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Einer der wenigen Guten

Im Alter von 100 Jahren ist der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter verstorben. Er gilt als Moralist, der als Präsident an seinen Idealen versagte. Sein guter Ruf basiert vor allem auf seinem Wirken nach seiner Amtszeit

Von Stefan Schaaf

Jimmy Carter, der am 1. Oktober 100 Jahre alt wurde, ist tot. Der 39. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der von 1977 bis 1981 amtierte, war seit Februar 2023 in seinem Haus in Plains, Georgia, auf eigenen Wunsch medizinisch betreut worden. Er wolle noch so lange durchhalten, bis er seine Stimme für Kamala Harris als Präsidentin abgeben könne, zitierte ihn sein Enkel Chip im August.

Öffentlich gesehen wurde Carter zuletzt in Atlanta bei der Trauerfeier für seine Frau Rosalynn, die im November 2023 starb. Da saß er halb zugedeckt in einem Rollstuhl, mit starrer Mimik und wie im Dämmerschlaf. An seinem 100. Geburtstag beobachtete er den Überflug einer Formation von Jets der US Navy über seinem Haus. Am Sonntag ist er gestorben.

Der Demokrat war der Pechvogel unter den US-Präsidenten. Carter wurde nach nur einer Amtszeit abgewählt, weil er im Amt zu ehrlich gewesen war – seine Bürger zogen 1980 den besseren Schauspieler vor, den Republikaner Ronald Reagan. Jimmy Carter war ein Moralist, der erstmals Menschenrechte über Machtpolitik setzte, vor allem in Osteuropa und der Sowjetunion. Sein Aufstieg aus dem Gouverneurssitz des damals noch ländlichen Georgia ins Weiße Haus überraschte viele. Für den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt war der gläubige Baptist Carter ein stetes Ärgernis – dem nüchternen Hamburger erschien der US-Präsident zu idealistisch.

Aber das ist über vier Jahrzehnte her. Für Carter gab es ein Leben nach dem Weißen Haus. Der global engagierte Ex-Präsident gründete Organisationen, die in Afrika gegen Infektionskrankheiten kämpften und in anderen Ländern des globalen Südens Wahlbetrug verhinderten. Das Carter Center mit Sitz in Atlanta ist seit 1982 Arbeitsplatz für Konfliktforscher und Anlaufstelle für Konfliktbeteiligte. Es hat sich dem Kampf gegen Krankheit, Hunger und Gewalt verschrieben und wird weltweit etwa als Wahlbeobachter geachtet. Kein Präsident der USA hat bisher nach dem Ausscheiden aus dem Amt so viele Jahre produktiv weitergewirkt.

James Earl Carter jr, wie er eigentlich hieß, wurde am 1. Oktober 1924 geboren und wuchs in Plains in Georgia auf einer Erdnussfarm auf – in engem Kontakt zu den meist schwarzen Nachbarskindern. Im Zweiten Weltkrieg diente er als Navy-Leutnant auf U-Booten im Atlantik und Pazifik. Seine politische Karriere begann 1962 im Senat von Georgia. Acht Jahre später wurde er im zweiten Anlauf Gouverneur. Seine damals noch tief im weißen Rassismus verwurzelten Demokraten-Parteifreunde überraschte er mit der Ansage: „Die Zeit der Rassentrennung in Georgia ist vorüber.“

Nach seiner Präsidentschaft zog Carter zurück in seinen Bungalow unter Pinienbäumen, den er 1961 in seinem 800-Seelen-Nest Plains gebaut hatte. Dort stand er bis zuletzt unter dem strikten Schutz des Secret Service. Bis zum Beginn der Coronapandemie 2020 hielt Carter in seiner Kirchengemeinde alle zwei Wochen die Sonntagsschule ab. Aus der ganzen Welt pilgerten Bewunderer herbei, um dies nicht zu verpassen und sich am Ende mit ihm fotografieren zu lassen.

Vor seiner Kirchengemeinde gab Carter 2015 bekannt, dass er an Krebs erkrankt sei. Ein halbes Jahr später konnte er bestätigen, dass er dank Chemo- und Strahlentherapie geheilt sei. Am 7. Juli 2021 feierte er mit seiner drei Jahre jüngeren Frau Rosalynn den 75. Hochzeitstag. Ihr Tod zwei Jahre später beraubte ihn einer Lebensgefährtin, über die er sagte, sie sei „meine gleichwertige Partnerin in allem, was ich erreicht habe“ gewesen. Im Weißen Haus war sie die erste First Lady mit eigenem Mitarbeiter:innenstab. 35 Jahre lang halfen beide jedes Jahr der gemeinnützigen Organisation Habitat for Humanity, Häuser für sozial Benachteiligte zu bauen und zu renovieren.

Am 11. Oktober 2002 wurde Jimmy Carter der Friedensnobelpreis verliehen. Die Symbolkraft der Entscheidung des Stockholmer Komitees war deutlich: In der Nacht zuvor hatten beide Häuser des US-Kongresses Präsident George W. Bush ermächtigt, Irak mit seinem Diktator Saddam Hussein militärisch anzugreifen. Carter wertete seine Auszeichnung in einer ersten Reaktion als Anerkennung für die Arbeit des Carter Center und als „Ermutigung für alle, über Frieden und Menschenrechte nachzudenken“. Der Irakkrieg von 2003 sei unbedacht gewesen und basiere auf Lügen, rügte er dann 2004.

Carter war 1976 als US-Demokrat ins Weiße Haus gewählt worden, in den Nachwehen des Watergate-Skandals und der von dem republikanischen Präsidenten Richard Nixon ausgelösten tiefen politischen Vertrauenskrise. Nixons Nachfolger Gerald Ford hatte seinen Vorgänger 1974 begnadigt und damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Vor allem die jüngeren US-Bürger:innen hofften, dass mit Carter ein Politiker, der frei sei von den eingeübten Washingtoner Kungeleien, dem höchsten Amt im Staat wieder Ansehen verschaffen könnte.

Den Präsidentschaftswahlkampf 1976 begann Carter nach eigener Aussage als „ein Niemand“, seinen Erfolg in den Vorwahlen führte er auch auf die breite Unterstützung durch Popgrößen wie Bob Dylan, Willie Nelson oder Johnny Cash zurück. „Alle kannten die Allman Brothers. Die jungen Leute dachten, wenn die Allman Bro­thers ihn mögen, können wir für ihn stimmen“, sagte er später.

Carter wurde bei den Wahlen vom November 1976 mit einer knappen Mehrheit – 50,1 gegen 48 Prozent für Gerald Ford – 39. Präsident der USA. Und er führte einen neuen Stil in Washington ein: Nach seiner Amtseinführung ging Carter zu Fuß vom Kapitol zum Weißen Haus, die Präsidentenjacht wurde verkauft, und die Speisekarten bei Empfängen in seinem Amtssitz wurden fortan auf Englisch und nicht mehr Französisch verfasst. Seine kleine Tochter Amy sprang bei offiziellen Anlässen herum. Das brachte ihm Pluspunkte bei den Wähler:innen, doch politisch hatte er immer wieder Pech.

Carter kam mit den Hypotheken, die seine Vorgänger hinterlassen hatten, nicht zurande. Die Wirtschaft der USA litt unter hohen Ölpreisen und den Folgen des Vietnamkriegs. Die Inflation und die Hypothekenzinsen erreichten zweistellige Höhen. Ein zweiter Ölschock ließ die Amerikaner 1979 an den Tankstellen Schlange stehen.

Auf dem Höhepunkt der Energiekrise zog Carter sich für eine Woche nach Camp David zurück und hielt danach eine berühmt gewordene TV-Rede, in der er den Bürgern seines Landes eine „Malaise“, eine moralische und spirituelle Krise und einen „Mangel an Zuversicht“ attestierte. Er gestand, dass er allein das nicht ändern könne. Er forderte sie auf, sich nicht im Konsum zu verlieren, selbst ihren Teil zu leisten, etwa Autos zu teilen und die Heizungen niedriger zu stellen. Carters offene Worte wurden nicht von allen gern vernommen, denn er hatte mit dieser Ansage letztlich den American Way of Life infrage gestellt.

Doch es waren außenpolitische Fragen, an denen seine Präsidentschaft am Ende scheiterte. Zunächst war er erfolgreich: Er handelte in kurzer Zeit die Rückgabe des Panamakanals von den USA an Panama aus, was ihm in Lateinamerika hoch angerechnet wurde. Er ging auf Distanz zu den zuvor von den USA unterstützten Militärdiktaturen in Südamerika und akzeptierte 1979 die Machtübernahme der Sandinisten in Nicaragua. Den 1973 eingeleiteten Dialog zwischen Ägypten und Israel trieb er beharrlich voran, bis er schließlich im September 1978 in der Abgeschiedenheit von Camp David die störrischen Verhandlungspartner Anwar as-Sadat und Menachem Begin auf den historischen Deal der nahöstlichen Feinde einschwor.

Die Geburtsfehler des Camp-David-Abkommens wurden bald offensichtlich: Es sollte den Nahostkonflikt unter Ausschluss der palästinensischen PLO beilegen, es sah nur eine halbherzige „Autonomie“-Lösung für das Westjordanland und den Gazastreifen vor, und es sagte nichts zum zukünftigen Status Jerusalems. Doch Camp David bedeutete andererseits Israels Rückzug von der besetzten ägyptischen Sinai-Halbinsel und ein Ende seiner völligen diplomatischen Isolierung in der Region. Begin und Sadat erhielten 1978 dafür den Friedensnobelpreis, ebenso wie 16 Jahre später Jassir Arafat und Itzhak Rabin für das Friedensabkommen von Oslo.

Carter sah Jahre später ein, dass seine Bemühungen zu kurz gegriffen waren, und schrieb 2006 ein Buch mit dem provozierendem Titel („Palästina – Frieden, nicht Apartheid“), in dem er forderte, Israel müsse sich an das Völkerrecht halten und sich aus den seit 1967 besetzten Gebieten zurückziehen. Die Palästinenser müssten ihrerseits Israels Recht anerkennen, in anerkannten Grenzen zu existieren. Die Forderungen bleiben aktuell. Ereignisse in zwei anderen Staaten wurden Carter dann zum Verhängnis: Iran und Afghanistan. In Iran stürzte die schiitische Revolution des Ajatollah Khomeini Anfang 1979 das US-freundliche Regime des Schahs, am 4. November besetzten Studenten die US-Botschaft in Teheran und nahmen 52 US-Diplomaten als Geiseln. Sie forderten die Auslieferung des an Krebs erkrankten Schahs, der in einer Klinik in New York behandelt wurde. Die Botschaftskrise in Teheran zog sich hin und überschattete das Jahr vor der nächsten Präsidentenwahl. Carters Versuch, die Geiseln mit militärischen Mitteln zu befreien, endete mit einem Fiasko: Acht US-Soldaten kamen beim Absturz ihres Helikopters in der iranischen Wüste ums Leben.

Carter erschien somit als Präsident einer hilflosen Weltmacht. Als zu Weihnachten 1979 sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschierten, entschloss sich Carter zu einem harten Kurs gegen Moskau: Er ließ die Olympischen Spiele boykottieren, die 1980 in der sowjetischen Hauptstadt stattfanden, und sicherte den islamistischen Widerstandskämpfern am Hindukusch trotz Zweifeln an ihren politischen Zielen Militärhilfe zu.

Am Ende seiner Amtszeit hatte Carter viele Illusionen eingebüßt. Die Wahl verlor Carter dann gegen den kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan, abermals ein Außenseiter, der nun aber versprach, die Stärke des gedemütigten Landes wiederherzustellen.

Nach der Washingtoner Zeit habe er sich entschlossen, seinen Status als ehemaliger Präsident des mächtigsten Landes der Erde auszunutzen und einige weiße Flecken auszufüllen, sagte Carter einmal. Das Carter Center solle so etwas wie ein permanentes Camp David sein, schwebte ihm vor. Doch dann habe er erkannt, dass Konflikte meist tiefere Ursachen haben: Krankheit, Hunger – oder das Streben nach Freiheit.

Es waren außenpolitische Fragen, an denen der Demokrat Jimmy Carter letztlich scheiterte

Carter entschloss sich, diese Ursachen zum Mittelpunkt seiner Arbeit zu machen. Er wolle da aktiv werden, wo die Vereinten Nationen oder die USA aus unterschiedlichsten Gründen nicht tätig seien, sagte der Demokrat auf der Website des Carter Centers. Er habe begriffen, dass Menschenrechte mehr seien als rein politische Rechte, dass auch Nahrung, Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe dazugehören.

In Afrika arbeitete er daran, Erkrankungen wie die Flussblindheit und die Guineawurm-Krankheit auszurotten. Als Diplomat in eigenem Auftrag oder als UN-Emissär überwachte er mit Mitarbeitern des Carter Centers umstrittene Wahlgänge in fast hundert Ländern, von Nicaragua bis Äthiopien. Er vermittelte 1994 erfolgreich im Konflikt um Nordkoreas Atomprogramm, das beinahe zum Krieg geführt hätte. 2002 traf er Fidel Castro in Kuba, 2008 reiste er nach Syrien und führte in Damaskus Gespräche mit der Führung der palästinensischen Hamas.

Und er schrieb mehr als 30 Bücher und viele Meinungsbeiträge. Scharf kritisierte er zuletzt den Einfluss von Großspenden auf die Wahlkämpfe in den USA. Die Überwachungspraktiken der NSA weckten Zweifel bei ihm, ob die USA noch eine funktionierende Demokratie seien. Obamas Drohnenkrieg wurde von ihm nicht gebilligt, und er kritisierte Folter in Guantánamo. Die USA könnten nicht länger glaubwürdig die Einhaltung von Menschenrechten anmahnen, schrieb er 2012 in der New York Times, solange die Antiterrorpolitik Bushs und Obamas gegen zehn der 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verstoße.

1992 wurde Carter zum letzten Mal eingeladen, eine Rede auf dem Parteikonvent seiner Demokratischen Partei zu halten. Zusammen mit seinen Nachfolgern trat er seitdem in Washington nur noch in Erscheinung, wenn es galt, einen der ihren zu beerdigen. Nun ist er selbst an der Reihe. Schon seit Sonntag wehen alle US-Flaggen in den Vereinigten Staaten auf halbmast, dreißig Tage lang. Am 9. Januar 2025 wird es ein Staatsbegräbnis geben.

Der Autor war von 1986 bis 1989 taz-Korrespondent in den USA. Beim Parteikonvent der Demokraten 1988 in Atlanta kam er Carter so nahe, dass sich beide freundlich zugewunken haben

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