: Eine Familie, die rechtlich nicht existiert
Mit dem Scheitern der Ampel ist wohl auch die Reform des Familienrechts vom Tisch. An der Realität geht das häufig vorbei, wie bei Michi aus Dresden und seinen drei Eltern
Von Franziska Schindler
Es war frühmorgens, als Ronja H. vom Bruch der Ampelkoalition erfuhr. H. hatte in der Küche das Radio aufgedreht, ihr Sohn Michi putzte sich im Bad die Zähne. „Ich hab erst mal einen Heulkrampf bekommen“, erzählt H. einige Wochen später am Telefon. Und dass sie sich schnell zu beruhigen versuchte, weil Michi* nichts von ihren Sorgen mitbekommen sollte.
Michi ist zwölf Jahre alt, möchte später mal Youtuber werden und hat drei Eltern: Ronja H., Tommy S. und Mia M. Sie wollen zum Schutz ihrer Privatsphäre nicht, dass ihre vollständigen Namen in der Zeitung stehen. Die Familie hatte sehnlichst auf die Reform des Abstammungsrechts gewartet. In ihrem Koalitionsvertrag hatte die Ampel abgekündigt, das Familienrecht zu modernisieren. Sie wollte der Stiefkindadoption für lesbische Paare ein Ende bereiten, die häufig langwierige Überprüfung durch Ämter sollte es nicht mehr geben.
Außerdem hätten die Ampel-Vorhaben den Alltag von Mehrelternfamilien verbessert: Die rechtlichen Eltern – weiterhin laut Gesetz maximal zwei – hätten bis zu zwei weiteren Personen für Alltagsangelegenheiten ein kleines Sorgerecht einräumen können. Doch dass die Reform noch kommt, ist inzwischen nahezu ausgeschlossen.
Ronja H. hat Michi auf die Welt gebracht und ist deswegen auf dem Papier alleinerziehend. Mia M. war schon damals Ronja H.s Mitbewohnerin und kümmerte sich mit um das Baby, dessen Vater sich kaum sorgte. Als Mia M. die Ausbildung zur Tischlerin abgeschlossen und endlich mehr Zeit hatte, übernahm sie Michi mehr und mehr. Und stellte fest: Sie will für ihn nicht nur eine enge Bezugsperson, sondern Elternteil sein. Rund ein Jahr später kam noch Tommy S. hinzu, mit dem Ronja H. mittlerweile seit vielen Jahren in einer Partnerschaft lebt.
Die Unsicherheit macht Angst
Die drei Eltern halten in einem Wochenplan fest, wer sich wann um Michi kümmert. Der 12-Jährige wechselt zwischen Tommy S.’ Hausprojekt im Dresdner Süden und dem Hausprojekt, in dem Mia M. und Ronja H. wohnen. Bei Tommy S. wohnen Kinder in Michas Alter, aber bei Ronja H. und Mia M. hat er ein größeres Zimmer – beides gute Orte, findet der Junge.
Familien wie die von Michi existieren im deutschen Recht bislang nicht. Als einzige der drei Eltern konnte Ronja H. deswegen Elternzeit nehmen. Auf Kinderkrankentage hat ebenfalls nur H. Anspruch. Wenn Michi mit den anderen beiden Eltern zum Arzt geht, muss H. ihnen eine Vollmacht mitgeben. Elternbriefe wollen die Lehrer*innen nur von Ronja H. unterschrieben wissen. Weil Mehrelternfamilien im Gesetz nicht vorkommen, gibt es für Situationen, in der Familien auseinanderbrechen, keine Regelung von Unterhaltsansprüchen. Und wenn Ronja H. etwas zustoßen sollte, hätte Michi keine Sorgeberechtigten.
Die Eltern haben deswegen eine Sorgerechtsverfügung geschrieben und darin notiert, wie sie sich den Umgang mit Michi wünschen, wenn Ronja H. etwas passiert. Ob das Familiengericht sich danach richten würde, wissen sie nicht. Die Rechtsunsicherheit macht ihnen Angst, aber es geht um mehr: „Jede Vollmacht ist auch die Botschaft: Ihr seid keine richtigen Eltern“, sagt Mia M. „Mia und Tommy wischen auch Michis Kotze weg, was man halt so macht als Eltern“, sagt Ronja H. „Es macht mich so wütend, dass sie auf dem Papier nichts sind für ihn.“
Gesellschaftspolitische Themen schienen eigentlich die, auf die sich SPD, Grüne und FDP noch am besten einigen konnten: Die Ampel legalisierte den Konsum von Cannabis, führte das Selbstbestimmungsgesetz ein und ließ durch eine Kommission die Entkirminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen prüfen.
Im Januar 2024 legte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) ein Eckpunktepapier zum Abstammungsrecht vor. Im September folgte sein Gesetzentwurf, doch er hing schon vor dem Ampelbruch zwischen den Koalitionsparteien fest. Denn Buschmann wollte die Reform im Paket verabschieden – unter anderem mit einem Gesetz zum Unterhaltsrecht, das Väter von Trennungskindern finanziell entlasten sollte, wenn sie mindestens 29 Prozent der Kindebetreuung übernehmen. Das wiederum blockierte die Grüne Familienministerin Lisa Paus, weil sie Nachteile für alleinerziehende Mütter fürchtete.
Das Recht hinke der gesellschaftlichen Realität hinterher, findet Ronja H. Zusammen mit ihrer Kollegin Lisa T., die ebenfalls als Sozialarbeiterin junge Menschen bei ihrem Freiwilligendienst begleitet, hat sie eine Petition für die Reform des Abstammungsrechts gestartet. Mittlerweile haben mehr als 5.000 Menschen unterschrieben. Auch für Lisa T. würde eine Gesetzesreform viel verändern. Mit ihrer Partnerin plant Lisa T. gerade ein gemeinsames Kind. Das Paar hatte gehofft, die Prozedur der Stiefkindadoption nicht über sich ergehen lassen zu müssen.
Denn während Hetero-Paare ledigliche eine Sorgerechtserklärung ausfüllen, um gemeinsam rechtlich Eltern zu werden, müssen die Co-Mütter sich darauf einstellen, dass sie ihre Finanzen offen- und ärztliche Atteste vorlegen müssen. Manche Jugendämter bestehen darauf, dass die Adoption erst nach einem sogenannten Probejahr stattfinden darf, obwohl die Kinder als Wunschkinder in bestehende Beziehungen hineingeboren werden. „Vielen Jugendämtern fehlt schlicht das tiefergehende Wissen über queere Lebensverhältnisse“, sagt Michel Röhricht vom sächsischen LSVD – Verband queere Vielfalt. Es komme vor, dass die queeren Familien oder solche, die es noch werden wollen, wie ein tatsächlicher Adoptionsfall behandelt würden. „Es hängt sehr von der sachbearbeitetenden Person ab, wie es läuft“. Trans Personen und non-binäre Menschen, queere Migrant*innen und Asylsuchende müssten noch zusätzliche Hürden überwinden. „Viele Leute trauen sich nicht, den Weg zu gehen, obwohl sie eigentlich gern Kinder haben möchten“, sagt Röhricht.
„Niemand sonst muss seine Eignung zur Elternschaft unter Beweis stellen“, sagt Lisa T., „das ist so entwürdigend.“ In Berlin oder Hamburg seien die Jugendämter kulanter, an Regenbogenfamilien gewohnt. „Aber in Sachsen weiß man nie, an wen man gerät.“ Lisa T. und ihre Freundin haben beschlossen, vorsorglich schon mal zu heiraten.
Den lesbischen Paaren bleibt nun nur noch, auf das Bundesverfassungsgericht zu hoffen. Sechs Fälle sind dort mittlerweile anhängig. Auch Christina Klitzsch-Eulenburg ist vor Gericht gezogen. Die Juristin ist selbst Mutter zweier Kinder und hat mit ihrer Frau die Initiative Nodoption gegründet – gegen die Stiefkindadoption. Seit ihr erster Sohn 2020 von ihrer Frau geboren wurde, kämpft sie dafür, dass auch sie rechtlich Mutter ihres Kindes wird, ohne das demütigende Adoptionsverfahren zu durchlaufen.
„Dass die Reform nicht kommt, ist erschütternd für alle Kinder und Eltern in queeren Familien“, sagt Klitzsch-Eulenburg, „Sie haben sich darauf verlassen, dass dieser verfassungswidrige Zustand nun endlich beseitigt und sie genau so gut abgesichert werden wie alle anderen Familien.“ Als die Ampel ihren Koalitionsvertrag verabschiedete, habe sie kurz Hoffnung gehabt. Doch je mehr Zeit verging, desto mehr schwand die Hoffnung, sagt Klitzsch-Eulenburg. Immer weiter wurde das Gesetzesvorhaben ans Ende der Legislaturperiode geschoben. Der Entwurf, der letztendlich bei den Koalitionspartnern landete, berücksichtigte trans und inter Eltern in keiner Weise. Ernüchternd war für Klitzsch-Eulenburg zudem, dass Buschmanns Paket auch ein sogenanntes Gesetz gegen missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen durch ausländische Staatsangehörige beinhaltete. Eltern mit einem „Aufenthaltsrechtsgefälle“, also mit unterschiedlichen Aufenthaltstiteln, stellte der Entwurf unter Generalverdacht einer Scheinvaterschaft. Nun wird wohl das komplette Gesetzespaket nicht mehr verabschiedet.
Verwehrte Gerechtigkeit
In Sachen Abstammungsrecht scheint es auch beim Bundesverfassungsgericht nicht voranzugehen. Seit 2021 liegt das erste der sechs Verfahren beim Bundesverfassungsgericht. Noch keiner der Fälle ist entschieden worden. Richter Henning Radtke, der beim Gericht zuständig für die Verfahren ist, begründet dies damit, dem Gesetzgeber nicht zuvorkommen zu wollen – und eine Reform hatte die Ampel ja vorgesehen. Radtke ist als Berichterstatter innerhalb des Gerichts dafür zuständig, die familienrechtlichen Fälle für die Verhandlung in der Kammer vorzubereiten.
Ronja H., hat Michi zur Welt gebracht
Doch aufgeschobene Gerechtigkeit ist verwehrte Gerechtigkeit, finden viele der Betroffenen. Kindern wie Eltern würden ihre Rechte vorenthalten. „Radtke ist nicht verpflichtet, die Verfahren weiterzuleiten, aber der Vorgang ist schon sehr ungewöhnlich“, sagt Klitzsch-Eulenburg, „zumal fünf Gerichte von der Verfassungswidrigkeit der momentanen Rechtslage so überzeugt waren, dass sie die Verfahren ans Bundesverfassungsgericht weitergeleitet haben.“ Im Oktober haben klagende Familien Verzögerungsrügen in Karlsruhe eingereicht und zudem einen Befangenheitsantrag gegen Radtke gestellt. Jetzt bleibt ihnen nur noch, aufs Bundesverfassungsgericht zu warten.
Michis Familie würde auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Stiefkindadoption nicht weiterhelfen. Seine Eltern gehen davon aus, dass er 18 wird, bevor eine Reform des Abstammungsrechts für Mehrelternfamilien vom Bundestag verabschiedet wird. „Ich bin trotzdem total happy über unsere Konstellation und dass Michi drei super Bezugspersonen hat“, sagt Ronja H. Ihre Kollegin Lisa T. ist mit ihrer Partnerin gerade auf der Suche nach einem privaten Samenspender: „sehr aufregend!“ Indes hoffen die beiden, dass noch viel mehr Menschen ihre Petition unterschreiben werden.
Aber auch jetzt schon habe sie durch die Organisation der Petition viele Menschen kennengelernt, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie, sagt Lisa T. Ihr habe das viel Kraft gegeben: „Es tut gut zu wissen, dass wir nicht allein sind.“
*Name geändert
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