: Roter Rettungsschirm im Gegenwind
Sören Pellmann kämpft mit Tausenden Plakaten, um das Direktmandat für die Linke in Leipzig zu verteidigen. Doch ein neuer Kandidat könnte ihm gefährlich werden
Aus Leipzig David Muschenich
Anfang Januar türmen sich im Linke-Büro im Leipziger Stadtbezirk Grünau Kartons. Auf den Tischen liegen Sticker und Flyer verstreut. Der Wahlkampf ist in vollem Gange, doch für Sören Pellmann hat er eigentlich nie aufgehört. Auch nach seinem Sieg bei der Bundestagswahl 2021 stellte er regelmäßig Infostände in seinem Wahlkreis auf und verteilte Flyer.
Bevor es an diesem Mittag zum nächsten Infostand in Grünau geht, sitzt Sören Pellmann tief in die Polster seines roten Sofas im Wahlkreisbüro gesunken, das linke Bein über das rechte geschlagen und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Wenn er von der Linken spricht, dann geht es ihm hörbar um mehr als nur eine Partei.
Als er zu seinem 16. Geburtstag eintrat, habe er politisches Denken als „Kümmerer“ gelernt. Heute, 32 Jahre später, nennt er die Linke „so etwas wie eine Familie“. Auch alle leiblichen Familienmitglieder seien in der Linken, erzählt er. Schon sein Vater, Dieter Pellmann, war Abgeordneter der PDS und später der Linken im sächsischen Landtag
Auch im laufenden Bundestagswahlkampf setzt die Partei große Hoffnungen in den Namen Pellmann. Als Sören Pellmann das erste Mal als Direktkandidat in Leipzig antrat, 2017, gewann er mit 25,3 Prozent und weniger als 1 Prozent Vorsprung gegen den CDU-Kandidaten Thomas Feist. 2021 bekam er 22,8 Prozent der Stimmen, lag dafür aber mit mehr als 4 Prozent deutlicher vor der Zweitplatzierten, Paula Piechotta (Grüne).
Auch dieses Mal will Pellmann das Direktmandat – vermutlich braucht es die Linke dringend. Ihre Umfragewerte dümpeln seit über einem Jahr bei 5 Prozent oder darunter. Im aktuellen Wahlkampf versucht sie sich deshalb abzusichern mit der „Mission Silberlocke“: prominenten Direktkandidaten im Rentenalter. Bodo Ramelow, Gregor Gysi und Dietmar Bartsch werben mit flotten Sprüchen und breitem Lächeln dafür, die Linke zu „retten“. Drei Direktmandate sichern einer Partei den Einzug in den Bundestag, selbst wenn sie an der Fünfprozenthürde scheitert.
2021 war Pellmann einer der drei Direktkandidat:innen, die der Linken den Wiedereinzug ins Parlament ermöglichten. Ob das diesmal gelingt, bleibt ungewiss. Dietmar Bartsch etwa lag im seinem Wahlkreis in Rostock 2021 neun Prozentpunkte hinter der SPD-Siegerin. Und in Leipzig könnte ausgerechnet ein früheres Parteimitglied Pellmann gefährlich werden: Eric Recke, Sozialarbeiter und Kandidat des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW).
„Ich empfinde die Kandidatur als Provokation“, sagt Pellmann mit zusammengebissenen Zähnen. Das BSW habe keine Chance, das Direktmandat im Leipziger Süden zu gewinnen, glaubt der Gruppenvorsitzende der Linken im Bundestag. Doch jede Stimme zählt, und weil das BSW im vergangenen Jahr vor allem Wähler:innen der Linken von sich überzeugt hat, könnte die Kandidatur von Recke in diesem Jahr Pellmann den Sieg kosten.
Pellmann wuchs in Grünau auf, einer der größten DDR-Plattenbausiedlungen. Vor dem Linke-Büro hört man ausgelassene Kinderstimmen, es klingt ein bisschen nach Freibad. Sie schallen herüber von dem Gymnasium, das auch Pellmann besuchte. Später arbeitete er selbst als Lehrer.
Warum die Linke so schlecht dasteht, versteht Pellmann nicht ganz. „Aber es tut weh“, sagt er. Nach der Abspaltung Wagenknechts sei der ständige persönliche Streit eigentlich vorbei. Doch der Stimmenzuwachs blieb zunächst aus, obwohl die Mitgliederzahl 2022 von 50.000 auf 60.000 stieg. In Leipzig kamen rund 1.000 neue Mitglieder hinzu, berichtet der Stadtverband.
In Berlin galt Pellmann bis zur Wahl 2021 als unauffälliger Hinterbänkler, der mehr Zeit im Wahlkreis als im Parlament verbrachte. Er ist bis heute stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linken im Leipziger Stadtrat. Nach seinem Wahlerfolg 2021 strebte er den Fraktionsvorsitz im Bundestag und den Bundesvorsitz der Partei an – beides ohne Erfolg.
2024, nach der Gründung des BSW und der Umwandlung der Linksfraktion zur Gruppe, wurde Pellmann deren Co-Vorsitzender. Dass er selbst nicht zum BSW wechselte, überraschte manche Beobachter:innen. Am 27. Februar 2022, drei Tage nach Russlands Invasion in die Ukraine, unterzeichnete er mit Wagenknecht und anderen eine Erklärung. Darin verurteilten sie den Angriff, forderten einen Waffenstillstand und den Rückzug russischer Truppen. Außerdem warnten sie vor einer Aufrüstung und gaben den USA eine Mitverantwortung für die Situation. Alle Mitunterzeichner:innen wechselten später zum BSW – außer Pellmann.
Auf dem roten Sofa in Grünau räumt Pellmann fast drei Jahre später mit ruhiger Stimme ein: „Ich habe die Erklärung damals nicht im Detail gelesen. Ich würde sie heute so nicht wieder unterschreiben.“ Gegen Waffenlieferungen für die Ukraine bleibt er, denn sie brächten keinen Frieden. Klar sei aber auch, dass die russische Seite „derzeit wenig Interesse“ an Frieden habe.
Ein Wechsel zum BSW sei für ihn nie eine Option gewesen. „Eine andere Partei als die Linke kann ich mir nicht vorstellen“, sagt er. Mit einem Harte-Kante-Zeigen gegen das Bündnis habe sich Pellmann trotzdem zurückgehalten. Doch wenn es nun gezielt die Erfolg versprechenden Wahlkreise der Linken angreife, „werde ich diesen Schongang nicht mehr halten können“.
Selten sind die Ärmsten so diffamiert worden, selten war der Wohlstand so ungleich verteilt. Die taz begibt sich auf die Suche nach dem sozialen Gewissen des Landes. Alle Texte zum Thema finden Sie hier:
Einen Tag nachdem Pellmann das sagt, meldet die Leipziger Volkszeitung, dass Eric Recke für das BSW in Leipzig Süd antritt. Insgesamt hat das BSW nur in sieben von 16 sächsischen Wahlkreisen Kandidat:innen aufgestellt. Die Strukturen seien noch nicht so ausgeprägt, heißt es von der Landesspitze. Recke, der keine Zeit für ein Treffen mit der taz hatte, erklärt per Mail, er wolle in den Bundestag, weil sich nur dort „unsere Beteiligung an den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten beenden“ lasse. Unter Willy Brandt sei die Bundesrepublik Mittlerin zwischen den Völkern gewesen. „Das wünsche ich mir wieder.“
Recke war früher Mitglied der Linken, davor bei der Jungen Union. Seit der Kommunalwahl 2022 führt er die BSW-Fraktion im Leipziger Stadtrat. Ob er Pellmanns Sieg gezielt verhindern wolle? „Ich vertrete die Positionen meiner Partei“, antwortet er.
Während der Wahltermin näherrückt, hängen immer mehr Plakate an den Laternen, obwohl viele wieder abgerissen werden. Im Leipziger Süden dominiert die Linke das Erscheinungsbild. Pellmann plant mit 15.000 Plakaten, viel hilft viel. Ein Bildmotiv setzt sich aus drei Plakaten zusammen: Das obere zeigt Pellmanns Gesicht, das mittlere seinen Torso, das untere seine Füße. So hängt er in Lebensgröße neben der Straße. Hinzu kämen 50 Großflächenplakate und 50 Litfaßsäulen. „Die doppelte Anzahl im Vergleich zu 2021“, sagt der Linke und klingt dabei ein bisschen stolz.
Das BSW wirbt laut der Regionalleitung der Partei in ganz Leipzig mit rund 1.000 Plakaten. Das Budget sei klein, bestätigt Recke. Wie Pellmann seinen großzügigen Wahlkampf finanziert, bleibt ein Thema. 2022 ließ er eine Spiegel-Anfrage unbeantwortet.
Sören Pellmann über das Bündnis Sahra Wagenknecht, das in Leipzig mit einem Direktkandidaten gegen die Linke antritt
Ein Anwalt habe ihm dazu geraten, erklärt er nun der taz. Es seien 25 Fragen gewesen, die seinen letzten Aufenthalt in Russland und gezielt bestimmte Firmen angesprochen hätten, „von denen ich noch nie gehört hatte“, sagt Pellmann. Damals wie heute habe er ein Budget von etwa 100.000 Euro. Von der Partei komme etwa die Hälfte. Die andere Hälfte stamme privat von ihm oder von Unterstützer:innen. „2021 waren es 195 Spenderinnen und Spender, die zwischen 5 Euro und 1.000 Euro gegeben haben, alle mit Wohnsitz in Deutschland“, versichert Pellmann.
Der Jahresabschlussbericht des Stadtverbands von 2021 bestätigt die Dimensionen. Er liegt der taz vor. Von den etwa 141.000 Euro für den Wahlkampf in Leipzig waren 86.000 Euro ausschließlich für Pellmanns Wahlkreis im Süden vorgesehen, 10.000 Euro für seine Parteikollegin Nina Treu im Wahlkreis Leipzig Nord und 44.000 Euro für das gesamte Stadtgebiet.
Kurz nach diesem Gespräch bricht Pellmann auf. Um 14 Uhr steht ein Infostand nördlich des Allee-Centers an, 500 Meter von seinem Büro entfernt. Pellmann stellt sich vor ein Lastenrad und verteilt rote Tütchen mit Stickern und Flyern für einen Mietendeckel. Er kämpft für Rentengerechtigkeit im Osten und eine Krankenversorgung für alle. Was die Wähler:innen interessiert, hänge teilweise vom Stadtteil ab, erklärt er. In der Südvorstadt sei es eher Bildung, in Grünau, wegen der anderen Lebenssituation, eher die Bezahlbarkeit des Alltags. Sein wichtigstes Anliegen bleibt die Bekämpfung von Kinderarmut.
Pellmann verteilt weiter. Im kalten Wind vor dem Allee-Center hängt der rote Sonnenschirm an seinem Fahrrad bedenklich schief.
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