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Bio mit mieser Umweltbilanz

Auf der Ernährungs- und Agrarmesse „Grüne Woche“ in Berlin wird noch bis Sonntag fleißig für Bioerzeugnisse geworben. Die Hauptstadt ist der größte Absatzmarkt der Republik, doch nur ein geringer Teil der Produkte kommt aus dem Nachbarland Brandenburg

Die Nachfrage nach Bioprodukten in Berlin steigt und steigt Foto: Emmanuele Contini/imago

Von Manfred Ronzheimer

Wie kommt das gesunde Essen auf den Teller? Am besten noch die „ökologisch korrekte“ Mahlzeit, die aus biologisch-organischem Anbau ohne Pflanzenschutzmittel und anderen industriellen Agrochemikalien erzeugt wurde. Und noch besser: direkt aus der Region, ohne lange Lieferwege und mit Frische-Bonus. Um diese Fragen einer Alltags-verrichtung – „unser täglich Brot“ – hat sich ein Milliardenmarkt entwickelt, der gerade in Berlin einen besonders fruchtbaren Boden gefunden hat: der Hauptstadt der Biobranche.

„Mehr Bio in Stadt und Land“ ist das Motto der Fördergemeinschaft Ökologischer Landbau Berlin-Brandenburg (FÖL). Die FÖL erhebt jedes Jahr zur Grünen Woche, der weltweit größten Agrarmesse, die noch bis Sonntag unter dem Berliner Funkturm stattfindet, die aktuellen Zahlen zum Biomarkt: Was die Bauern auf dem Acker und im Stall produziert haben und wie Gemüse und Fleisch über die Wege des Handels an die Verbraucher kommen, zumeist nach Berlin, der größten Stadt quasi im Herzen Brandenburgs.

Die Anbausituation, mit besonderem Blick auf die Entwicklung des ökologischen Anbaus in Brandenburg, bewertet FÖL-Geschäftsführer Michael Wimmer ausgesprochen positiv. Nach den aktuellen Erhebungen, bei denen auf Daten des Potsdamer Agrarministeriums zurückgegriffen wird, werden in Brandenburg mittlerweile 225.245 Hektar Boden ökologisch bewirtschaftet Das entspricht einem Bioanteil von 17,4 Prozent.

„Damit verdrängte Brandenburg den bisherigen Spitzenreiter unter den Bundesländern, nämlich Hessen mit 16,3 Prozent, und ist jetzt wieder das Flächenland mit dem höchsten Bioflächenanteil“, stellt Wimmer fest. Mit genau 1.169 Biobetrieben wirtschaftet mittlerweile mehr als jeder fünfte Hof in Brandenburg ökologisch. Das entspricht einem Anteil von 21,8 Prozent aller Landwirtschaftsbetriebe. Mit staatlichen Fördermitteln zur Umstellung von der konventionellen zur biologischen Landwirtschaft soll dieser Anteil kontinuierlich gesteigert werden.

Durch die Inflation der vergangenen Jahre hat die Dynamik der Umstellung etwas abgenommen. Mit 3,6 Prozent der Betriebe, die 2024 neu auf die Seite der ökologischen Landwirtschaft wechselten, war die Mark immer noch doppelt so gut wie der Bundesdurchschnitt mit 1,6 Prozent Umstellungsquote. „Dies machte Brandenburg wieder zum Bioland Nummer 1 unter den Flächenländern“, hebt Wimmer hervor.

Das größte Problem stellt sich nach der Ernte. „Brandenburgische Landwirtschaftsbetriebe haben mit dem Berliner Markt den größten Bioabsatzmarkt der Republik in ihrer Mitte“, stellte auch der vom Brandenburger Landwirtschaftsministerium in Auftrag gegebene und 2024 vorgestellte Biomarktbericht Brandenburg/Berlin fest. „Da dieses Marktpotenzial noch nicht ausreichend mit Erzeugnissen aus Brandenburg bedient werden kann, besteht weiter Handlungsbedarf“, erläutert der FÖL-Sprecher.

Nur etwa 15 Prozent der Lebensmittel, die in Berlin verzehrt werden, kommen aus dem Brandenburger Umland. Eine theoretische Berechnung von Agrarforschern des Leibniz-Instituts ZALF in Müncheberg kam zu der Einschätzung, das bei entsprechender Umstellung der Anbaumethoden Berlin seine Selbstversorgung mit Lebensmitteln aus einem Umkreis von 100 Kilometern sicherstellen könnte.

Beim Absatz der Bioware gingen die Pfeile im vergangenen Jahr nach oben. Vor allem bei verpackten Biolebensmitteln, wie Nudeln, Müsli und Keksen, griffen die Verbraucher in den Läden vermehrt zu. Der Absatz erhöhte sich nach den FÖL-Zahlen von Januar bis September 2024 um 9,7 Prozent.

In Berlin und Brandenburg legten die Verbraucherausgaben für Biofrischeprodukte, die etwa 60 Prozent des gesamten Biomarktes ausmachen, gegenüber der Vorjahr um 6,9 Prozent zu. Auch damit „baute Berlin seine bundesweite Spitzenposition bei Biofrischeprodukten aus“, unterstreicht Wimmer. In der Hauptstadt wuchs der Frische-Anteil um 12,5 Prozent, während es im Bundesschnitt etwas über 8 Prozent waren.

Weil die Kundschaft erkennbar Biolebensmittel auf ihren Tellern haben will, hat im Bereich des Handels ein immer härterer Konkurrenzkampf eingesetzt. Bislang war dies die Domäne des Naturkostfachhandels, wozu Biosupermärkte, Biolieferdienste, handwerklich arbeitende Biobetriebe und Biodirektvermarkter gehören.

Diese Geschäfte setzten nach FÖL-Erhebungen in Berlin-Brandenburg 2024 rund 680 Millionen Euro um. 2023 waren es 652 Millionen Euro – ein Umsatzplus von 4,5 Prozent. Die wichtigsten Akteure im klassischen Naturkosteinzelhandel bleiben weiterhin die Bio­supermärkte mit nunmehr 143 Filialen. Marktführer in der Hauptstadtregion ist nach der FÖL-Statistik weiterhin die Bio Company mit 58 Filialen, gefolgt von Denn’s Biomarkt (54 Filialen), Alnatura (21 Filialen) sowie der LPG (10 Filialen).

Hier tobt der Kampf mit den konventionellen Lebensmittelketten, die vor Jahren überraschende Kooperationen mit ökologischen Anbauverbänden wie etwa „Bioland“ eingegangen war. Deren guter Name trug dazu bei, dass etliche Verbraucher in Zeiten hoher Inflation vom Biofachhandel zu den Discountern wechselten.

Dort kann noch einiges passieren, erwartet Michael Wimmer von der FÖL. „Denn während im Naturkosteinzelhandel bereits 100 Prozent Bio erreicht sind, hat der Lebensmittel-Einzelhandel in Sachen Bio noch viel Luft nach oben.“ Dort stehen die Zeichen weiter auf Ausbau. So konnten die „Vollsortimenter“ wie Edeka und Rewe, im Jahr 2024 ihren Bioabsatz in der Hauptstadtregion um mehr als 9 Prozent steigern. „Noch stärker dürften die Bioumsätze bei den Discountern gewachsen sein“, schätzt Wimmer. Genaue Zahlen werden von dort nicht herausgegeben.

Die für den Großraum Berlin festgestellten Trends kann der Biospitzenverband Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) auch für die gesamte Bundesrepublik bestätigen. Nach einer Arbeitsplatzstudie, die der BÖLW nun auf der Grünen Woche vorstellte, sorgt der Biosektor für rund 380.000 Arbeitsplätze.

Berlin könnte sich aus einem Umkreis von 100 Kilometern mit Lebensmitteln versorgen

Damit geben die Transformationssektoren Bio und Erneuerbare Energien (387.000 Arbeitsplätze) heute ähnlich vielen Menschen Arbeit wie die Automobilindustrie (780.000 Beschäftigte in 2023), stellt die Studie fest. Hinzu kommt: „Das ist Arbeit, die Spaß macht, weil sie Sinn stiftet“, sagte die BÖLW-Vorsitzende Tina Andres.

Dass Bio eine Wachstumsbranche ist, zeigt der Vergleich mit der letzten Zählung von 2009, als der Sektor knapp halb so viele Beschäftigte (180.000) zählte und mit 5,8 Milliarden Euro etwa ein Drittel des Jahresumsatzes von 2023 erzielte. Da waren es mehr als 16 Milliarden Euro. Bio hat sich auch 2024 deutlich besser als der Marktdurchschnitt entwickelt. „Verbraucherinnen und Verbraucher haben trotz Inflation und Wirtschaftsflaute wieder deutlich mehr zu Bio gegriffen“, erklärte die BÖLW-Vorsitzende. „Damit erweisen sich die Bürgerinnen und Bürger als standfester als die von ihnen gewählte Politik.“

Wichtig für den Großraum Berlin ist die Verbesserung der Absatzkanäle. Das zeigte auch das jüngste Branchenbarometer der Brandenburger Marketingorganisation „pro agro“ – deren langjährige Geschäftsführerin Hanka Mittelständt zur neuen Agrarministerin im Kabinett von Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) aufstieg. „Kein Thema wurde in den Medien häufiger diskutiert als der Preisanstieg bei Lebensmitteln als Folge der Inflation“, heißt es in der Bestandsaufnahme. „Von höheren Preisen des Handels profitieren die Erzeuger allerdings kaum“. Für die Brandenburger Bauern, in diesem Fall konventionell wirtschaftend, müssten die Absatzpreise beim Handel auf „über 10 bis über 20 Prozent steigen, um nachhaltige wirtschaftliche Zukunftsaussichten zu entwickeln“.

Laut Pro-agro-Geschäftsführer Kai Rückewold hat eine Umfrage bei über 400 landwirtschaftlichen Direktvermarktern und Unternehmen der Ernährungswirtschaft erneut bestätigt, dass der größte Umsatzanteil über den Lebensmitteleinzelhandel (52 Prozent) und die Direktvermarktung (25 Prozent) erwirtschaftet wird. Daher werde es umso wichtiger, „die Bedeutung der regional erzeugten Lebensmittel in den Kern-Käufergruppen weiter zu verankern“, unterstrich Rückewold. „Regionale Marken haben die besten Entwicklungsoptionen.“

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