschef erlebte VW den totalen Absturz. Im September 2015 deckte die US-Umweltbehörde Manipulationen auf, mit denen VW die Abgaswerte von Dieselautos auf Prüfständen drückte. Elf Millionen Fahrzeuge waren betroffen. Der Nimbus von VW, deutsche Ingenieurskunst gepaart mit tadellosem Berufsethos, war zerstört.
Bisher hat VW 32 Milliarden Euro an Bußgeldern und Wiedergutmachung gezahlt. Die strafrechtliche Aufarbeitung zieht sich. Im September 2024 hat in Braunschweig der Prozess gegen Winterkorn begonnen, doch die 89 angesetzten Termine verzögern sich. Winterkorn macht gesundheitliche Gründe geltend.
Kriegt der Autobauer auch in der aktuellen Krise wieder die Kurve? „Bisher hat es VW immer geschafft“, sagt Bosse. Er konstatiert eine gewisse Zockermentalität. „Manchmal haben sie alles auf eine Karte gesetzt, etwa 1974 beim Golf.“ Dann klingt auch Skepsis durch. In früheren Krisen habe VW die Zulieferer kujoniert, hat die Viertagewoche ohne Lohnausgleich durchgesetzt. Doch inzwischen sind viele Zulieferer in Konzernen aufgegangen, die über eine eigene Marktmacht verfügen. Und der Bau von E-Autos erfordert perspektivisch deutlich weniger Personal.
Apropos E-Autos. Möglicherweise war es Porsche-Enkel Ferdinand Piëch, der Anfang der 90er eine fatale Entscheidung traf. VW steckte mal wieder in einer Krise, das Geld wurde knapp, neue Modelle mussten her. „Wir waren in der Konzernforschung in der Diskussion, Konzepte zu entwickeln für die Innenstadt“, erzählt Bosse. Schon 1991 gab es einen Lichtblick, als VW mit dem „Chico“ ein Stadtauto mit Hybridantrieb präsentiert. Außerdem sollten sich auf Rügen umgebaute E-Golfs im Alltagstest beweisen. „Und dann war die Frage: Was machen wir? Das Dreiliterauto oder Elektro? Geld war nur für eine Entwicklungsrichtung vorhanden.“ Piëch entschied sich für den „Lupo“ mit Dieselantrieb. Das erste E-Auto von VW kam dann erst 2013.
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Bosse, Jahrgang 1952, ist bei VW raus. Nach seinem Ausflug zum KBW trat er den Grünen bei. Beliebter machte sich Bosse dadurch nicht. „U-Bahnen und die Grünen sind die Hauptfeinde der Autoindustrie“, zitiert er genüsslich eine Broschüre, die im VW-Management kursierte.
Sehr zur Überraschung von Bosse selbst wurde er im November 2024 zum Ortsbürgermeister von Detmerode gewählt, einem Stadtteil, der in die Jahre gekommen ist: sanierungsbedürftige Wohnhäuser, Überalterung, Bevölkerungsrückgang. Wo einst 15.000 Menschen lebten, wohnen noch 7.500. Die Aufgaben sind groß, die Finanzen dürftig, Gewerbesteuereinnahmen rückläufig. Auf VW sollte sich keiner mehr verlassen. Die Strafzahlungen aus dem „Dieselgate“ drücken Gewinn und Gewerbesteuer. Es schneit, als Bosse in die Alvar-Aalto-Kirche führt, ein evangelisches Gemeindezentrum, außen eher langweilig und kühl, innen ein erstaunlich warmes Ambiente. Es könnte die Beschreibung für den VW-Style sein.
Vollständig wird das Bild auf dem Klieversberg. Die Männer von der IG Metall und auch Bosse haben empfohlen, die Anhöhe zu besuchen, wo die Porschehütte steht, eine blechgedeckte Baracke. In solchen Buden lebten KdF-Arbeiter, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, später Vertriebene, Kriegsflüchtlinge, Glücksritter.
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In besserer Ausstattung logierte hier Ferdinand Porsche, wenn er im KdF-Werk zu tun hatte, das Schwiegersohn Anton Piëch leitete. Dessen Sohn wiederum, ebenfalls ein Ferdinand, verbrachte als Fünfjähriger 1942 hier die Sommerferien. Als VW-Chef habe sich Ferdinand Piëch, so erzählten es die Männer, oft hierher zurückgezogen. Über einer Wiese öffnet sich der Blick auf die Stadt, auf das Schloss Wolfsburg, das der KdF-Gründung 1945 den Namen gab, und auf das VW-Werk, wo über 61.000 Menschen arbeiten, jahrzehntelang die größte Fabrik der Welt. Erst 2022 zog die Tesla-Gigafactory in Texas vorbei.
Auf einer Betriebsversammlung Anfang Februar demonstrierten VW-Markenvorstand Thomas Schäfer und Betriebsratschefin Daniela Cavallo nach den Kämpfen im Herbst neue Eintracht. Schäfer präsentierte Studien für ein neues E-Auto, das schon ab 2027 in Wolfsburg vom Band laufen soll, klein, preiswert und solide. Immerhin, die deutschen Verkaufszahlen für alle ID-Modelle ziehen an, VW lässt damit Konkurrent Tesla hinter sich. Das dürfte sich mit den Einstiegsmodellen fortsetzen.
Es bleiben enorme Risiken: So treffen die US-Strafzölle VW besonders. Es betreibt ein Werk in Mexiko und muss zudem die Oberklassenmodelle von Audi und Porsche, die sie in den USA verkaufen, aus Europa einführen. Deren Absatzzahlen sind schon eingebrochen, Marktanteile in China bröckeln, und die deutsche Wirtschaft schrumpft weiter. Nach den Einschnitten für die Belegschaft fordert Betriebsratsvorsitzende Cavallo nun, dass auch Vorstand und Aktionäre ihren Beitrag leisten, damit auch die „Familie“.
Besonders einladend ist die Porschehütte nicht, die Baracke ist verschlossen. Doch wer im VW-Vorstand ist, sollte den Hügel besuchen und seinen Blick auf die Stadtlandschaft schweifen lassen. Nicht, weil hier oben Ferdinand Porsche weilte. Man kann in einem Augenblick erfassen, worum es bei VW immer geht: Es geht um Macht – und um Verantwortung.
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