: Die Perspektive vom Rücksitz
Das Schweizer Bandprojekt Melodies In My Head verbindet mit dem Album „Joy Anger Doubt“ das Drama von 80s-Synthpop mit Stimmen aus der ganzen nichtwestlichen Welt
Von Diedrich Diederichsen
Ethnografie und Popmusik sind Geschwister, Kinder nicht nur derselben technologischen Mutter (flexible, mobile Recording-Technologie), sondern auch desselben kulturellen Dispositivs (Lebendigkeit in ihrer Bedrohtheit, Fragilität dokumentieren). Ihren Unterschied bilden allenfalls die Zwecke, Klassifizieren versus Verwerten – wobei diese beiden dann auch gerade die negativen Horizonte dieser Praktiken darstellen. Ethnografisches Recording war immer eine Inspiration für die Entwicklung von Popmusik, stand aber auch immer im Verdacht der Ausbeutung: von „Burundi Black“ bis zu „My Life in the Bush of Ghosts“. Brian Eno entdeckte in den frühen 1970ern sein erstes Fela-Kuti-Album und erzählte allen, dies sei die Musik der Zukunft: Es war aber auch die Musik der Gegenwart und sie hatte eine Vergangenheit.
Der Schweizer Autor Thomas Burkhalter betreibt im Wissen darum postethnografische Musikarbeit auf verschiedenen Ebenen (als Journalist, Aktivist, Musiker, Veranstalter, Wissenschaftler) als eine der zentralen Kräfte hinter der Organisation Norient. Eines ihrer Ziele besteht seit fast 20 Jahren darin, die Positionen des Musikers wie die des Ethnografen zu revidieren und zu einer neuen interkulturellen Praxis beizutragen.
Nach Büchern wie „Seismographic Sounds. Visions of a New World“ (2015, mit Theresa Beyer und Hannes Liechti), Festivals und Podcasts ist neuerdings auch eine Band entstanden: Melodies In My Head, die er mit dem in der Schweiz etwa als Reggae-Vokalist und Rapper seit Jahren aktiven Daniel Jakob betreibt.
Das Debütalbum der Band, „Joy Anger Doubt“, ist ein ungewöhnlicher Versuch, die anders sensibilisierte, neu ausgerichtete Arbeit mit Musiker_innen und vor allem Stimmen aus allen Teilen der Welt in einen Popmusikkontext zu überführen. Es fallen einem ältere Vorgängerprojekte ein, die sich darum bemühten, andere Erfahrungshintergründe mit aktuellen Zuständen vor unseren mitteleuropäischen Haustüren zu konfrontieren wie die Zusammenstellung „Heimatlieder aus Deutschland“ mit diasporischen Berliner Musiker_innen aus aller Welt, zusammengestellt von Mark Terkessidis und Jochen Kühling, und dann von Leuten wie Gudrun Gut oder Niobe geremixt (2013).
Oder die Reihe „Songs of Gastarbeiter“, eher historisch kompiliert von Imran Ayata, dann aber auch neu gemischt (2014). Schließlich das gemeinsam mit der Gruppe Arivati eingespielte, zweite Album des Hamburger Schwabinggrad Balletts aus dem Umfeld von Ted Gaier, „Beyond Welcome“ (2016). Doch während dieses sich hauptsächlich um Stimmen, politische Positionen und musikalische Beiträge von Geflüchteten, jene um schon länger in der Diaspora lebenden aktiven Musiker_innen kümmerten, also konkrete Situationen eines Typus ansteuerten, geht es Melodies In My Head eher um so etwas wie ein grundsätzliches Protokoll für den Umgang mit Klängen und deren Urheber_innen zu entwickeln. Sie kommen, in welchem Sinne auch immer, aus einer anderen Weltecke und verbinden andere Zwecke und Geschichten mit ihrer Musik.
Burkhalter/Jakob folgen sinngemäß dem Rat der von ihnen konsultierten und zu afrikanischer Kulturpolitik und Musik etwa im Senegal oder in Ghana forschenden Londoner Soziologin Jenny Mbaye: Nimm auf dem Rücksitz Platz, misch dich nicht ein, wenn du keine Ahnung hast, hör gut zu und genieße das Privileg, dich doch sehr nahe bei der Steuerung aufzuhalten. Diese Backseat-Perspektive korrespondiert dann wiederum mit Burkhalters kleinem Manifest einer ethnomusikologischen Ethik, die er auf dem Cover abdruckt.
Musikerinnen aus aller Welt kommen nun vor allem als Spender von Ideen, Wortbeiträgen, Soundbytes, Skits und als Vokalistinnen zu Wort, weniger indem ausdrücklich eine nichtnordwestliche Musik gesucht wird. Die Stimmen aus etwa Kenia und Pakistan werden stattdessen in einem eher einheitlichen Sound integriert, den man am besten als eine Art abstrahierten, aber stark angereicherten Synthie-Pop bezeichnen könnte – also euphorischer 80s-Dramasound. Angereichert mit kantigen stilistischen Neuerungen aus den letzten 20 Jahren von R&B bis Trap, aber in einer klanglichen Einheitlichkeit gehalten, die man bei der polyglotten und polysonischen Orientierung der Norient-Arbeit gar nicht erwartet hätte.
Zudem sind auch manche Statements und die meisten darauf aufgebauten Texte alles andere als spezifisch. Die Rede ist von „Pressure“, „Anger“ und „Doubt“ – Begriffe, die von sich aus nicht mit lokalen Besonderheiten verbunden sind: Wer steht nicht unter Druck? – die aber natürlich Pop-fähig sind. Insofern unternimmt dieses Projekt also den ziemlich kühnen Versuch der De-Exotisierung von nicht nordwestlichen Positionen in der Popmusik. Die eher in den Skits als in den Songs beschriebenen Kämpfe und existenziellen Nöte werden in globalpopfähige, immer nahe an Zucker und Pathos gebaute Hymnen gegossen.
Manche Idee klingt, als wäre sie einem 1980er-Album der Band The Associates entlaufen, anderes ist musikalisch so zeitgenössisch sophisticated, wie man in der aktuellen Jahrzehntmitte nur sein kann. Die große Verbindungsklammer bildet aber schon ein oft nur knapp vor der Cheesyness gestoppter Breitwand-Keyboard-Sound. Man soll sich halt nicht täuschen über die Größe der schon vom Albumtitel versprochenen Emotionen.
Interessanterweise hat man nie das Gefühl, dass diese Soundsprache irgendwie nordwestlich ist und den nichteuropäischen Stimmen gewaltsam einen Hintergrund aufdrängt, der nicht passt. Eher hat es den Anschein, als ob genau diese, zwischen dickem Auftrag und rührender Direktheit aufgespannte Musik so etwas wie das Substrat globalen Hybrid-Pop darstellt. Trennt man chemisch präzise aktuelle, urbane Tech-affine Popmusik zwischen Kenia, Südamerika, Ostasien, Westafrika, Bulgarien, Berlin und Bangladesch von ihren lokalen Anteilen, kommt genau das dabei heraus, was hier zu hören ist.
Der Sud des globalen Pop als Basis einer nichtexotisierbaren Musik des „globalen Südens“? Dass in dieses so entstandene Klangmaterial natürlich auch alle Dysphorien, Entfremdungen und Entwertungen der diese Globalität tragenden ökonomischen Verhältnisse eingedrungen sind, ist nicht zu vermeiden, hätte aber vielleicht auch manchmal einer anderen ästhetischen Antwort bedurft als der übertreibenden Feier. Die Frage stellt sich schließlich auch, wie man all die Melodien aus seinem Kopf wieder herausbekommt.
Melodies In My Head: „Joy Anger Doubt“ (Norient/Bandcamp)
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