: Hoch hinaus
Sozialghetto, Betonwüste, Problemfamilienkiez? Unsere Autorin wuchs in einer Berliner Hochhaussiedlung auf. Erst nachdem sie weggezogen war, war sie stolz auf das, wofür sie sich früher geschämt hatte
Aus Berlin Bianca Nawrath (Text) und Bjarne Meisel (Foto)
Wenn ich früher aus der Schule nach Hause kam, beeilte ich mich mit den Hausaufgaben, um ready zu sein, wenn die Stimme meines Kumpels Tobi durch die Gegensprechanlage schallte: „Kann Bianca zum Spielen runter kommen?“ Zwang der Regen uns dazu, drinnen zu bleiben, ließ Tobi zum Trost einen mit Süßigkeiten gefüllten Korb an einer Schnur von seinem Balkon im 12. Stock zu unserem, ein Stockwerk tiefer, herunter. Ich nahm die Ware entgegen und legte eine Dankeschönnachricht in den Korb.
Tobi und ich wuchsen im selben Plattenbau des Märkischen Viertels auf, einer sogenannten Großwohnsiedlung in Berlin-Reinickendorf. Wir Anwohner*innen sprechen für gewöhnlich vom MV, andere nennen es Sozialghetto, Betonwüste, Problemfamilienkiez, Arbeiterquartier, Trabantenstadt.
Es ist ein Zuhause mit vielen Namen. Welcher aber trifft es wirklich? Christa Reicher, die als Professorin für Städtebau und Entwerfen an der RWTH Aachen auch zu Großwohnsiedlungen geforscht hat, spricht von einer „großen Diskrepanz zwischen der Innen- und Außenwahrnehmung von Großwohnsiedlungen“. Sie sagt: „Der Ruf ist meist schlechter als die Wertschätzung der Bewohnerschaft.“
Vor 60 Jahren zogen die ersten Bewohner*innen ins Märkische Viertel. Damals galten solche Siedlungen als Wohnform der Zukunft. Städte wollten die engen Gründerzeitsiedlungen mit Hinterhöfen, Seitenflügeln und Toilette auf halber Treppe hinter sich lassen. Und es wurde viel Wohnraum in kurzer Zeit benötigt. Wie heute. Zeit, nachzufragen: Was ist denn nun zu halten von der Idee, massenhaft in die Höhe zu bauen? War es eine gute oder eine schlechte? Und wie leben die Menschen dort heute?
Errichtet wurde das Märkische Viertel, wie viele Großwohnsiedlungen, als Antwort auf die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg. Ganze Städte waren zerbombt, es musste schnell, günstig, ressourcenschonend gebaut werden. Die serielle Bauweise entsprach diesen Kriterien: In Fabriken vorgefertigte Betonteile werden auf der Baustelle zusammengefügt. Ein bisschen wie Legosteine im Kinderzimmer. Überall in Deutschland – Ost wie West – entstanden solche Siedlungen, ihre Namen sind zumeist regional bekannt als Synonym für „die Hochhaussiedlung“, oft am Rande der Stadt: München-Hasenbergl, Stuttgart-Asemwald – auch „Hannibal“ genannt –, Bremen-Tenever, Hamburg-Mümmelmannsberg, Göttingen-Holtenser Berg, Dresden-Gorbitz, Rostock-Lütten Klein, Berlin-Marzahn, Jena-Lobeda, Halle-Neustadt oder Leipzig-Grünau.
Heute bieten Großwohnsiedlungen Wohnraum für über 8 Millionen Menschen deutschlandweit und haben einen Anteil von 20 Prozent am gesamten Mietwohnungsbestand. Das MV besteht aus 18.000 Wohnungen für 45.000 Menschen, darunter überdurchschnittlich viele ältere. Auch der Anteil der Kinder und Jugendlichen liegt nach Angaben des Bezirksamts Reinickendorf weit über dem Berliner Durchschnitt. Auffällig hoch ist der Anteil der unter 15-Jährigen, die in Familien leben, die finanziell vom Staat unterstützt werden. Wegen der günstigeren Mieten ziehen Großwohnsiedlungen häufig Menschen an, die nicht viel Geld haben.
Beata Chomątowska ist eine polnische Journalistin und Schriftstellerin, die in ihrem Buch „Betonia“ die Idee von Häusern aus Beton in architektonischen und soziologischen Kontext setzt und dafür Großwohnsiedlungen in verschiedenen Städten Europas besucht hat. Chomątowska erklärt, dass im kapitalistischen Westen und damit nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Großbritannien, Schweden große Wohnsiedlungen im Rahmen von Programmen entstanden, die von der zentralen oder kommunalen Verwaltung gefördert wurden: „Diese Wohnungen waren vor allem für Menschen mit niedrigerem Einkommen bestimmt. Im Osten wohnten alle in Plattenbauten, da es keine solcher Einschränkungen gab.“
In Ost und West waren mit den neuen Großwohnsiedlungen Hoffnungen verbunden. Die Leute freuten sich über den höheren Lebensstandard etwa durch die Zentralheizung, die Räume waren heller, oft gehörten Balkone standardmäßig dazu, ebenso ein eigenes Badezimmer. Für viele boten die Wohnungen in der neuen Siedlung zum ersten Mal die Möglichkeit, überhaupt eine bezahlbare eigene Wohnung zu bekommen.
Das gilt auch für meine Eltern. Sie sind 1989 aus dem damals noch kommunistisch regierten sozialistischen Staat Polen nach Deutschland gezogen, um ihren Kindern bessere Chancen für die Zukunft zu verschaffen. Der erste Stopp war ein Übersiedlerheim im Berliner Villenviertel Wannsee. Der Umzug in die Wohnung im Plattenbau im MV kam meinen Eltern wie ein riesiger Fortschritt vor. Plötzlich hatten sie 85 Quadratmeter statt 30 mit zwei Kindern zur Verfügung und mussten weder Küche noch Bad mit anderen Familien teilen.
Die direkte Nachbarschaft bestand zwar nicht länger aus Wäldern, Seen und schicken Einfamilienhäusern, aber dafür konnte man von unserem Balkon aus den ehemaligen Mauerstreifen sehen, den Fernsehturm, der in der Ferne am Horizont winzig wirkte und manchmal auch einen Heißluftballon, wie einen kleinen Punkt am Himmel, der als Touristenattraktion über Berlin-Mitte flog. Am meisten liebte ich den Ausblick an Weihnachten, wenn die unzählbaren Fenster in den vielen hohen Gebäuden um mich herum von Lichterketten warm erleuchtet waren.
Viele Menschen neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären. Die Erinnerung an eine Blockgemeinschaft, ähnlich wie in einer Kleinstadt oder einem Dorf, lädt zu nostalgischen Gefühlen ein. Der „Plattenbauromantik“ wurde nicht umsonst ein eigenes Wort gewidmet.
Ihr gegenüber stehen abfällige Stereotype über Großwohnsiedlungen. Stichwort: sozialer Brennpunkt. Ein Ort der Kriminalität, der Drogen und des Schmutzes. Dabei befindet sich der Norden des Viertels, laut polizeilichem Kriminalitätsatlas der Bezirksregionen Berlins, im unteren Mittelfeld, was die Anzahl krimineller Straftaten angeht. Der Süden des Viertels fällt im stadtweiten Vergleich sogar in die Kategorie mit den wenigsten Strafvorkommen.
Das ändert nichts am Vorurteil. Spätestens nachdem ich auf ein Gymnasium außerhalb des Viertels gewechselt war, wurde mir als Jugendliche bewusst, dass meine Nachbarschaft keinen guten Ruf genießt. Statt zu widersprechen und klarzumachen, dass mich meine Kindheit im MV weniger an „4 Blocks“ und mehr an die Kinder von Bullerbü erinnerte, schwieg ich. Ich erzählte weder von dem Jugendzentrum, in dem ich Holz hacken lernte sowie an Kunstkursen und Kochnachmittagen teilnahm, noch von den Spielplätzen, auf denen ich Piratin, Hexe und Prinzessin war. Ich erzählte nichts von dem Baldachin, den meine Eltern auf meinen Wunsch hin in mein gemütliches Kinderzimmer gehängt hatten oder von meiner Nachbarin Oma Anna, die maximal mit Yoguretten dealte.
Erst nachdem wir aus dem Märkischen Viertel rausgezogen waren, fing ich an, gern zu erzählen, wo ich aufgewachsen war. Plötzlich war ich stolz auf etwas, für das ich mich früher geschämt hatte. Ich integrierte meine Vergangenheit in eine Selbsterzählung irgendwo zwischen Aufsteigergeschichte und Lederjackenimage. Etwas, das mir früher mitleidsvolle Blicke beschert hatte, verschaffte mir plötzlich Anerkennung.
Dabei habe ich es nicht mal selbst rausgeschafft, sondern durch meine Eltern. Sie haben mit ungesundem Fleiß, Glück und den Privilegien weißer, christlicher Ausländer einen Weg gefunden, das MV hinter sich zu lassen. Und mich haben sie mitgenommen. Unsere Scham war und ist ein großer Treiber, aber sie hat uns nichts geschenkt, nur gekostet.
Heute wird Wohnraum wieder dringend benötigt, serielles Bauen ist erneut Thema. Auch deshalb lohnt ein genauer Blick auf Großwohnsiedlungen wie das Märkische Viertel – obgleich die neuen Gebäude anders aussehen werden als die von damals. Christa Reicher, die Architekturprofessorin aus Aachen, sieht eine neue Chance für das Konzept des seriellen Bauens. „Mit Hilfe von digitaler Vernetzung, Software und Automatisierung ermöglicht diese Bauweise eine drastische Verkürzung der Bauzeit vor Ort“, sagt sie. „Eine mögliche Beeinträchtigung der Lebensqualität von Anwohnern der Baustelle durch Lärm und Schmutz wird reduziert, weil die fertigen Bauteile hier nur noch zusammengesetzt werden.“ Außerdem macht die Vorfertigung es einfacher, Bauzeiten realistisch einzuschätzen und Prozesse zu optimieren. Reicher sagt aber auch, dass es bei dem hohen Druck, der auf dem Wohnungsmarkt lastet, „nicht nur um Masse gehen kann, sondern auch um Wohn-, Lebens- und Gestaltqualität“.
Politisch scheint die Frage, wie wir neuen Wohnraum schaffen, Vorrang vor der Frage zu haben, wie wir die Lebensqualität in bestehenden Wohnräumen verbessern. „Wir brauchen wahrscheinlich 20 neue Stadtteile in den meistgefragten Städten und Regionen – so wie in den 70er Jahren“, sagte Kanzler Olaf Scholz 2023 bei einer Veranstaltung der Heilbronner Stimme.
In den 70ern wurde die Nachhaltigkeit der seriellen Bauten in den Kategorien Zeit- und Materialeinsparung gemessen. Lebens- und Gestaltqualität hingegen bedeutet für die meisten Menschen, in Naturnähe zu wohnen oder in einem belebten Stadtteil mit guter Infrastruktur, hübschen Cafés, Kinos, Ausgehmöglichkeiten. Auch meine Familie ist aus dem MV rausgezogen, als sie es sich leisten konnte.
Heute wohne ich in einer Genossenschaftswohnung mit sieben Mietparteien, ich habe 50 Quadratmeter für mich ganz allein. Meine Nachbarschaft besteht aus einer Apotheke, einem Lidl und einem Tchibo. Der Bär steppt hier auch nicht gerade, aber ich habe zwei U-Bahnhöfe sowie einen Park direkt vor der Nase und einen wunderschönen Innenhof – gerade mal 15 Fahrradminuten vom Märkischen Viertel entfernt, im selben Bezirk.
Ich fahre immer noch regelmäßig dort hin, etwa wenn ich Freund*innen besuche. Spätestens an Weihnachten ist es wieder soweit, wenn sie im Gartencenter Holland gegenüber meiner alten Grundschule die Miniaturwelten ausstellen. Dann statte ich meiner alten Hood einen Besuch ab und ich weiß jetzt schon, dass ich dabei viel Wärme im Bauch haben werde.
Quelle: Deutschlandfunk Kultur/Bundeskongress Nationale Stadtentwicklungspolitik 2023
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Quelle: Pestel-Institut / Scholz bei einer Veranstaltung der „Heilbronner Stimme“
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Quelle: Bundesamt für Statistik
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