: „Du musst nicht immer Sandkorn sein“
Die Militärseelsorge steht vor neuen Herausforderungen, sagt der evangelische Militärbischof. Mit dem Krieg in der Ukraine hätten sich auch die Ängste der Soldat*innen verändert. Deswegen plant er einen „geistlichen Operationsplan“
Interview Luisa Faust
taz: Vor fast drei Jahren hielt Olaf Scholz im Bundestag seine „Zeitenwende“-Rede, russische Panzer standen vor Kyjiw, und Landesverteidigung war auf einmal nicht nur eine abstrakte Idee. Sie sind Seelsorger, als evangelischer Militärbischof für die Sorgen der Bundeswehrsoldat*innen ansprechbar. Was hat die Soldat*innen damals beschäftigt?
Bernhard Felmberg:In den ersten Wochen war das große Thema: Wie rede ich mit meinen Kindern über das, was da passiert? Wie spreche ich mit ihnen über Krieg? Denn die hören vielleicht in der Schule von anderen Kindern: „Dein Vater ist Bundeswehrsoldat, der muss jetzt in die Ukraine, der stirbt da.“ Wie gehe ich damit um? Da war auf einmal eine andere Dimension, eine andere Bedrohungslage, eine andere Angst.
taz: Wie hat sich seitdem der Alltag der Soldat*innen verändert?
Felmberg: Die Ernsthaftigkeit des Übens ist völlig anders, die Wahrnehmung hat sich verändert. Vor einiger Zeit war ich vor Plymouth in Südengland, dort finden Übungsmanöver der Bundeswehr statt. Die Schiffe der Marine und ihre Mannschaften werden dort auf Herz und Nieren geprüft. Es werden die Abwehr von Drohnenangriffen geübt, Schnellbootangriffe, Feuer im Schiff, Wassereinbruch. Ich war den ganzen Tag auf einer Fregatte. Abends bin ich runter in die Kombüse. Da standen die Soldaten, nachdem sie diese ganzen Übungen gemacht hatten, und waren ganz bleich im Gesicht. Denn wenn sie wissen, das könnten sie in ein paar Wochen vielleicht wirklich erleben, dann kommt eine andere Ernsthaftigkeit, aber auch Anspannung in die Übung.
taz: In Litauen baut die Bundeswehr zurzeit eine Brigade auf. Etwa 5.000 deutsche Soldat*innen sollen dort dauerhaft stationiert sein, direkt an der weißrussischen Grenze. Welche Sorgen haben die Leute, die dort hingehen?
Felmberg: Normalerweise würden viele Soldat*innen bei so einer dauerhaften Stationierung sicher ihre Familien mitnehmen. Aber stattdessen fragen einige von ihnen sich jetzt: Was passiert eigentlich, wenn wirklich was passiert? Sitzt dann meine Familie in Vilnius und kommt nicht raus? Fahre ich da lieber alleine hin?
taz: Was bedeutet die Zeitenwende für die Militärseelsorge?
Felmberg: Sehen Sie, in Afghanistan haben wir in 20 Jahren 59 Soldaten verloren, diese Zahl wirkt erst mal überschaubar. Dort, in Masar-i-Scharif, stand jahrelang die Kapelle Haus Benedikt. Viele Soldat*innen haben dort gebetet, wurden getauft, haben geweint, weil Kameraden gestorben sind. Nach dem Abzug haben wir dieses Haus auf dem Gelände des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr in Schwielowsee wieder aufgebaut. Bei der Einweihung gab es einen Glockenschlag für jeden in Afghanistan gefallenen Soldaten. Ich stand direkt neben der Glocke. Nach 59 Schlägen, da dachte ich: Das ist enorm viel, das tut weh, nicht nur in den Ohren. Wir alle hoffen, dass wir nie in eine Landes- und Bündnisverteidigung geraten. Aber vorbereiten müssen wir uns darauf. Es gibt Berechnungen, laut derer wir in so einem Fall an der Nato-Ostflanke am Tag mit 500 bis 600 Gefallenen oder Verwundeten rechnen müssten. Das ist eine ganz andere Nummer. Mit meinen 104 evangelischen, den 78 katholischen und den 10 jüdischen Militärgeistlichen kommen wir da nicht weit.
taz: Sie haben sich vorgenommen einen „geistlichen Operationsplan“ zu erarbeiten.
Felmberg:Genau. Wenn ein Soldat mich fragt: „Wenn ich sterbe oder falle, können Sie mir garantieren, dass Sie meiner Familie helfen?“, dann müsste ich jetzt sagen, das wird schwierig. Deswegen entwerfen wir einen Rahmenplan, der die Notfallseelsorge, die Polizeiseelsorge, die Krankenhausseelsorge, die Feuerwehrseelsorge und die zivilen Kirchengemeinden miteinander verbindet. Wir arbeiten auch daran, in einer Notsituation in der Lage zu sein, Offiziere zu begleiten, die Todesnachricht an Familien zu überbringen, Menschen zu helfen, die Beerdigungen durchzuführen und Betroffene in einer existenziellen Ausnahmesituation zu begleiten. Wenn mich Kolleg*innen fragen, ob das wirklich nötig ist, dann sage ich immer: Stellt euch vor, das ist die Ahrtal-Katastrophe hoch fünf. Das verstehen die meisten.
taz: Warum gibt es bislang keine Vorbereitung auf solche Katastrophen?
Felmberg: Wir haben in Deutschland viele Jahrzehnte entspannt vor uns her gelebt. Wir haben vieles an Vorsorge – zum Beispiel Sirenen oder Zivilschutzräume – abgebaut, was es zu Zeiten des Kalten Krieges noch gab. Das ist die Friedensdividende. Auch die Kirchen haben sich auf eine Krisenlage schon lange nicht mehr vorbereitet. Früher gab es Pläne für den Ernstfall, die sind aber nicht mehr zu gebrauchen, weil das Szenario da ein ganz anderes war. Damals wäre ja Deutschland selbst das Schlachtfeld gewesen. Jetzt wäre das vielleicht Estland, Litauen oder Lettland. Und auch die Militärseelsorgenden wären dann dort. Aber gleichzeitig müssten in Deutschland in so einem Moment die Systeme – zu denen auch die Militärseelsorge gehört – ineinandergreifen.
taz: Immer mehr Menschen treten aus den Kirchen aus, gesellschaftlich schrumpft ihre Rolle eher. Sind Sie sicher, dass die Leute überhaupt die Hilfe der Seelsorge wollen?
Felmberg: Wenn die Menschen sagen: „Herzlichen Dank, ich gehe lieber zu meinem Schamanen“, dann bin ich der Letzte, der findet, ich muss ihnen unbedingt helfen. Wir erleben aber in der Militärseelsorge sehr selten, dass ein Soldat, der in Not ist, sagt: „Herr Pfarrer, ich brauche das jetzt nicht.“ Auch Menschen, die nicht konfessionell gebunden sind, die Christentum kaum buchstabieren können, wissen, was ihr Pfarrer für sie wert ist.
taz: Auch viele der Soldat*innen sind sicher nicht religiös, oder?
Felmberg: Immerhin gehören von den 180.000 Soldat*innen der Bundeswehr 51 Prozent der evangelischen oder katholischen Kirche an, 30 Prozent sind evangelisch. Vor allem aber gibt es unter den Soldat*innen eine große Zufriedenheit mit der Militärseelsorge, konfessionsübergreifend, das wissen wir aus einer Studie, an der 7.000 Soldat*innen teilgenommen haben. 96 Prozent der Soldat*innen im Auslandseinsatz sagen, die Militärseelsorge ist für sie wichtig. 91 Prozent sagen das über die Militärseelsorge im Inland.
taz: Die Geschichte der Militärseelsorge ist aber nicht ganz unproblematisch. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg hat sie den Befehlshabern als Legitimationsmittel gedient, moralische Zweifel ausgeräumt und Kriegsverbrechen gebilligt.
Felmberg: Das stimmt, und daraus haben wir gelernt. Deswegen ist die Militärseelsorge heute völlig anders aufgestellt und auch anders als bei allen Nato-Partnern. Früher war der Militärgeistliche ein Offizier, hat eine Waffe getragen, konnte den Soldat*innen Dinge befehlen und war selbst Teil des Systems.
taz: Das ist heute anders?
Bernhard Felmberg, 1965,
ist Theologe und seit Oktober 2020 Militärbischof der Bundeswehr. Er leitet die evangelische Militärseelsorge in den Bundeswehrstandorten und bei den Einsätzen der Bundeswehr
Felmberg: Ja. Heute kann kein General, kein Offizier, kein Oberst einem Pfarrer sagen, was er machen soll. Der Militärgeistliche trägt keine Uniform, ist nicht Teil der militärischen Hierarchie. Und die Seelsorger*in hat ein Beichtgeheimnis. Kein General und kein Gericht können das aushebeln. Zu Pfarrer oder Pfarrerin kann man auch sagen: „Ich glaube, dass ich eine posttraumatische Belastungsstörung habe“, und es geht keine Personalakte auf.
taz: Militärgeistliche sind mit Soldat*innen im Auslandseinsatz, verbringen den ganzen Tag mit ihnen. Wie kann man da den nötigen Abstand bewahren?
Felmberg: Der Begriff dazu ist kritische Solidarität. Wir gehen nicht im System auf. Wir bleiben ein Sandkorn. Aber du musst auch nicht immer Sandkorn sein, weil es nicht dauernd Gründe gibt, Sandkorn sein zu müssen. Wir reden ja über die Bundeswehr und die Bundesrepublik Deutschland und nicht über ein totalitäres System. Das ist ein deutlicher Unterschied.
taz: Aber moralische Zweifel an einem Einsatz könnte ein Militärgeistlicher ja trotzdem haben.
Felmberg:Ja, das stimmt. Ich hatte heute Gespräche mit Pfarrern aus den Landeskirchen, die sich bei uns als Militärgeistliche bewerben. Jedem von ihnen stelle ich die Frage: Was machst du, lieber Pfarrer, wenn du mit einem Einsatz, den der Bundestag beschließt, in Gewissensnöte kommst? Was machst du?
taz: Ja, nun, was denn?
Der Krieg ist zurück im Alltag Europas. Die Welt wird neu sortiert und Deutschland sucht darin seine Position. Die taz beobachtet die Kämpfe. Alle Texte zum Thema finden Sie hier:
Felmberg: Das kann jede*r natürlich unterschiedlich für sich beantworten. Einer sagt vielleicht, ich würde mit meinen Gewissensbissen bei einer Entscheidung, die der Bundestag gefällt hat, erst mal ins Gespräch gehen, meine Bedenken mit meinem Dienstvorgesetzten, mit meinem Bischof besprechen. Wenn mein Gewissen weiterhin sagt, ich kann das nicht machen, dann hat man das Recht zu sagen: Nein, das mache ich nicht. Andere würden sagen, meine Aufgabe ist es nicht, die politische Entscheidung des Bundestages als Grund für meine eigene Entscheidung geltend zu machen. Sondern wichtig ist, dass ich die Menschen begleite.
taz: Die evangelische Kirche hatte immer einen starken pazifistischen Zug. Hat sie sich verändert?
Felmberg: Nun, Jesus von Nazareth ist jemand, der uns mit seinen Friedensforderungen wirklich fordert. Aber es hat sich schon etwas verändert. Früher hieß der Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat mehr als deutlich gemacht, dass Freiheit und Sicherheit im Notfall auch verteidigt werden müssen. Und wenn es durch Abschreckung passiert. Ich sehe bei vielen Christen in dieser Frage inzwischen nicht nur Streit, sondern stärkeres Verständnis für die andere Position. Viele der pazifistischen Biografien, die sich in den 80ern gebildet haben, kommen ins Bröckeln. Die Sicherheiten darüber, was richtig oder falsch ist, sind gerade nicht mehr da. Das ist für den Diskurs gut.
taz: Spüren Sie als Militärbischof manchmal einen Konflikt?
Felmberg: Nein. Ich würde zwar nicht direkt sagen, dass der Militärbischof der Friedensbeauftragte ist. Aber fast. Weil die Bundeswehr alleine durch ihre Existenz Frieden und Freiheit in Deutschland gewährleistet.
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