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Rauswurf nach über 100 Jahren

Frankreich muss sein Militär aus Tschad abziehen. Das bisher wichtigste Stationierungsland für die französische Armee in Afrika trennt sich von der ehemaligen Schutzmacht. Die Epoche der Interventionen geht zu Ende

Auf ein Bier im „Haus der Kämpfer“: Barbesuch neben dem zentralen Markt von N’Djamena Foto: Joris Bolomey/afp

Von Dominic Johnson

Tief in der Sahara spielt sich in diesen Wochen Weltgeschichte ab. Frankreichs Militär verlässt Tschad. Die älteste Präsenz europäischer Kampftruppen in Afrika geht damit zu Ende.

Am 28. November 2024 kündigte Tschads Präsident Mahamat Déby die geltenden Militärabkommen mit Frankreich auf. Die Regierungen der Sahelstaaten Mali, Burkina Faso und Niger hatten das bereits getan. Mit Tschad kommt nun das erste der Länder hinzu, aus denen Frankreich nach der Entlassung seiner Afrika-Kolonien in die Unabhängigkeit 1960 nie abgezogen war. Weitere werden folgen. Es ist eine Zeitenwende: Mit Tschad verliert Frankreich seine letzte verbliebene autonome Interventionskapazität in Afrika.

Erst vor zehn Jahren kämpften noch über 5.000 französische Soldaten in der gesamten Sahelzone. 2013 hatten sie in Mali islamistische Rebellen zurückgedrängt. Es folgte die regionale Sahel-Antiterroroperation Barkhane, stationiert in Tschads Hauptstadt N’Djamena, wo Frankreich bislang permanent Kampfjets stehen hatte.

Die Sahelpartner wollen nicht mehr, Barkhane ist abgewickelt, und am 10. Dezember 2024 flogen die Mirage-Kampfjets aus N’Djamena nach Hause, gefolgt von zunächst 120 französischen Soldaten. Am zweiten Weihnachtsfeiertag übergab Frankreich seine Militärbasis Faya-Largeau im Norden Tschads. Abéché im Osten folgt demnächst. In N’Djamena werden jetzt eifrig Frachtflugzeuge beladen. Bis zum 31. Januar soll alles vorbei sein – nach über 100 Jahren.

Zwar zog Frankreich sich bereits aus der Sahelregion zurück. Aber ein Totalabzug aus dem Land, das seit den 1970er Jahren die Drehscheibe für Frankreichs Afrika-Interventionen von Libyen bis Ruanda war? Noch vor wenigen Monaten galt das als undenkbar.

Entstanden ist Tschad am Höhepunkt der französischen Eroberungskriege in der Sahara im Jahr 1900. Als 1962 Algerien nach langem Befreiungskrieg von Frankreich unabhängig wurde, war Tschad der ideale Auffangort französischer Machtprojektion. Denn Tschads Unabhängigkeit 1960 war nur ein Verwaltungsakt, keine Befreiung. Die Armee bestand aus abkommandierten tschadischen Soldaten der französischen Streitkräfte, ausgestattet mit Handfeuerwaffen. Die wahre Macht blieb in Paris. „Wenn Frankreich nicht in Tschad wäre, gäbe es dann ein unabhängiges Tschad?“, brachte einst Frankreichs Präsident François Mitterrand den zentralen Widerspruch des Neokolonialismus auf den Punkt.

Ende der 1970er Jahre versank Tschad in einem Krieg, der dem im heutigen Sudan gleicht. Armeechef Hissène Habré putschte gegen Präsident Goukouni Weddeye. Weddeye holte Hilfe von Libyens Revolutionsführer Gaddafi, Habré von Frankreich. Tschad zerfiel, die Luftwaffenbasis Faya-Largeau mit der größten Landebahn der Sahara war mal in libyscher, mal in französischer Hand. Schon 1983 war von 200.000 Toten die Rede, bei damals rund 4,5 Millionen Einwohnern. Habré obsiegte per Schreckensherrschaft, mit bis zu 40.000 Ermordeten in der Haft, wie nach seinem Sturz durch seinen eigenen Armeechef Idriss Déby 1990 enthüllt wurde.

Idriss Déby regierte danach 31 Jahre lang, mehrmals retteten ihn französische Einsätze vor Rebellen. Aber er baute eine starke Armee auf. Als er 2021 starb, kürten seine Generäle seinen Sohn zum Nachfolger. Der französische Präsident Emmanuel Macron kam zur Inthronisierung. Jetzt wirft der junge Mahamat Déby die alte Schutzmacht hinaus. Auch Senegal und die Elfenbeinküste wollen Frankreichs Militär nicht mehr. Bleiben noch Gabun – und Dschibuti, das militärisch zum Nahost-Krisengürtel zählt.

Tschads Rauswurf im November kam umso verletzender, als einen Tag zuvor Frankreichs Außenminister zu Besuch gewesen war und man ihn nicht informiert hatte. Auf dem Tisch von Präsident Macron lag da bereits ein Konzept zum Teilabzug aus Afrika. Abgesehen von den 1.500 Soldaten in Dschibuti sollten von den restlichen 2.300 noch 600 bleiben: in Tschad 300 statt 1.000, in der Elfenbeinküste 100 statt 600, in Senegal und Gabun je 100 statt je 350. Mit den betroffenen Regierungen waren diese Pläne nicht abgesprochen – eine klassische französische Überheblichkeit in Afrika.

Bei den afrikanischen Partnern ist Selbstachtung und Patriotismus angesagt. „Tchad hourra, France barra“ – Hurra Tschad, Frankreich raus! – stand auf Plakaten, als am 5. Dezember in Abéché Tausende beim amtlich organisierten Aufmarsch auf die Straße gingen. In Faya-Largeau hatte es zuvor Unmut gegeben, als ein französischer Militärarzt einen tschadischen Soldaten erschoss – angeblich zur Abwehr eines Messerangriffs, aber die Einschüsse waren im Rücken. Der Arzt beging in der Untersuchungshaft Suizid. Er sei nach seinem Mali-Einsatz traumatisiert, hieß es.

Tschad dürfte noch traumatisierter sein, nicht nur wegen der verheerenden Kriege. Schon die französische Eroberung war ein Terrorfeldzug gewesen. In Abéché, Hauptstadt des alten Sultanats Ouaddai, brach Frankreich 1917 den einheimischen Widerstand, indem es nach einem Aufstand die jungen Männer hinrichtete und ihre Köpfe am Straßenrand zur Schau stellte. In der Wüstenoase Faya hatte Frankreich 1913 die mächtige Senussi-Bruderschaft bezwungen, aus der später Libyens Königshaus hervorging. Diese zwei Symbolstätten kolonialer Unterdrückung wurden später zwei große Militärbasen, Frankreichs „Augen und Ohren“ Richtung Sudan und Libyen. Und aus N’Djamena heraus spielte Frankreich den „Gendarmen Afrikas“.

Nun endet dieses Kapitel. Frankreichs Abzug findet ohne mediale Begleitung statt, ohne politische Debatten. In Militärblogs, wo sich Veteranen französischer Auslandseinsätze austauschen, wird das bitter kommentiert. Jetzt verkommen unsere Einrichtungen, aber irgendwann werden die Tschader doch wieder die Hand aufhalten, lautet der Tenor. Koloniale Überheblichkeit lebt also weiter – auch bei Emmanuel Macron. Beim Neujahrsempfang der französischen Botschafter in Paris am 5. Januar warf er den afrikanischen Ländern vor, „sie haben vergessen, uns Danke zu sagen“. Mahamat Déby konterte: „Ich glaube, er hat sich in der Epoche geirrt.“

Macron und Déby, 47 und 40 Jahre alt, sind die ersten Präsidenten ihrer Länder, die nach der Kolonialzeit geboren wurden. Jetzt gehen sie getrennte Wege – ein Sinnbild für Europa und Afrika, die nie zu einer gleichberechtigten Beziehung gefunden haben.

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