Britische Internierungslager auf Zypern: Nur frei waren sie noch lange nicht
Die Briten internierten nach dem Zweiten Weltkrieg Zehntausende Jüdinnen und Juden auf Zypern, in Lagern hinter Stacheldraht. Was ist davon geblieben?
D er rot gefärbte Boden mit seinen frischen Ackerfurchen glänzt vom letzten Winterregen. Im Süden von Zypern wachsen auf diesen Feldern die dicksten Kartoffeln, die man sich denken kann. Mächtige Trumms, viel größer als eine geschlossene Männerfaust, ideal zur Verarbeitung zu Pommes frites, gedeihen rund um das Bauerndorf Xilotimbou. Die Felder reichen weit in das umliegende britische Militärgebiet hinein, bis zum nahen Mittelmeer. Die Bauern sind ob ihrer dicken Erdäpfel wohlhabend geworden, was sich in großzügigen Einfamilienhäusern widerspiegelt.
Es ist beinahe 80 Jahre her, da lebten in der Nähe von Xilotimbou nicht nur zypriotische Bauern, sondern auch Fremde. Es waren keine sonnenhungrigen Touristen, so wie die Menschen, die heute die Strände in der Umgebung bevölkern. Sie waren auch nicht freiwillig gekommen. Sie lebten hinter Stacheldraht am Meer. Baden durften sie nicht. Lange waren diese Menschen vergessen.
Doch seit Kurzem steht am Ortsrand von Xilotimbou in einem Park ein Gedenkstein. „Meine eine Hälfte, die linke, da wo das Herz schlägt, ist israelisch. Aber die andere Hälfte ist zypriotisch“, steht da auf Englisch geschrieben, und darunter in kleinerer Schrift: „Eines der 2.000 Babys, die in den jüdischen Internierungslagern auf Zypern geboren wurden.“
Walter Frankenstein war damals im Lager schon ein junger Mann. Heute ist er 100 Jahre alt. Er kann sich noch gut an die Zeit erinnern, als die Briten ihn eingesperrt hatten. Bis heute, so sagt er, habe er ihnen das nicht ganz verzeihen können. „Nie hat sich einer entschuldigt“, sagt er in seiner Wohnung in einem Altersheim in der schwedischen Hauptstadt Stockholm.
Vor 80 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Rund 1,1 Millionen Menschen, die allermeisten von ihnen Jüdinnen und Juden, wurden von den Nationalsozialisten im Lagerkomplex Auschwitz ermordet.
Vor 20 Jahren erklärten die Vereinten Nationen den Jahrestag der Auschwitz-Befreiung zum Internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust.
2025 In diesem Jahr gibt es unter anderem am Montag um 11 Uhr eine Gedenkandacht in der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin-Mitte sowie diverse Andachten und Gottesdienste. Zur zentralen Gedenkfeier im polnischen Oświęcim reist auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) an.
Dabei war Zypern nur eine Zwischenstation in seinem langen Leben. Aber eine, die bis heute wehtut.
Der deutsche Jude Frankenstein, seine Frau Leonie und die beiden Kinder hatten 1945 die Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten mit Mut, Energie und einer großen Portion Glück überlebt. Ihr erstes Kind war 1943 gerade geboren, da ließ die SS fast alle Berliner Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportieren. Walter und Leonie nicht, denn sie gingen in den Untergrund, ohne Papiere und Lebensmittelkarten, hoffend auf Hilfe von Hitler-Gegnern.
Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden von den Nazis umgebracht. Die Frankensteins zählten zu den wenigen, die die Zeit der Verfolgung überlebten. Danach stand für sie fest, dass sie Deutschland verlassen würden, das Land, in dem ihre Verwandten und Freunde ermordet worden waren. Ihr Ziel war Palästina. Zwei Brüder von Walter lebten dort. Leonie gelangte zusammen mit ihren beiden Kindern legal nach Tel Aviv. Aus Rücksicht auf die arabische Bevölkerung limitierten die Briten nach dem arabischen Aufstand 1936 die Einreiseerlaubnisse für Juden nach Palästina. Das blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg so.
Walter Frankenstein erreichte statt des Gelobten Landes nur die Insel Zypern. „Wir wurden mit Landungsbooten in den Hafen von Famagusta gebracht. Da stand der britische Gouverneur. Zu meiner Gruppe zählte ein Mädchen, das hatte als Partisanin bei den Russen den Krieg überlebt. Sie stellte sich vor den Gouverneur hin und beschimpfte ihn. Dann spuckte sie ihn an. Er hat die Spucke nicht von seinem Gesicht entfernt.“
Walter Frankenstein, Lagerinsasse
Das Verbrechen der Holocaust-Überlebenden wie Frankenstein bestand darin, dass sie ohne Erlaubnis der britischen Mandatsmacht nach Palästina einreisen wollten. Großbritannien ließ aber nur 1.500 Neuankömmlinge im Monat zu. Dagegen begehrten die Überlebenden, aber auch die jüdische Vertretung in Jerusalem auf. Sie organisierten mit der „Bricha“ (Hebräisch für Flucht) den Transport aus dem kriegszerstörten Europa nach Palästina, gemanagt vom Mossad la-Alija Bet (Institution für Einwanderung B). Meist ging es auf überfüllten Schiffen von Italien oder Frankreich in Richtung Gelobtes Land.
Frankenstein war in Berlin in Kontakt mit den Fluchthelfern gekommen. Die schickten ihn ins Allgäu in eine Art Ausbildungs-Kibbuz und von dort nach Marseille. Im Hafen baute Frankenstein das Innere von Frachtschiffen so um, dass dort Hunderte Menschen auf engstem Raum Platz finden konnten. „Jeder hatte eine Pritsche. 1,80 lang, 75 breit und 50 Zentimeter hoch, das war wie bei gepackten Sardinen“, erinnert sich Frankenstein. Mit dem letzten Schiff, das er umzubauen half, durfte er selbst mitfahren. „Ich hatte verlangt, endlich zu meiner Familie zu kommen“, sagt er. Die „San Dimitrio“, ein Küstendampfer, war eigentlich für rund 75 Passagiere zugelassen. Als das Schiff am 19. Oktober 1946 ablegte, waren 1.252 Frauen, Kinder und Männer an Bord. Ein weiteres Kind wurde unterwegs geboren.
Frankenstein war an Bord der „Latrun“, wie der umgebaute Dampfer nun hieß, für den Proviant zuständig. Er freundete sich mit Walter Braun an, einem Juden aus Köln, der die NS-Zeit in England überlebt hatte und nun die Ventilatoren bedienen musste, damit unten im Schiffsbauch genügend Luft zirkulierte.
Großbritannien sorgte dafür, dass sie Palästina nur einen kurzen Augenblick lang nahekamen. Vor Haifa enterten Soldaten zweier Kriegsschiffe die „Latrun“. Das Gelobte Land erreichten die Passagiere nur zum Umsteigen. Ein Truppentransporter brachte die Flüchtlinge vom Haifaer Hafen nach Famagusta auf Zypern, damals eine britische Kronkolonie.
Die Internierungslager für Jüdinnen und Juden waren dort im Sommer 1946 errichtet worden. Damit sollten Einwanderer von einer Reise nach Palästina abgeschreckt werden. Tatsächlich geriet die britische Regierung in Erklärungsnöte. Holocaust-Überlebende hinter Stacheldraht zu sperren, war der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln.
Nichts erinnert in Famagusta an das Lager von vor fast 80 Jahren. Das Gelände, wo sich die Karaolos-Camps Nummer 55, 60, 61, 62 und 63 befanden, in die Frankenstein im November 1946 eingesperrt wurde, ist heute türkisches Militärgebiet. Famagusta befindet sich im Norden der seit 1974 geteilten Mittelmeerinsel, dort also, wo die türkische Bevölkerung lebt. Xilotimbou dagegen liegt im zyperngriechisch besiedelten Süden. Beide Lagerkomplexe zusammen hatten eine Kapazität von jeweils mehr als 10.000 Gefangenen. In Karaolos mussten die Menschen in indischen Armeezelten leben, in den Xilotimbou-Lagern 64 bis 70 gab es für sie Hütten aus Wellblech. Erbaut wurde dieses Camp ausgerechnet von deutschen Kriegsgefangenen.
Frankenstein hat nicht vergessen, wie es in Karaolos aussah. „Wir wurden auf Lastwagen aufgeladen und in die Lager gebracht. Die Engländer wiesen unserer Gruppe drei oder vier Zelte an. Die lagen in der Nähe der Umzäunung. Da war Stacheldraht, über zwei Meter hoch, nachts beleuchtet. Es gab Wachtürme, aber ob die besetzt waren, weiß ich nicht.“
Die meisten Mitglieder seiner Gruppe kannten sich noch aus dem Kibbuz in Oberbayern. „Das waren jüngere Überlebende aus den KZ, dazu Partisanen und Menschen, die versteckt überlebt hatten. Nur drei waren Deutsche. Der Rest war polnisch, russisch und rumänisch. Wir haben miteinander Jiddisch gesprochen. Das habe ich dort gelernt.“ THM, so nannten sich die Freunde. Es war keine politische Abkürzung. Die drei Buchstaben standen für „Tod, Hungrig und Meschugge“.
Das Verlassen der Lager war streng verboten. Frankenstein hielt sich daran. „Ich wollte nicht mehr flüchten. Wäre ich zu meiner Familie geflüchtet, hätten sie mich gleich am Kragen gehabt.“ Die Briten rechneten 750 der Lagerinsassen auf die Gesamtquote von monatlich 1.500 Einwanderern für Palästina an. So viele durften nach Israel ausreisen. Frankenstein konnte sich ausrechnen, wie lange er auf Zypern bleiben sollte – bis weit ins Jahr 1947.
Sein Freund Walter Braun durfte das Camp ab und zu verlassen. Dank seiner Englischkenntnisse wurde er als Übersetzer eingesetzt. „Ich musste jeden Tag zu den englischen Behörden gehen und mit ihnen verhandeln, was wir brauchten. Man musste ein bisschen Diplomat sein“, sagte der inzwischen verstorbene Braun in einem Gespräch mit dem Autor im Jahr 2007. Zwei- oder dreimal durfte er in die Inselhauptstadt Nikosia fahren, als Begleiter für schwangere Frauen, die dort im Krankenhaus behandelt wurden.
Die Entbindungen fanden, anders als es die Gedenktafel in Xilotimbou suggeriert, in dem dortigen britischen Militärhospital statt, wohl der besseren hygienischen Bedingungen wegen. Dort führt heute eine Sackgasse zu einem Checkpoint der griechisch-zypriotischen Armee. Ein Offizier holt den angemeldeten Besucher ab und führt ihn etwa dreißig Meter auf das jetzige Militärgelände. Dort steht ein glatter Stein, darauf eine Plakette mit den Flaggen Israels und Zyperns und der Inschrift: „In Erinnerung an die 2.200 Kinder, die auf Zypern von jüdischen Holocaust-Überlebenden geboren wurden.“ Schwarz-Weiß-Bilder in einem Schaukasten daneben zeigen Szenen aus dem Lageralltag, von dicht gedrängt stehenden Baracken, einem hölzernen Wachturm, Stacheldraht. Und Menschen, vielen Menschen, die sich in den Lagern drängen.
Walter Frankenstein erfährt erst mit 75-jähriger Verspätung von der Geburtsklinik in Nikosia. Er habe sich damals gewundert, dass es in seinem Lager gar keine Kleinkinder gegeben habe, sagt er. In den Camps bestand eine jüdische Selbstverwaltung durch ein Zentralkomitee, dem auch Walter Braun angehörte. Unterstützung erhielten die Überlebenden von jüdischen Hilfsorganisationen wie dem American JOINT. Es gab Hebräisch-Kurse. Parteien warben um Anhänger. An entscheidender Stelle arbeiteten so genannte Schlichim, Emissäre aus Palästina, die durch unterirdische Tunnel in die Lager hinein- und herausgeschleust wurden. Dabei halfen wiederum Zyprioten. Dazu unterhielt man Kontakte zur linken Akel-Partei, die das britische Kolonialsystem loswerden wollte.
Streiks und brennende Zelte
Es kam zu Protesten im Lager, wohl auch von den Schlichim initiiert. Frankenstein: „Die Engländer standen um das Lager herum mit ihren kleinen Panzern mit aufmontierten Maschinengewehren. Es gibt Fotos von brennenden Zelten. Die haben wir angesteckt.“ Ein Lagerinsasse wurde von Soldaten erschossen. Streiks wurden organisiert. „Streiken, das hieß, man hat Dinge verweigert, zum Beispiel das Essen oder den Abfall wegzuräumen. Solche Kindereien. Aber wir haben doch gezeigt, dass wir eine Kraft waren.“ Schließlich rissen die Camp-Insassen den Stacheldraht weg, der das Lager vom Meer trennte. Doch die Freiheit zum Meer währte nur kurz. Soldaten stellten den Stacheldraht wieder auf.
Nicht immer waren die Beziehungen zu den Briten im Camp-Alltag so angespannt. Walter Frankenstein weiß von einem Fußballturnier zwischen Soldaten und Lagerinsassen zu berichten. „Davor wurden lange Verhandlungen darüber geführt, was erlaubt und was verboten war. Wir versprachen, dass wir uns auf keine Schlägereien einlassen. Wir haben friedlich Fußball gespielt. Ich war Rechtsaußen. Ich habe vergessen, ob ich ein Tor geschossen habe.“
Die meiste Zeit verbrachte Frankenstein über Töpfen und Pfannen. Er avancierte zum Koch für seine Gruppe. Eigentlich sollte das Essen zentral ausgegeben werden, doch die Gefangenen setzten eine dezentrale Versorgung durch. „Ich habe gerne gekocht. Das war eine ganz freiwillige Sache, hat mir Spaß gemacht. Wir bekamen die Lebensmittel von den Engländern. Ich habe viele Suppen zubereitet, Gemüsesuppen. Aber auch Fleisch und Kartoffeln.“ Das Essen sei ausreichend gewesen, sagt er. Die Engländer hätten ihm sogar erlaubt, aus Ziegelsteinen im Freien einen Backofen zu bauen. So konnte er auch Brot backen.
Nach etwa einem halben Jahr, im Mai 1947, wurden Frankenstein und Braun nach Palästina entlassen. Nur frei waren sie deshalb immer noch nicht. Frankenstein kam in das Internierungslager Atlith südlich von Haifa. Dort traf er seine Familie wieder, zum ersten Mal seit anderthalb Jahren. „Wir standen am Stacheldrahtzaun, ich auf der einen, Leonie und die Kinder auf der anderen Seite.“ Der große Sohn Uri erkannte seinen Vater nicht wieder. Erst nach einer weiteren Haftzeit in einem anderen Lager kam Frankenstein endgültig frei.
Im Mai 1948 lief das britische Mandat über Palästina aus. Die Vereinten Nationen stimmten der Teilung des Landes in ein arabisches und ein jüdisches Gebiet zu. Der Staat Israel entstand. Dies war zugleich das Ende der Internierungslager auf Zypern. Die Insassen durften nach Israel ausreisen. Anfang 1949 verließ mit Pinchas Reichman der letzte Jude eines der Lager. Mehr als 52.000 Menschen, fast ausschließlich Überlebende des Holocaust, waren dort eingesperrt gewesen.
Eine Straße in der zypriotischen Hafenstadt Larnaka. Eine unscheinbare Tür in einer Mauer führt auf eine kleine Freifläche. Dort steht eine der britischen Wellblechhütten, wie sie zu Hunderten das Lager Xilotimbou prägten. Die Hütte sei die letzte gewesen, die noch auf dem früheren Camp-Gelände gestanden hätte, sagt stolz Arieh Cohen von der Jüdischen Gemeinde und führt hinein. Das Innere ähnelt mit seiner Rundung entfernt an einen Flugzeugrumpf, nur dass durch Dutzende kleine Rostlöcher die Sonne durchdringt. Am Boden stehen ein paar Feldbetten, dazu hängen Fotos und Dokumente aus der Zeit der Internierungslager aus. Eine kleine Erinnerung an eine furchtbare Zeit.
Cohen berichtet von der erst seit 2005 bestehenden jüdischen Gemeinde in Larnaka, der einzigen auf Zypern. Es sind Lubawitscher Juden, also streng Orthodoxe, die sich hier angesiedelt haben. Vor 75 Jahren waren Juden zwangsweise auf Zypern, eingesperrt hinter Stacheldraht. Jetzt kommen sie freiwillig.
In den Medien auf Zypern ist bisweilen von Konzentrationslagern die Rede, wenn es um die Camps geht. Das findet Walter Frankenstein ganz falsch. „Das war kein KZ. Es war ein Lager, das von Stacheldraht verschlossen war. Ich will den Engländern nicht etwas anhängen, was sie nicht getan haben.“
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