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DieErfindungderAidslüge

Schon vor Corona gab es Ärzte, die sich über den medizinischen Forschungsstand hinwegsetzten. André wäre 2009 fast gestorben, weil sein Arzt den Zusammenhang von HIV und Aids nicht anerkannte – trotzdem besucht er ihn noch

Aus Schleswig-Holstein Jonas Reese und Christopher Weingart

Wenn André über das spricht, was ihm passiert ist, dann sprudelt es nur so aus ihm heraus: Anekdoten, Einschübe, Rückblenden, manchmal sogar Witze. Ein Streifzug durch sein Leben, 1974 bis heute. Nur an einer Stelle bricht seine Stimme. „Das war der schlimmste Tag für meinen Vater. Als die Ärzte ihm gesagt haben, dass sein Sohn sterben wird.“

Dann wird es kurz still, nur die Ostsee rauscht leise in der Ferne. Plötzlich scheint das Erlebte wieder ganz nah. Und ein Schmerz kommt hoch, den er sonst irgendwo sicher verstaut hat.

2009 musste André als Notfall in die Kieler Uniklinik. Sein Zustand war schlecht, er habe Krampfanfälle gehabt, erzählt er, wenig später fiel er ins Koma. Er schwebte in Lebensgefahr. Was André damals nicht wusste: Er hatte Aids im Endstadium.

Dabei war er schon vorher regelmäßig bei einem Arzt in Behandlung gewesen. Beim Internisten Claus Köhnlein. Doch der hat seine eigene Ansicht zu HIV und sagt noch heute: „Das ist ein harmloses Passagiervirus, das gar nichts macht.“

André war an einen Aidsleugner geraten. Das sind Menschen, die aus Zweifeln, Unsicherheiten und Verschwörungserzählungen ein Narrativ gestrickt haben: HIV sei ein Schwindel, behaupten sie. Aids eine Erfindung von Pharmaindustrie und Gesundheitsbehörden. Die „Aidslüge“ nennen sie das – ein früher Vorläufer der „Coronalüge“. Manche von ihnen glauben bis heute daran.

Wenn neue Krankheiten auftauchen, herrschen oft Unsicherheit und Angst. Weil wissenschaftliche Antworten Zeit brauchen, haben es alternative Erklärungen und Verschwörungsmythen leicht. So war es schon immer. Bei der Pest, der Cholera, der Tuberkulose und auch bei Aids.

Rund dreißig Jahre vor Andrés Krankenhausaufenthalt suchten fünf junge Männer das Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles auf. Sie alle hatten seltsame Symptome, die sonst nur bei Patienten mit Immunversagen auftreten. „Wir wussten gleich, dass das etwas Großes sein wird“, sagt heute Michael Gottlieb, damals behandelnder Arzt. Was er jedoch nicht ahnen konnte: Diese fünf jungen Männer waren die ersten Patienten einer Pandemie, die bis heute etwa 40 Millionen Menschen das Leben kostete.

Bald wurden auch in Deutschland die ersten Fälle gemeldet. Nach und nach verbreitete sich die seltsame Krankheit. Doch niemand kannte ihren Auslöser. Wilde Theorien entstanden, und mit den steigenden Fallzahlen griff die Angst um sich. Aidskranke wurden als Aussätzige behandelt, manche schimpften, Gott habe die „Schwulenpest“ als Strafe geschickt. Diese Krankheit war unbarmherzig. Wer Aids­symptome entwickelte, starb meist innerhalb weniger Jahre. Die Diagnose ein Todesurteil, Heilung nicht in Sicht.

Südafrikas Präsident ließ sich überzeugen

Heute wirkt das alles weit weg. Besonders hier, ganz im Norden der Republik. Von Kiel aus fährt man eine gute halbe Stunde zu André. Raus aus der Stadt, vorbei an Feldern, Campingplätzen und natürlich der Förde. Das Dorf, in dem André heute wohnt, hat keine tausend Einwohner. Hier hat er sich seinen Rückzugsort gebaut, ein Einfamilienhaus aus roten und beigen Backsteinen. Die Straßen sind wie leergefegt. HIV-Infizierte werden bis heute stigmatisiert, deshalb will André seinen Nachnamen nicht veröffentlicht sehen.

Er empfängt mit Baseball-Kappe, Poloshirt und Dreitagebart. Durch die Nase trägt er ein silbernes Piercing. Vor etwa fünf Jahren hat er hier neu gebaut, alles nach seinen Vorstellungen. Kamin, Sauna, weiß glänzende Fliesen.

André sitzt am ausladenden Esstisch bei einem Glas Leitungswasser und beginnt zu erzählen: „Aids war immer ein Schreckgespenst. Deswegen wollte ich das auch gar nicht wissen. Ich wollte nichts mit Aids zu tun haben.“ André wurde 1974 in Norddeutschland geboren, seine Jugend fiel genau in die Zeit der Aidskrise. Damals herrschte helle Aufregung. Der bayrische Staatssekretär Peter Gauweiler (CSU) diskutierte die Meldepflicht, veranlasste in Bayern, dass alle, die „schwul wirkten“, zwangsgetestet werden konnten. Horst Seehofer, damals ein junger Abgeordneter im Bundestag, soll vorgeschlagen haben, Aids-Kranke in „speziellen Heimen“ zu „konzentrieren“. André war zu diesem Zeitpunkt ein Teenager. Als Freddie Mercury starb, war er 17. Damals habe er auch „einen Test“ gemacht, das fällt ihm fast beiläufig ein, und der sei positiv gewesen. Wie es zu dem Test kam, erzählt er nicht, nur dass sein Arzt ihn vor dem „Schreckgespenst“ Aids gewarnt habe. Von dem solle er sich nicht verrückt machen lassen. Damit sei das Thema zunächst erledigt gewesen.

André hat verschiedene Ideen, wie er sich damals infiziert haben könnte. Zum Beispiel gab es da einen Schlittenunfall, als er noch ein kleiner Junge war. Viele Berge hätten sie nicht, hier in Schleswig-Holstein, ein paar Rodelpisten aber doch. Einmal sei er mit dem Schlitten über eine hinausgeschossen und in einem Stacheldrahtzaun gelandet, musste ins Krankenhaus, erhielt dort Spenderblut. „Und dann haben alle gesagt, wenn du mit 17 Jahren positiv bist, dann sind das wahrscheinlich irgendwelche verseuchten Bluttransfusionen gewesen.“

Wie genau er mit dem Virus infiziert wurde, lässt sich heute nicht mehr überprüfen. Sicher ist: André schob damals die Diagnose von sich weg, machte nicht den zweiten Test, der für die offizielle Bestätigung notwendig ist, ging nicht in Behandlung. Alles blieb beim Alten, dem Schreckgespenst wurde das Spuken verboten.

Zu diesem Zeitpunkt war die Ursache von Aids längst gefunden. 1983 hatten erst ein französisches, dann ein US-amerikanisches Forscherteam das HI-Virus entdeckt. Ein Retrovirus, komplexer als nahezu alles, was man bisher an Krankheitserregern kannte. Endlich konnte auch die Suche nach einer Therapie beginnen. Trotzdem blieb noch vieles unklar: Warum wurden nur manche HIV-Infizierte krank, wie konnte ein Virus 29 unterschiedliche Symptome auslösen, und das erst nach Jahren? Oder steckte doch etwas ganz anderen dahinter?

In einem Gastvortrag an der Freien Universität Berlin sagte Professor Peter Duesberg 1995: „Es besteht kein kausaler Zusammenhang zwischen Infektion und Krankheit bei HIV und Aids.“ Duesberg lehrte und forschte damals Molekular- und Zellbiologie an der US-amerikanischen Berkeley University. Er war sich sicher: Aids hat eine ganz andere Ursache. „Man spricht nicht gerne davon, weil es politisch nicht korrekt ist, dass Homosexuelle mit ihrem Verhalten selbst verantwortlich sind für Aids, statt an einer Infektionskrankheit zu leiden.“

Duesberg glaubte, dass Drogen, besonders die Sexdroge Poppers, Aids auslösen – nicht das HI-Virus. Er behauptete, die „Aidslüge“ aufgedeckt zu haben, eine Verschwörung von Pharma­riesen, die endlose Forschungsgelder abgreifen, und Behörden, die durch eine künstliche Krise ihre Macht sichern würden. Duesbergs Wort hatte Gewicht, er war ein angesehener Wissenschaftler, ein auf Lebenszeit gewähltes Mitglied der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften. Schon 1987 hatte er begonnen, den Zusammenhang von HIV und Aids zu leugnen – und stieß damit auf offene Ohren. Immer mehr Menschen wurden krank, und ein Virus, eine Infektionskrankheit, hätte bedeutet, dass jeder und jede sich anstecken konnte. Anders bei Sexdrogen. Beweise konnte Duesberg nicht vorlegen; dass nur Menschen mit HIV an vielen der spezifischen Aidssymptomen leiden, ignorierte er.

Leugnung ist auch deswegen für viele Menschen so verlockend, weil sie Kontrolle simuliert. Wer positiv auf HIV getestet wurde, erhielt lange Zeit auch eine Prognose, wie viele Jahre er noch zu leben habe. Wer möchte in so einer Situation nicht einem hochdekorierten Wissenschaftler glauben, der sagt: Alles halb so wild, mach dir keine Sorgen!

Die Folgen der Infektion holten André erst Mitte der 2000er Jahre ein. Er erzählt, dass er lange im öffentlichen Dienst gearbeitet und dort Karriere gemacht habe. Er sei zwar häufiger krank gewesen, aber meistens nur mit Kleinigkeiten, die er auf die Arbeitsbelastung geschoben habe.

Zur Erholung sei er dann nach Brasilien geflogen. Auf andere Gedanken wollte er kommen, sich neu sortieren. André liebte das Land und die Leute. Er genoss die Offenheit, die Lebensfreude, vor allem im brasilianischen Karneval. Irgendwie passend – immerhin soll der Karneval doch böse Geister vertreiben. „Ich bin sogar auf der Karnevalsparade im Sambadrom mitgelaufen. Das war einfach geil.“

Leugnung ist auch deswegen so verlockend, weil sie Kontrolle simuliert. Wer möchte nicht einem hochdekorierten Wissenschaftler glauben, der sagt: Alles halb so wild, mach dir keine Sorgen!

Doch André wird immer schwächer, er habe Aphten-Geschwüre im Mund bekommen und Schluckbeschwerden. Irgendwann waren die so schlimm, dass er den Heimweg antrat. André geht zu seinem Hausarzt und der leitet ihn an einen Kollegen weiter: an den Internisten und Aids-Leugner Claus Köhnlein.

„Ich war, als das damals mit HIV losging, in der Uniklinik Kiel angestellt in der Facharztausbildung. Und da hatten wir plötzlich den ersten Aidspatienten.“ Claus Köhnlein sitzt in seinem groß­zügigen Praxiszimmer nördlich von Kiel. Vor ihm liegen stapelweise Aufsätze und Artikel, die er eigens herausgesucht hat. Er ist ein schlanker, braungebrannter Mann, trägt Jeans und Segelschuhe. Eigentlich schon im Rentenalter, behandelt er auch heute noch Patienten. Das Thema HIV und Aids begleitet ihn seit Jahren. „Und dann sage ich zu meinem Kollegen: Wieso ist das jetzt ein Aidspatient? Der hatte doch gestern noch Lymphdrüsenkrebs. Und dann sagte der zu mir, ja, der hat einen positiven HIV-Test. Und dann sagte ich nach kurzer Überlegung: Dann ist das für mich keine Seuche im eigentlichen Sinne, sondern eine Testseuche.“

Von Anfang an ist Claus Köhnlein skeptisch gegenüber HIV und Aids. Wie solle ein Virus für all die unterschiedlichen Symptome verantwortlich sein? Köhnlein vermutet andere Gründe. „Unter den Homosexuellen waren es vorwiegend die, die es einfach übertrieben haben mit ihren Drogen.“ Lange blieb er mit dieser Theorie ein einsamer Rufer in Deutschland. Bis er auf Peter Duesberg stieß. „Ich war im Winter Ski laufen und dann rief mich meine Frau an und sagte mir, du musst dir unbedingt den Spiegel kaufen. Da ist ein Artikel drin über einen Peter Duesberg, einen Professor aus Berkeley, und der sagt genau das Gleiche wie du.“

Köhnlein habe damals sofort Kontakt zu Duesberg aufgenommen und sei sogar nach Kalifornien geflogen. Die beiden Männer freundeten sich an. Der Kampf gegen die vermeintliche Aidslüge schweißte sie zusammen. Köhnlein holte seinen Unterstützer nach Kiel, organisierte Podiums­diskussionen, über die „wirklichen Hintergründe“ von Aids. 1993 machte sich Köhnlein mit einer eigenen Praxis selbstständig, behandelte dort auch HIV-Patienten. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter publizierte er Artikel und schrieb Bücher. 2006 veröffentlichte Köhnlein sein Buch „Virus-Wahn. Wie die Medizinindustrie ständig Seuchen erfindet und auf Kosten der Allgemeinheit Milliardenprofite macht“. Damit fand er eine größere Öffentlichkeit, wurde sogar ins Fernsehen und ins Radio eingeladen.

An diesen Arzt geriet André also, mit seinen Aphten und Schluckbeschwerden. Ob ihm nie der Gedanke gekommen sei, dass er Aids haben könnte? André überlegt einen Moment. Es habe immer andere Gründe gegeben, sagt er. Der Stress, die Psyche. Und schließlich hätten ihn weder sein Hausarzt noch Dr. Köhnlein noch einmal getestet. Der behandelte stattdessen Andrés Symptome. Trotzdem baute André weiter ab. „Ich habe dann innerhalb von wenigen Wochen viele Kilo verloren. Und das ging so weit, dass ich mein Motorrad gar nicht mehr halten konnte, weil ich zu schwach war.“

Weil es ihm immer schlechter ging, ließ André im Krankenhaus eine Beckenpunktion durchführen, ein schmerzhaftes Prozedere, bei dem ein Stück des Knochens entnommen wird, das dann auf verschiedene Erkrankungen getestet werden kann: „Und damals, da bin ich dann so richtig damit konfrontiert worden: Wollen wir nicht mal einen Test machen?“

Nein.

Wollte er nicht.

Denn da war ja noch Dr. Köhnlein. In seiner Praxis spricht Köhnlein ruhig, mit leiser Stimme, fast plaudernd. Doch was er da behauptet, ist hochgefährlich.

Als sich immer mehr Menschen auch außerhalb der schwulen Community infizierten, mussten die Leugner ihre Argumente anpassen. Sie schossen sich auf die Medikamente ein, die bis dahin entwickelt wurden. 1987 kam Azidothymidin, kurz AZT, auf den Markt, verbunden mit großen Hoffnungen. Es scheiterte kolossal. Zwar hatte es tatsächlich eine Wirkung gegen das Virus, doch die war nur von kurzer Dauer – und wurde von enormen Nebenwirkungen überschattet. Für Köhnlein war der Fall klar: „AZT kam 1987 auf den Markt, dann fingen alle an zu sterben.“

Wie so viele Argumente der Leugner beginnt auch dieses mit dem wahren Kern: AZT kann Aids nicht verhindern, hat schwere Nebenwirkungen, vor allem in hohen Dosen. Es hat immer wieder Medizinskandale gegeben, auch um schädliche und teure Medikamente. Doch die Schlussfolgerung, AZT sei tödlich, ist falsch. Denn auch ohne die Gabe von AZT starben Aids-Patienten.

Den echten medikamentösen Durchbruch gab es erst 1996, als die kombinierte antiretrovirale Therapie, kurz ART, auf den Markt kam. Die ART baut auf mehrere Wirkstoffe, die gemeinsam verhindern, dass das HI-Virus Resistenzen entwickelt. Doch zu Beginn gehörte auch AZT zu den Inhaltsstoffen, und die Nebenwirkungen der hochkomplexen Therapie bestimmten die Leben der Patienten. Köhnlein und Duesberg blieben bei ihrem Narrativ: Finger weg von den giftigen Medikamenten. Einige Infizierte glaubten ihnen, setzten die Medikamente ab oder verzichteten von Anfang an. Dadurch blieben ihnen auch die Nebenwirkungen erspart. Manche bezahlten diese Entscheidung mit ihrem Leben.

Im Jahr 2000 erreichte die Aidsleugnung dann ganz neue Dimensionen. Thabo Mbeki, Präsident von Südafrika, ließ sich überzeugen. Er berief Peter Duesberg und Claus Köhnlein neben anderen Gleichgesinnten in ein Aids-Beratungsgremium und verhinderte wenig später die Einfuhr jeglicher Aidsmedikamente nach Südafrika. Stattdessen sollte man sich gesund ernähren, möglichst viele Zitronen und Knoblauch essen. Konservativen Schätzungen zufolge starben allein wegen Mbekis Gesundheitspolitik 300.000 Menschen in Südafrika an den Folgen von Aids.

2009 arbeitete Heinz Horst als Oberarzt der Infektionsambulanz der Uniklinik Kiel, dort traf er auf André. „Als er eingeliefert wurde, war er in einem sehr schlechten Zustand“, sagt Horst heute, er ist mittlerweile im Ruhestand. Horst war seit den 80ern an der Uniklinik tätig, versuchte damals noch seinen Kollegen Claus Köhnlein von der HIV-Gefahr zu überzeugen. Jahre später kämpfte Heinz Horst um das Leben von Köhnleins Patienten ­André.

Gerade mal 100 bis 120 Nanometer Durchmesser hat das HI-Virus Foto: James Cavallini/ BSIP/imago

Mit der Wärmflasche gegen HIV

Im Sommer 2009 zwang das HI-Virus Andrés Immunsystem endgültig in die Knie. Plötzlich habe er „tierische Schweißausbrüche“ bekommen, sein Hausarzt verschrieb ihm Bettruhe und eine Wärmflasche. In derselben Nacht rief André mit letzter Kraft einen Krankenwagen, der ihn zu Heinz Horst in die Klinik brachte.

„Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, war, dass mein Zimmernachbar geschnarcht hat wie ein Rhinozeros. Und dann war ich weg.“ André schwebte in Lebensgefahr. Er litt unter einer PCP-Lungenentzündung und einer enzephalopathischen Toxoplasmose, das sind Parasiten, die ins Gehirn wandern und dort Entzündungen hervorrufen. Typische Aidssymptome.

Als seine Sauerstoffsättigung immer weiter in den bedrohlichen Bereich sank, entschieden die Ärzte, André zu intubieren. André fiel ins Koma, seine Eltern kamen noch in der Nacht ans Krankenbett geeilt. Die Ärzte hatten schlechte Nachrichten: „Die haben dann gesagt, das wird nichts mehr werden, der wird sich nicht mehr berappeln. Und das war der schlimmste Tag für meinen Vater.“ Andrés Eltern entschieden, dass lebenserhaltende Maßnahmen eingeleitet werden sollten. Doch es gab noch immer keine Diagnose.

„Wir haben uns dann mit der Rechtsabteilung besprochen“, sagt Heinz Horst heute. „Man muss immer davon ausgehen, dass ein Patient am Erhalt seines Lebens interessiert ist. Deshalb konnten wir ihn jetzt auf HIV testen, weil er seine Zustimmung nicht mehr selbst geben konnte.“ Der Test war positiv. Die Ärzte begannen unmittelbar mit der antiretroviralen Therapie – mit Erfolg.

Heute merkt man André nicht mehr an, dass er vor rund 15 Jahren um ein Haar gestorben wäre. Er hat sich ins Leben zurückgekämpft, musste Gehen und Sprechen neu lernen. Mittlerweile gehe es ihm gut, er könne wieder Motorrad fahren, reisen, sei eigentlich immer unterwegs. Damals habe er einen Schutzengel gehabt. Und Heinz Horst, dem vertraue er blind, „der hat damals mein Leben gerettet“.

Im vergangenen Herbst hat André seinen 50. Geburtstag gefeiert, eine große Party, auch seine Freunde aus Brasilien hat er eingeladen. Dass er dieses Fest noch feiern konnte, verdankt er der ART, die er bis heute einnimmt. Trotzdem geht er ab und an noch zu Claus Köhnlein in Behandlung. Einen Groll hegt er nicht. Obwohl Köhnleins Überzeugungen ihn fast das Leben gekostet hätten. Bei Köhnlein erhalte er schnell Rezepte – und eine alternative ärztliche Meinung. Das scheint ihm immer noch wichtig zu sein.

Wie Köhnleins ärztlicher Rat aussieht, verraten die vielen Onlineideos seiner Vorträge. Mit den Aidsmedikamenten habe er mittlerweile zwar seinen Frieden gemacht, sagt Köhnlein darin. Aber das Virus, das sei harmlos. Der Viruswahn ist derweil schon in die nächste Runde gegangen. „Das hat jetzt mit Corona seine Wiederholung gefunden. Ein Schnupfenvirus ist das.“

Aus dieser Recherche ist auch ein Deutschlandfunk-Podcast entstanden, zu hören auf hoerspielundfeature.de.

Die taz hat 1987 übrigens ebenfalls zur Aids-Verschwörungstheorie beigetragen: taz.de/aidsluege

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