Nach den Waldbränden: Überleben in L.A.
Die Brände in Los Angeles treffen vor allem die Ärmeren. So wie Linda Zeng. Die Geschichte einer Frau, die jetzt auf sich allein gestellt ist.
E s ist der frühe Morgen des 8. Januar, als ein Schrei Linda Zeng aus dem Schlaf reißt: „Get out!“ Raus hier! Dunkle Rauchschwaden hängen über ihr. Ihre Wangen, Nasenschleimhäute und der Hals glühen vor Hitze. Sie schreckt auf, greift nach ihrem Handy und wählt 911, den Notruf. Vergeblich.
Hastig wickelt sie zwei nasse Handtücher um sich und ihren Chihuahuamischling Simon und versucht ihren Kater Nico einzufangen. Doch dieser zappelt und verschwindet in der stromlosen Dunkelheit des Hauses. In ihrer Panik schließt sie die Haustür hinter sich und rennt auf die menschenleere Straße.
Vom Himmel regnet es glühende Asche. Ein Wind mit bis zu 100 Stundenkilometern peitscht ihr entgegen. Hinter dem Haus sieht sie, wie die Flammen wie glühende Fäuste aufsteigen.
Zeng, 39, hatte die Gefahr unterschätzt. Warum ist sie nicht wie alle anderen am Vorabend geflohen, als der Wind schon wie verrückt um die Häuser heulte und ihre Nachbarn sich einer nach dem anderen in Sicherheit brachten? Die erste Meldung über einen Brand war um 18.16 Uhr eingegangen. Sie sagt: „Ich dachte, im Notfall renne ich zum Polizeirevier nebenan.“ Aber im Chaos am nächsten Morgen schickte der Sheriff sie zunächst in die falsche Richtung, zu einem Evakuierungsbus, den es nicht gab. So erzählt sie es später.
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In Linda Zengs Geschichte vermischen sich mehrere menschliche Zustände. Vokabeln, die das Amerika der Gegenwart auch beschreiben: Einsamkeit, Armut und der Stolz, die Nachbarn nicht darum bitten zu wollen, sie mitzunehmen; nicht laut auszusprechen, dass man kein Auto hat und niemanden, der irgendwo auf einen wartet.
Mindestens 12.000 Gebäude sind zerstört
Vier Jahre lang lebte sie in einer kleinen Mietwohnung im Stadtteil Altadena nordöstlich von Los Angeles, gerade hatte sie sich einen neuen Trockner geleistet. Sie spricht von dieser Wohnung nach wie vor im Präsens. Bis heute grübelt Zeng, zu wem der Schrei gehörte, der ihr das Leben rettete. War es ein Mensch oder ein Schutzengel, der sie wach werden ließ? Die Aufforderung zur Evakuierung blinkte erst eine halbe Stunde später auf ihrer Handy-App auf.
Die Brände in Altadena und im Villenviertel Pacific Palisades gehören zu den fünf zerstörerischsten Waldbränden Kaliforniens und haben sich zur schadenträchtigsten Klimakatastrophe in der Geschichte der USA entwickelt. Mehr als 180.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen, mindestens 12.000 Gebäude sind dem Erdboden gleichgemacht. In Altadena vernichtete das Eaton Fire mehr als 4.600 Gebäude und beschädigte fast 500. Von den bisher 27 Todesopfern der Brände starben 16 hier. Weitere Menschen werden vermisst.
In diesen Tagen helfen die Angelenos selbstverständlich: Prominente mieten ganze Hotels und lassen darin Evakuierte wohnen. Die Trendmarke Lululemon verschenkt Kleidergutscheine, Sheriffs auf Parkplätzen verteilen Handcreme und im Magic Castle, normalerweise ein „Members only“-Club für Zauberei, darf man kostenlos Hundefutter abholen. Zeng war erst an diesem Morgen dort. Doch Simon, der Chihuahuamischling mit verbrannter Augenbraue, will seit dem Feuer kaum was essen. Er riecht noch „wie ein verbrannter Hotdog“. Immer trägt Zeng diesen Ausdruck zwischen Verzweiflung und Ernst im Gesicht. Nur manchmal schimmert ihr Witz durch.
Am siebten Tag nach dem Brand öffnet sie den Schrank in ihrem Airbnb in Hollywood und zieht ihre Kostbarkeiten heraus, legt sie wie Museumsexponate auf dem Bett aus: eine kobaltblaue wattierte Weste von Ralph Lauren, eine Tasche von Patagonia, ein Pullover von „fucking Club Monaco!“. Daneben legt sie ein Kissen und streicht es liebevoll an den Ecken glatt. „Schau, wie schön, ich habe jetzt ein Reiche-Leute-Kissen.“ Dann fügt sie nachdenklich hinzu: „Sollte ich dankbarer sein? Wir brauchen eben eine große Tragödie, damit die Reichen ihre Garderobe spenden und Leute wie ich auch was abbekommen!“ Die Sachen stammen von COOP aus einer Solidaritätsaktion von Sharon Stone und Halle Berry, die ihre gesamte Garderobe gespendet hat.
Linda Zeng hat alles verloren. Sie hatte vorsorglich einen Notfallbeutel mit Tierfutter, Medikamenten und Dokumenten gepackt. Aber in der Panik rannte sie nur mit Simon und ihrem Handy aus dem Haus. Sie setzt sich auf das Sofa und umfasst das Tier auf ihrem Schoß wie ein Baby. Auf ihren Unterarm hat sie zwei Katzenköpfe tätowieren lassen. Die eine Katze ist schon länger tot, den schwarzen Kater Nico will sie morgen in den Ruinen Altadenas suchen gehen.
Sie zählt auf: 606 Dollar und 74 Cent liegen auf dem Sparkonto. Ihre Eltern in Florida hatten ihr am Telefon 1.000 Dollar versprochen, bevor sie ihre Kreuzfahrt auf die Bahamas antraten. Eine Jugendfreundin aus Israel will ihr 3.000 Dollar schicken. Ihre eigene GoFundMe-Seite hat zu diesem Zeitpunkt nur etwas über 4.000 Dollar gesammelt, weniger als ihre Nachbarn, die auch solche persönlichen Crowdfundingseiten starteten. Zeng fragt sich, warum sie anders ist als die anderen, warum man ihr gegenüber so geizig ist. Zwei ihrer Ex-Freunde hätten jeweils 350 Dollar gespendet. Ein weiterer 40. Jeremy, eigentlich der Großzügigste von allen, fehlt. Sie ärgert sich, dass sie seine Nummer gelöscht hat, als sie wütend war.
Zeng wurde als erstes von vier Kindern in China geboren. Die Eltern wanderten kurz nach ihrer Geburt nach New York aus, das Kind ließen sie vorübergehend bei den Großeltern zurück. Als sie fünf war, holten sie sie zu sich. Kurz darauf trat die Krankheit in ihr Leben: Vaskulitis, eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der sich die Gefäße entzünden. Als weder Akupunktur noch der Segen eines Priesters sie heilen konnten, schickten die Eltern sie ohne medizinische Behandlung zu den Großeltern nach China zurück. Durch die Gefäßentzündung starben ganze Teile ihres Körpergewebes ab. Statt Mittelfingern hat sie heute Fingerstümpfe.
Mit neun Jahren durfte sie in die USA zurückkehren. Die Erinnerungen an ihre Kindheit lauern überall, an die Ohnmacht und den Kummer, von den eigenen Eltern verlassen zu werden. Vor dem Feuer, sagt sie, dachte sie oft, sie möchte nicht mehr am Leben sein. Jetzt weiß sie, sie möchte doch.
Aber bei allem, was sie im Leben beginnt, stößt sie an unsichtbare Grenzen. Imuran heißen die kleinen weißen Pillen, die sie bis an ihr Lebensende einnehmen muss. Weil ihre Krankheitsschübe manchmal monatelang dauern, kann sie keinen Job lange ausüben. Vor zwei Jahren kündigte ihr die Firma, für die sie drei Jahre lang in der Unternehmensberatung gearbeitet hatte. Ein respektabler Job, 120.000 Dollar Jahresbruttogehalt. In einer Stadt, in der kaum jemand zum Supermarkt zu Fuß läuft, musste sie ohne das Gehalt ihr Auto verkaufen. Vor sechs Monaten genehmigte der Staat ihr eine Behindertenrente von 2.000 Dollar monatlich. Ihre Miete in Altadena betrug 2.400 Dollar.
Doch Zeng will nicht weg von hier. „Ich versuchte ständig, meine Sachen zu verkaufen, Geld zu beschaffen.“ In Los Angeles lebt ihre behandelnde Ärztin. Zu ihren Eltern hat sie kaum Kontakt, ihre Geschwister haben selbst kein Geld. Als sie sich in den Tagen nach dem Brand um ein winziges Studio im günstigen Teil von Hollywood bewarb, sagte ihr der Besitzer wegen ihrer schlechten Kreditbalance ab. Ein paar Tage kann Zeng noch in dem Airbnb bleiben, dann muss sie weitersehen.
Linda Zeng zu ihrem Leben bereits vor dem Feuer
Seit den Bränden explodieren die Mieten. Der Gouverneur Gavin Newsom hat bis März den Notstand verhängt, um Wucherpreise einzudämmen. Offiziell dürfen Unterkunftspreise nicht mehr als um 10 Prozent erhöht werden. Aber längst nicht alle halten sich daran.
Zeng beschäftigt sich den ganzen Tag mit den neuen Grundsatzfragen in ihrem Leben. Wo wird sie nach dieser Woche schlafen? Welche Tierheime hat sie auf der Suche nach ihrem Kater noch nicht kontaktiert? Wie viel Geldspenden hat sie eingenommen? Wann wird die Katastrophenbehörde FEMA ihren Hilfsantrag genehmigen?
Am achten Tag nach dem Brand führt Zeng ihren Hund Simon in der Nähe ihres Airbnbs Gassi. Die Straße ist gesäumt von Palmen, Zitronenbäumen und Magnolien, es ist ein schöner sonniger Tag. Die Santa-Ana-Winde, die der Wetterbericht für heute vorhergesagt hatte, fallen schwächer aus als befürchtet. Sie deutet auf einen Starbucks. „Komm, lass uns sagen, wir sind Feueropfer, dann geben sie uns Sachen umsonst!“
An der Kasse starrt der Barista sie verwirrt an, als sie ihm mit großer Selbstverständlichkeit erklärt, sie habe alles verloren. Dann fragt er seine Vorgesetzte um Rat, die sich wiederum an ihre Vorgesetzte wendet. „You’re good“, kommt die Erlaubnis von ganz oben. Zeng zieht zufrieden die Lippen zusammen und bestellt ein Sandwich mit Speck und Ei und einen gigantischen Matcha Latte. „Chinesen sind schamhaft“, sagt sie, „aber nach dem Feuer habe ich all meine Scham verloren.“
Nach dem Essen nimmt sie ein Uber von Hollywood nach Altadena mit, eine halbe Stunde Autofahrt. Zeng will Nico suchen. Altadena, das zu Füßen der San Gabriel Mountains liegt, ist ein toleranter multikultureller Mittelklassevorort. Fast die Hälfte seiner 43.000 Einwohner sind Latinos oder Schwarze. Mitte des 20. Jahrhunderts war es das erste Viertel in Los Angeles, in dem Schwarze Häuser kaufen durften. Viele der Hauseigentümer hier hatten ihr Leben lang hart gearbeitet, um sich ein eigenes Heim leisten zu können. So erzählen es die Einwohner.
Jetzt sind ganze Straßenzüge ausradiert. An jeder Ecke stehen Autoskelette, verkohlte Buchseiten flattern über die Büsche. Immer noch blühen einzelne Zitrusbäume, und auch die asphaltierten Gehwege sind unbeschadet. Einwohner dürfen die Sperrzone offiziell nicht betreten. Immer noch suchen Einsatzteams nach Opfern, außerdem enthält der Brandschutt Giftstoffe. Doch Zeng schafft es, sich an der Polizei vorbei reinzuschmuggeln.
In einem der Vorgärten sitzt in einem Gartenstuhl Isaak, ein junger blonder Musiker, und spielt mit einem Verstärker Gitarre. Er sei zum Löschen dageblieben, erzählt er. Seitdem harrt er alleine im Elternhaus aus, das vom Feuer verschont wurde. Er verlässt das Gelände nicht, weil die Sheriffs ihn sonst nicht mehr zurücklassen würden. Die Feuerwehrmänner füttern ihn mit Sandwiches, und er spielt Gitarre, am häufigsten „Burning Down the House“ von den Talking Heads.
Die letzten Meter, bevor Zeng ihre Adresse in 2550 El Molino erreicht, verstummt sie, fast rennt sie jetzt. In der Luft hängt beißender Gestank. Aus dem Boden steigen Gase in die Luft, wenn man darauf tritt. Mit leiser Stimme ruft sie immer wieder „Niiiiico“. Die Rufe werden lauter, klingen wie ein hilfloses Wimmern. Ihr Gang ist leicht gebeugt, sie trägt die blaue Ralph-Lauren-Weste, gespendet von Halle Berry. Ihre Hände hat sie zu Fäusten geballt. Bisher hatte sie die Tränen zurückgehalten. Jetzt schluchzt sie und kann nicht mehr aufhören. „Meine Katze!“ Sie steigt auf die Überreste von dem, was einmal eine Treppe war, und kauert am Fuß einer Wand. Da, zeigt sie auf einen verkohlten Kasten, das war mein neuer Trockner.
Ein Reporter und ein Kameramann vom amerikanischen Sender ABC hören Zengs Weinen in den Trümmern und kommen filmend in ihre Richtung. Ihr gefällt die Aufmerksamkeit. Sie erzählt ihre Geschichte gerne. Erzählt, wie der Sheriff sie zu dem Bus schickte, den es nicht gab. Wie sie rannte, bei der Flucht über einen Baumstamm stürzte und ihre Brille verlor. Wie keines der Feuerwehrautos für sie anhielt, obwohl sie ihnen den Weg blockierte. Schließlich habe ein Feuerwehrmann ihr bedeutet zu warten. Nach einer halben Stunde sei der Krankenwagen dann gekommen. Das Team von ABC nickt mitfühlend und verspricht, in ihrem Beitrag ein Foto von Nico und den Link zu Zengs GoFundMe-Seite zu zeigen.
Als tödlichster Waldbrand in der Geschichte Kaliforniens ist das Camp Fire eingegangen. Innerhalb weniger Stunden breitete es sich im November 2018 auf einer Fläche von 620 Quadratkilometern aus und verschlang das Städtchen Paradise nördlich von Sacramento. Von allen Seiten schnitten die Flammen die Fluchtwege ab. Fast 19.000 Gebäude wurden zerstört, 86 Menschen kamen ums Leben.
An jenem Novembermorgen in Paradise waren heiße Metallteile auf trockenes Gebüsch und Kiefernnadeln gefallen. Eine uralte Hochspannungsleitung des nordkalifornischen Stromanbieters Pacific Gas & Electric (PG&E) hatte versagt – desselben Unternehmens, gegen das die Umweltaktivistin Erin Brockovich Anfang der neunziger Jahre eine Sammelklage wegen Grundwasserverschmutzung organisiert hatte.
Immer wieder wurde PG&E in den letzten drei Jahrzehnten Korruption vorgeworfen. 2019 sprach ein Richter dem Stromanbieter die Verantwortung für das Camp Fire zu und verurteilte PG&E wegen Totschlags in 84 Fällen zur Zahlung von 13,5 Milliarden Dollar.
Die Investigativjournalistin Lizzie Johnson hat den Tag des Infernos in ihrem Sachbuch „Paradise“ bis ins letzte Detail rekonstruiert. „Die Wahrheit ist“, schreibt sie darin, „Kalifornien hat schon immer gebrannt. Zum Jahreszeitenwechsel gehören die Flammen genauso wie Regenstürme und Blizzards. In prähistorischer Zeit brannten 19 Prozent der Landfläche ab. Aber die Einwohner vergessen so etwas schnell, und so war Amnesie schon immer Teil der kalifornischen Identität.“
Doch wie sieht diese Amnesie in Zeiten der Klimakatastrophe aus?
Ein normaler Waldbrand bewegt sich mit der Geschwindigkeit von zehn Kilometern in der Stunde. Beispiellos sind aber die Trockenheit und die Winde in der Stärke eines Hurrikans in Los Angeles, die die Funken kilometerweit tragen. Der Feuerwehr ging das Löschwasser aus.
Der Rechtsanwalt Rich Bridgford ist von einer weiteren Brandursache überzeugt: defekte Stromleitungen, die die trockene Vegetation entzünden. Er vertritt Zeng und Hunderte weitere Anwohner Altadenas bei ihrer Sammelklage. Als erste Kanzlei hat Bridgford Law eine Klageschrift gegen den südkalifornischen Stromanbieter South Californian Edison (SCE) eingereicht. Sie wirft ihnen vor, ihre Überlandleitungen trotz Windwarnungen in gefährdeten Gebieten wie Altadena fahrlässig nicht vollständig abgeschaltet zu haben. Beweise dafür liefern Daten der Netzüberwachungsfirma Whisker Labs.
Die Kanzlei will SCE zur Verantwortung ziehen. Aber sie will auch eine Katastrophe wie das Eaton Fire in Zukunft verhindern. Bridgford fordert Kompensation für die Sachschäden und die emotionalen Schäden seiner Klienten. SCE habe bei der öffentlichen Stromversorgung ein Monopol. „Dieser Anbieter weiß ganz genau, was sich ändern müsste“, sagte er im Interview mit dem Fernsehsender CBS. „Aber jedes Jahr trifft das Management eine verhängnisvolle Entscheidung zwischen der öffentlichen Sicherheit und den Interessen seiner Aktieninhaber.“ 2023 verzeichnete SCE 1,6 Milliarden Dollar Gewinn.
Nach ihrer erfolglosen Suche in Altadena fährt Zeng zum Pasadena Convention Center, einem riesigen Veranstaltungsgebäude, das früher die Emmy Awards und Shows wie „American Idol“ und „America’s Got Talent“ ausrichtete. Jetzt dient es als improvisiertes Flüchtlingslager. Hierher hatte der Krankenwagen Zeng evakuiert. Schon am Eingang trifft sie auf ihre Nachbarin Carrie Bartsch, eine alleinerziehende Mutter mit grauem Haaransatz und leerem Blick. Zusammen mit ihrer Tochter harrt sie hier immer noch aus. Wie beste Freundinnen fallen sich Zeng und Bartsch in die Arme.
Drinnen laufen alle durcheinander, da sind Ehrenamtliche vom Roten Kreuz und anderen Organisationen. Helfen ist ihr Job. Viele von denen, die hier unterkommen, sehen verwahrlost aus, einigen fehlen Gliedmaßen.
In einem früheren Leben spielte Bartsch sehr erfolgreich Geige. Auf Youtube ist sie 2019 bei einem Konzert des National Public Radio zu sehen. Jetzt schafft sie es kaum noch, ihren Alltag zu bewältigen. Wegen ihrer Panikattacken kam schon ein paarmal der Notarzt. Früher sei sie ihr aus dem Weg gegangen, gesteht Zeng später im Auto. Das Feuer hat sie zusammengeschweißt.
Auch Carrie Bartsch hat ihre zwei Katzen und wertvolle Musikinstrumente verloren: ihre Geigen, eine Viola, ein Cello, ein Klavier. „Stell dir vor“, flüstert sie, „am Anfang waren hier nur Feueropfer, jetzt lassen sie die Obdachlosen rein. It’s disgusting.“ Widerlich. Ihre vierzehnjährige Tochter lasse sie hier nicht allein herumlaufen. Bartsch deutet beschämt auf ihre Klappbetten, zwei von Hunderten im Schlafsaal. Sie haben sie zusammengeschoben. Drumherum Kuscheltiere, Plastiktüten, Waschsachen, unter der Decke versteckt eine Geige, die jemand gespendet hat. Ein paar ihrer Habseligkeiten konnten sie retten.
„Wir müssen hier raus. Alle sagen das.“ Aber wohin? Ihr leerer Blick kehrt zurück. Sie entschuldigt sich sofort, ihr Gehirn sei gerade Matsch. Sie schafft es kaum, Fragen zu beantworten.
Spenden als einzige Chance in den USA
„Warum hat sie nicht angeboten, mich mitzunehmen, als sie vor dem Feuer geflohen sind?“, fragt Zeng im Auto auf dem Rückweg. Nein, eine gute Freundin sei Carrie Bartsch nicht, trotzdem mache sie sich Sorgen wegen deren Zustands. Dann liest sie, dass Jared Leto ihr auf GoFundMe 5.000 Dollar gespendet hat. Vor Neid schnappt sie nach Luft. „Wie bitte? 5.000?“
Wer wie Carrie Bartsch und Linda Zeng keine andere Wahl hat, als das eigene Unglück so erfolgreich wie möglich über eine Website zu vermarkten, der bemerkt vielleicht nicht die systematische Gewalt eines Staats, der hinter diesem Verhalten steht. Eines Staats, in dem selbst die schwächsten Mitglieder seiner Gesellschaft auf sich gestellt sind und auf die Nächstenliebe ihrer Mitmenschen hoffen.
Am neunten Tag nach dem Brand strahlt „Good Morning America“ Zengs Geschichte aus. Zwei Tage bevor das Tiktok-Verbot in den USA in Kraft treten sollte, wird das Video fast drei Millionen Mal aufgerufen. Auf dem Bildschirm erscheint das Foto eines schwarzen Katers: Nico. Linda Zeng weigert sich aufzugeben. Sie sucht weiter.
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