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Das Wissen von 316 South Kenter Ave

Was genau ist da abgebrannt? Nachdenken über die Dialektik dieses ganz besonderen Ortes Los Angeles, an dem die US-amerikanische Kolonisierung immer weiter nach Westen auf die Mauer des Pazifiks stieß

Wo das Individualitätsversprechen seine darke Lebensrealität gefunden hat: Los Angeles, Pacific Palisades am 14. Januar 2025 Foto: Ethan Swope/ap

Von Diedrich Diederichsen

Als jemand, der addiert circa drei glückliche Jahre in Los Angeles verbracht hat, fällt es mir schwerer, in den Diagnostiker- und Beobachtermodus umzuschalten, wenn es um diese massive Vernichtung der ohnehin immer schon so bedrohten historischen Teile von Los Angeles geht. Dass der Pacific Coast Highway genau da verbrannt ist, wo meine Lieblingsfahrradroute entlangführte! Aber das ist privater Trauerluxus angesichts der zahllosen zerstörten Lebenspläne. Gerade dass es so viele schöne Entwürfe getroffen hat und mit ihnen die Idee, dass es so etwas wie individuelles Glück geben kann, wenn es schon mit dem Kollektiv nicht klappt, erweckt ein dreifach abgründiges Gefühl.

Der Abgrund der Vergeblichkeit der Empathie trifft auf den Abgrund der allzu offensichtlichen Auswahlmechanismen für empathische Gefühle, trifft wiederum auf den Abgrund des Individualismus – dessen hässliche Seiten sind ja verantwortlich für viele der Dramen von L. A. Man entwickelt leichter Empathie mit Leuten, deren Leben man sich vorstellen kann, deren Enttäuschungen den eigenen ähneln könnten, die sich schon unter dem Einfühlungsradar dieser individuellen Subjekterzählungen befinden. Man kann das an allen Konflikten und Katastrophen der Gegenwart erkennen: Die einen erleben Tragödien, die anderen bebildern Gewalt-, Kriegs- und Katastrophenpornos. Es gibt eine Hierarchie des Mitgefühls, die nicht nur von der Distanz der Katastrophe zu uns bestimmt wird.

Andererseits gibt es einen Weg von der Empathie zu den mir (vermeintlich) Ähnlichen zur Empathie mit den mir scheinbar nicht mehr ganz so Ähnlichen. Diesen Weg zu gehen wird aber nicht ohne Politisierung gehen. Politisierung der Distanz, von der aus man Ähnliche von anderen zu unterscheiden gelernt habe. L. A. ist da ein ganz besonderer Fall. Als ich vor mehr als 30 Jahren das erste Mal längere Zeit dort lebte, hatte ich das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein, in einen Ort, den ich schon sehr lange sehr gut kannte. Was war das hier noch mal? Ach so, endlich habe ich Entenhausen gefunden.

Damals las ich „Los Angeles: Capital of the Third World“ von David Rieff. Wo ist sie, diese Third World, dachte ich damals. Ich sehe nur Eigenheime. Ich fuhr nach Compton, nach Watts, nach South Central. Eigenheime. Besuchte einen Freund, der mir erklärte, bei ihm in der Straße würden sich Gangs von Armeniern mit Gangs von aus El Salvador Geflüchteten bekämpfen. Eigenheime. Eigenheime haben eine bösartige Dialektik: Sie sehen so aus, als wären sie für die Besonderheiten ganz besonderer Bewohner gebaut worden. Je liebevoller das aussieht, desto konformer ist, was dort abgeht. Überall das Gleiche. Denkt man zumindest, wenn man aus einem deutschen Eigenheim stammt.

Wenn man aber über den sportlichen Ehrgeiz verfügt, diese Autofahrerstadt als Person ohne Führerschein mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erschließen, muss man die Dritte Welt, wie sie damals noch hieß, nicht lange suchen. Sie sitzt im Bus, mehrere Stunden am Tag, um den zersiedelten Großraum auf dem Weg zu einer Haushaltshilfen- oder Gärtnerbeschäftigung in einem der Eigenheime zu durchmessen. Die Eigenheime sind übrigens nur manchmal von Neutra oder Schindler entworfene Preziosen der Architektur-Moderne, ebenso oft sind es Holzhütten mit kleiner Veranda. Und anders als in Deutschland passieren tatsächlich sehr unterschiedliche Dinge in den Individualbehausungen. Die libertär-kapitalistische kalifornische Ideologie hat vom Norden, von San Francisco und dem Silicon Valley aus die Welt unterworfen, in L. A. hat deren Individualitätsversprechen seine oft darke, dann wieder hysterisch grüne, oft jeder Verwaltung, Verwertung und Klassifizierung Widerstand leistende Lebensrealität gefunden. Die Antwort L. A.s auf die Hippies waren die Freaks.

Skepsis, Darkness unter sehr hohen Palmen bei strahlender Sonne – das ist auch ein Klischee, das von Kenneth Angers Skandalchronik „Hollywood Babylon“ bis zu James Ellroys Ober-Noir immer wieder bedient wurde. Es hat seinen Ursprung in dem Umstand, dass eine globale Kulturindustrie von L. A. aus agiert, die in ihren Produkten die Spezifik und Örtlichkeit ihres Produzierens ausblenden muss; sie muss universell sein. Doch durchbricht sie diese Regel für ein bestimmtes, in ihr Portfolio fest eingebautes Genre, den stets tragischen oder tragikomischen Blick auf sich selbst: von Billy Wilders „Sunset Boulevard“ (1950) bis David Lynchs „Mulholland Drive“ (2001). Die Spätform davon kann man in jenem gepflegten TV-Museum der 10er Jahre besichtigen, das unter dem Namen ProSieben uns werktäglich von Malibu („Two and a Half Men“, 2003–2015) bis nach Pasadena („The Big Bang Theory“, 2007–2019) durch das ganze L. A.-County mitnimmt. Genauer und auf einem neueren Stand war zuletzt „Trans Parent“ (2014–2019).

Diesen tragischen bis sarkastischen Blick auf sich selbst übernehmen die News-Formate, seit Los Angeles zyklisch, fast jährlich heimgesucht wird von Erdbeben, Überflutungen, Verfolgungsjagden, Mudslides, also Schlammlawinen und auch schon auf den ersten Blick politisch zu deutenden Disruptionen wie dem L. A. Uprising nach dem Freispruch für vier rassistische Polizisten (1992) oder der Obdachlosigkeitskrise, die die Stadt immer massiver heimsucht. Als ich das letzte Mal länger dort gewohnt habe, Frühjahr 2019, hatte es nicht zu wenig, sondern zu viel geregnet und Behelfsunterkünfte und Zelte trieben durch die Straßen.

Diese Selbstbezüglichkeit hat Thom Andersen in seinem brillanten Essayfilm „Los Angeles Plays Itself“ (2003) selbst als ideologisch markiert. Er geht unter anderem der Frage nach, warum die modernistischen Traumhäuser, die jetzt in Pacific Palisades niedergebrannt sind, immer die Wohnorte der Bösen sind – heute sind sie die Orte bourgeoiser Bigotterie in „Curb Your Enthusiasm“ – und wieso all die längst niedergewalzten migrantischen Communitys im Kino noch unangetastet weiterleben konnten. In den Plots einer bloß individuellen Verschlagenheit oder kommunitärer Güte gehe deren politische Dimension verloren. Und auch dass die nicht auf den ersten Blick politischen Katastrophen politische Ursachen haben, wissen all diejenigen, die es nicht bei Mike Davis („City of Quartz“, 1990) gelesen haben, aus Hollywoodfilmen: Was es ökologisch wie ökonomisch bedeutet, eine Millionenmetropole auf Wüstensand zu bauen und dies gegen andere schon bestehende Lebensformen durchzusetzen, erklärt „Chinatown“ (1974) von Roman Polanski. Warum das einst vielversprechende ÖPNV-System auf den Druck der Öl- und Autoindustrie schon in den 1930ern im Zuge der sogenannten General Motors Streetcar Conspiracy abgewrackt wurde, wissen wir aus „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“ (1988) von Robert Zemeckis.

L. A. ist der Ort, an dem die koloniale Eroberung Amerikas an die „Mauer des Pazifiks“ stieß, von wo aus daher die Kolonisierung des Innen, der Psychen und der Triebe ihren Anfang nahm: durch deren kapitalistische Verwertung und deren Einsatz der neu entstandenen Kontrollmechanismen (asiatische Religionsimporte, Kybernetik, New Age und Selbstoptimierung). In dieser Welt, die dann bald digitalisiert die Welt erobert, ist Kritik nur noch ein Genre neben anderen, das auch nur dazu beiträgt, das Kursieren und Distribuieren von Content am Rollen zu halten – nicht Fehlentwicklungen aufzuhalten. Allenfalls sind, wie wir jetzt wissen, manche Angehörige der kalifornischen Tech-Eliten besonders scharf darauf, die Ökoverbrechen, auf denen ein großer Teil der südkalifornischen Urbanität basiert, zu verschärfen, statt sie einzudämmen oder ihre Schäden zu reparieren.

Letzteres, die drohende, nun auch inhaltliche Machtübernahme dieser Tech-Eliten in diesen Tagen und Jahren verleiht den aktuellen Bränden in L. A. den apokalyptischen Unterton, der jenseits von konkreter Empathie hierzulande gerade zelebriert wird. Mit den Preziosen hochmoderner Privathausarchitektur brennt die europäische Aufgeklärtheit nieder. Hoffentlich überlebt wenigstens das Thomas-Mann-Haus, ist die zentrale, leicht bornierte Sorge. Aber ich tröste mich ja auch damit, dass 316 South Kenter Avenue noch steht. Doch das Buch, das in diesem Haus entstand, ist keineswegs von dem altwestlichen Glauben an die Koextension von Aufklärung und Eigenheim-Individualismus geprägt. Es heißt nicht umsonst „Die Dialektik der Aufklärung“.

In L. A. nahm die Kolonisierung des Innen, der Psychen und der Triebe ihren Anfang

Dass es gerade dort, in Brentwood, dem an Pacific Palisades angrenzenden Stadtteil, geschrieben werden konnte, hat auch mit einer Dialektik des Eigenheim-Individualismus zu tun, die man dann auch wieder eher in L. A. als sonst wo in den USA oder gar in Europa spüren kann: Sein Symptom ist der spezielle Eigensinn, der einen beeindruckenden Sinn für Community-Building und Aktivismus hervorbringt. Das ist zwar in dem anderen zu großen Teilen vernichteten und von vielen und eben nicht nur weißen Künstler_innen bewohnten Stadtteil Altadena deutlicher, aber es ist ein nicht zu unterschätzendes Zeichen von tatsächlichem Nonkonformismus: dass sein Abstandnehmen, sein Distinktionsbegehren direkt verbunden ist mit Solidarität. Je tiefer ich in die verwinkelten Ecken des Selbst steige, desto verbundener fühle ich mich mit anderen. Das ist eine weitere Kippfigur an der Mauer des Pazifiks. Es lohnt noch immer, eine Flaschenpost loszuschicken.

Los Angeles ist der am weitesten entfernte Ort, an dem – so wird uns zumindest pausenlos vermittelt – noch Leute wie wir leben: „The Nea­rest Faraway Place“, wie die Beach Boys es nannten. Empathie für seine Bewohner in Momenten der existenziellen Bedrohung ist naheliegend. Zugleich kollabiert der ziemlich fiese Begriff „Leute wie wir“ dort unausgesetzt. Zum Glück. Die Erfahrung des Ortes pendelt instabil zwischen Dystopie und Utopie. Es ist der Ort von Wünschen und Projektionen, die damit beantwortet werden, dass hier nicht nur das passiert, was wir wollen, sondern auch das, was uns blüht, obwohl wir es unbedingt vermeiden wollen, wie uns eine schuldbewusste protestantische Projektion erzählt.

Der Unterschied jetzt ist, dass das Menetekel anders konstruiert ist. Die Katastrophe hat nicht mehr das dekadent achtlose Über-die-Stränge-Schlagen, die asoziale Seite des Individualismus verschuldet, sondern erscheint als Vorgeschmack auf die Verheerungen des neuen Regimes einer klimaleugnenden Koalition aus Silicon Valley, Rassismus und Nationalismus. Die nun nicht einmal mehr libertären Tech-Eliten wollen nicht mehr nur die Infrastruktur kontrollieren, sondern auch das, was dort kursiert. Vom Geschäft zur Politik. Das ist, was Horkheimer meinte, als er sagte, wer vom Faschismus reden will, darf vom Kapitalismus nicht schweigen. Das Wissen von 316 South Kenter.

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