Nach Suizid einer Teenagerin: Familien verklagen TikTok in Frankreich
Die Angehörigen werfen der Videoplattform vor, Jugendliche mit ihren Algorithmen gefährlichen Inhalten auszusetzen. TikTok weist den Vorwurf zurück.
Als Mistre nach dem Tod ihrer Tochter deren Mobiltelefon durchforschte, entdeckte sie Videos, die für Suizidmethoden warben, Anleitungen und Kommentare, die die Nutzer ermutigten, über „bloße Suizidversuche“ hinauszugehen.
Der Algorithmus von TikTok habe ihrer Tochter wiederholt solche Inhalte angezeigt. „Es war Gehirnwäsche“, sagt Mistre, die in Cassis in der Nähe von Marseille in Südfrankreich lebt. „Sie haben Depressionen und Selbstverletzungen normalisiert und in ein pervertiertes Gefühl der Zugehörigkeit verwandelt.“
Nun verklagen Mistre und sechs weitere Familien TikTok Frankreich. Sie werfen der Plattform vor, schädliche Inhalte nicht zu moderieren und Kinder lebensbedrohlichen Inhalten auszusetzen. Zwei der sieben Familien haben ein Kind verloren.
Haben Sie den Verdacht, an Depression zu leiden? Oder haben Sie sogar suizidale Gedanken? Andere Menschen können Ihnen helfen. Sie können sich an Familienmitglieder, Freund:innen und Bekannte wenden. Sie können sich auch professionelle oder ehrenamtliche Hilfe holen – auch anonym. Bitte suchen Sie sich Hilfe, Sie sind nicht allein. Anbei finden Sie einige Anlaufstellen.
Akute suizidale Gedanken: Rufen Sie den Notruf unter 112 an, wenn Sie akute suizidale Gedanken haben. Wenn Sie sofort behandelt werden möchten, finden Sie Hilfe bei der psychiatrischen Klinik oder beim Krisendienst.
Depression und depressive Stimmung: Holen Sie sich Hilfe durch eine Psychotherapie. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe kann Ihnen ferner Hilfe und Information zum Umgang mit Depression bieten.
Kummer: Sind Sie traurig und möchten jemanden zum Reden haben? Wollen Sie Sorgen loswerden und möchten, dass Ihnen jemand zuhört? Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr besetzt. Die Telefonnummern sind 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222. Sie können auch das schriftliche Angebot via Chat oder Mail in Anspruch nehmen.
Onlineberatung bei Suizidgedanken: Die MANO Suizidprävention bietet eine anonyme Onlineberatung an. Wenn Sie über 26 Jahre alt sind, können Sie sich auf der Webseite registrieren. Sollten Sie jünger sein, können Sie hier eine Helpmail formulieren.
Hilfsangebot für Kinder, Jugendliche und Eltern: Die Nummer gegen Kummer hat sich zum Ziel gesetzt, Kindern, Jugendlichen und Eltern zu helfen. Kinder erhalten dort Unterstützung unter der Nummer 116 111, Eltern unter 0800 111 0 550, und bei der Helpline Ukraine unter 0800 500 225 0 finden Sie auch Hilfe auf Russisch und Ukrainisch.
Hilfsangebot für Muslim:innen: Die Ehrenamtlichen des Muslimischen Seelsorgetelefons erreichen Sie anonym und vertraulich unter 030 443 509 821.
Bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention können Sie nach weiteren Seiten und Nummern suchen, die Ihrem Bedarf entsprechen.
Kind wurde schikaniert und drangsaliert
Auf Nachfrage erklärt TikTok, seine Richtlinien verböten jegliche Förderung von Suizid. Das Portal beschäftige weltweit 40.000 Sicherheitsexperten – unter ihnen Hunderte französischsprachige Moderatoren –, um gefährliche Beiträge zu entfernen. Nutzer, die nach Videos mit Suizidbezug suchen, würden an psychologische Dienste verwiesen.
Bevor sie Suizid beging, drehte Marie mehrere Videos, um ihre Entscheidung zu erklären. Sie führte verschiedene Schwierigkeiten in ihrem Leben an und zitierte einen Song der auf TikTok sehr beliebten Emo-Rap-Gruppe Suicideboys.
Ihre Mutter erklärt, ihre Tochter sei in der Schule und im Internet wiederholt schikaniert und drangsaliert worden. Zusätzlich zu der Klage haben die 51-jährige Mutter und ihr Ehemann eine Beschwerde gegen fünf von Maries Klassenkameraden und ihre frühere Oberschule eingereicht.
„Heimtückische Strategie“
Doch Mistre gibt vor allem TikTok die Schuld. Die App „in die Hände einer einfühlsamen und sensiblen Jugendlichen zu geben, die nicht weiß, was real ist und was nicht, ist wie eine tickende Bombe“. „Ihre Strategie ist heimtückisch“, sagt Mistre. „Sie locken Kinder mit depressiven Inhalten, um sie auf der Plattform zu halten.“
Wissenschaftler hätten keine eindeutige Verbindung zwischen sozialen Medien und psychischen Problemen oder seelischen Schäden hergestellt, sagt Grégoire Borst, Professor für Psychologie und kognitive Neurowissenschaften an der Universität Paris-Cité. „Es ist sehr schwierig, in diesem Bereich eine eindeutige Ursache und Wirkung nachzuweisen“, erklärt Borst. Zudem deuten ihm zufolge keine aktuellen Studien darauf hin, dass TikTok schädlicher ist als konkurrierende Apps wie Snapchat, X, Facebook oder Instagram.
Borst sagt, die meisten Teenager nutzten die sozialen Medien ohne nennenswerten Schaden. Die wirklichen Risiken liegen laut Borst bei denjenigen, die schon mit Herausforderungen wie Mobbing oder instabilen Familien konfrontiert sind. „Wenn Jugendliche sich bereits schlecht fühlen und Zeit mit verzerrten Bildern oder schädlichen sozialen Vergleichen verbringen, kann sich ihr psychischer Zustand verschlechtern“, sagt er.
Kreislauf der Verzweiflung
Die Anwältin Laure Boutron-Marmion vertritt die sieben Klägerfamilien und sagt, deren Fall beruhe auf „umfangreichen Beweisen“. Das Unternehmen könne sich nicht länger „hinter der Behauptung verstecken, dass es nicht in seiner Verantwortung liegt, weil es die Inhalte nicht erstellt“, erklärt Boutron-Marmion. In der Klage wird geltend gemacht, dass der Algorithmus von Tiktok darauf ausgelegt sei, gefährdete Nutzer aus Profitgründen in einen Kreislauf der Verzweiflung zu stürzen. Für die Familien wird eine Entschädigung gefordert.
Boutron-Marmion verweist darauf, dass die chinesische Version von TikTok, Douyin, viel strengere Inhaltskontrollen für junge Nutzer vorsehe, als sie in Frankreich gelten. Es gebe einen „Jugendmodus“, der für Nutzer unter 14 Jahren obligatorisch sei. Der beschränke die Bildschirmzeit auf 40 Minuten pro Tag und biete nur genehmigte Inhalte an. „Das beweist, dass sie Inhalte moderieren können, wenn sie es wollen.“
Ein Bericht mit dem Titel „Kinder und Bildschirme“, den der französische Präsident Emmanuel Macron im April in Auftrag gab und zu dem Professor Borst beigetragen hat, kam zu dem Schluss, dass bestimmte algorithmische Funktionen als süchtig machend eingestuft und in Frankreich aus allen Apps verbannt werden sollten. Der Bericht forderte auch, den Zugang zu sozialen Medien für Minderjährige unter 15 Jahren in Frankreich zu beschränken. Beide Maßnahmen wurden bislang nicht umgesetzt.
Auf Nachfrage der Nachrichtenagentur AP erklärte TikTok, es sei bislang nicht über die französische Klage informiert worden, die im November eingereicht wurde. Anwältin Boutron-Marmion sagt, es könne Monate dauern, bis die französische Justiz die Klage bearbeite und die Behörden in Irland – wo sich der europäische Hauptsitz von TikTok befindet – das Unternehmen formell benachrichtigten.
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