Umsturz in Syrien: Freiheit, für einen Moment
Nach dem Fall des brutalen Assad-Regimes treiben Freude, Hoffnung und Ungewissheit die Menschen in Damaskus um. Eindrücke aus einer Stadt im Umbruch.
D as Tor zur Folterzentrale steht weit offen. Davor wachen zwei entspannt wirkende Rebellenkämpfer. Sie laden freundlich ein, ins Innere zu kommen. Ich zögere.
Von meinen vorigen Aufenthalten in Damaskus erinnere ich mich an dieses Geheimdienstgebäude im Zentrum der syrischen Hauptstadt. Ein Ort, von dem niemand sprach, so als gäbe es ihn gar nicht. Trotz der unübersehbaren hohen Betonmauern, an denen man ängstlich schnell vorbei fuhr. Hier stehenzubleiben war undenkbar. Es war das Zentrum des Luftwaffengeheimdienstes in Damaskus, eines von sieben internen Geheimdiensten, deren einzige Aufgabe es war, das Regime Baschar al-Assads zu schützen und sich gegenseitig zu überwachen.
Überall im Innenhof liegen jetzt Dokumente auf dem Boden. Die meisten davon sind Kopien von den Personalausweisen derer, die hier weggesperrt und gepeinigt wurden. Einige von ihnen haben das Teenageralter kaum überschritten. Es ist erst ein paar Tage her, dass jene, die hier überlebt hatten, freigelassen wurden.
Abu Wissam, einer der neuen Wächter, schwingt sich seine Kalaschnikow über die Schulter und führt ins Innere des Gebäudes. Es riecht leicht nach Verwesung. In einer Ecke wurden Foltergeräte wie in einer Rumpelkammer abgestellt. Eisengitter, an denen Menschen kopfüber aufgehängt wurden. Ein grünes Plastikrohr, mit dem die Gefangenen geschlagen wurden, und allerlei undefinierbare Metallgestelle und Pfosten voller Haken, mit deren Hilfe die hier Festgehaltenen in unnatürliche Haltungen gezwungen wurden. Da liegt ein blutiges T-Shirt. „Das ist der Kerzenstuhl“, sagt Abu Wissam und deutet auf ein Gestell, bei dem die Sitzauflage fehlt. Darunter wurde eine Kerze angezündet, nachdem die Gefangenen gezwungen wurden, sich darauf zu setzen.
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„Meine Mutter ist mein Paradies“
Im Büro der Wächter liegt ein Zettel, wahrscheinlich von einem der Folterer geschrieben. „Das größte Geschenk, das das Leben zu bieten hat, ist der Tod“, wurde darauf in schöner arabischer Handschrift notiert. Hat der Verfasser das auch den Gepeinigten gesagt, um ihnen endgültig den Mut zu nehmen?
Die Zellen liegen im Keller. „Die sind bei allen Geheimdienstgebäuden immer im Untergeschoss“, sagt Abu Wissam, der mit der Taschenlampe seines Handys vorausgeht. Es gibt keinen Strom. Jene, die hier unten eingesperrt waren, sahen niemals Sonnenlicht. Weggesperrt „hinter der Sonne“, wie es auf Arabisch heißt, um die zu beschreiben, die in den Kerkern verschwunden sind.
Unter dem Assad-Regime waren es über Hunderttausend Unglückliche, die dort für immer verschwanden und nie wieder auftauchten.
Abu Wissam leuchtet auf eine riesige getrocknete Blutlache am Boden. Er zeigt die winzigen Zellen, in denen die Menschen zu Dutzenden eingepfercht wurden. Viele haben ihre Namen an den Wänden verewigt. Jemand hat ein Gedicht für seine Mutter geschrieben. „Meine Mutter ist mein Paradies“, heißt es dort. Sie alle hatten sicherlich nicht geahnt, dass der Tag kommen würde, an denen jemand anderes außer ihnen und ihren Mitgefangenen diese Inschriften sehen würde. „Gestern kam ein Mann hierher und hat nach irgendetwas von seinem Vater gesucht, der hier vor Jahren weggesperrt wurde. Er hat dann dessen Namen in einer der Zellen gefunden. Auch der Tag seiner Verhaftung war dort eingeritzt“, berichtet Abu Wissam.
Die Freiheit beginnt mit der Öffnung der Zellen
„An jenem Tag musste dieser Sohn mit ansehen, wie sein Vater für immer weggebracht wurde. Er hat ihn nie wieder gesehen. Jetzt hat er als einzige Erinnerung seinen Namen, verewigt in einer der dunklen Kellerzellen. Der Fund ist wie eine Art Abschluss und gleicht einem Begräbnis. Er konnte seinen Vater nie begraben.“
Eine mumifizierte Ratte liegt am Boden. Nur noch Skelett und Fell zeugen von den tierischen Bewohnern dieses Ortes.
Es ist ein Ort des Grauens. Man möchte alle Eindrücke nach einem Besuch von sich abwaschen, die Erinnerung an diesen Ort vergessen. Aber für alle, die hier traumatisiert wurden, oder für die Angehörigen, die in diesen Zellen ihre Liebsten verloren haben, ergibt sich auch eine große offene Rechnung.
Jene, die hier verhörten, folterten und peinigten, jene, die die Befehle dafür gaben und dieses System der Unterdrückung aufbauten – werden sie alle jemals zur Rechenschaft gezogen werden? Die Freiheit beginnt mit der Öffnung der Zellen. Die Gerechtigkeit beginnt damit, die Peiniger nicht davonkommen zu lassen.
Doch was wollen die neuen Machthaber, die meist islamistischen Rebellengruppen, die innerhalb von nur zehn Tagen das implodierte System Assads gestürzt haben?
Welches System stellen sich die Rebellen vor?
Vor einem der alten Offiziers-Clubs im Zentrum von Damaskus, direkt neben dem ehemaligen Militärhauptquartier, ist ein halbes Dutzend Rebellenkämpfer stationiert. Sie gehören der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) an, der größten Rebellengruppe. Sie zeigen ihren Jeep mit aufmontiertem Granatwerfer, mit dem sie vor wenigen Tagen aus der nördlichen Provinz Idlib bis in die Hauptstadt fuhren. Der Granatwerfer kam bisher kaum zum Einsatz, erzählen sie. Das Regime und seine Truppen lösten sich vor ihren Augen auf. „Wir waren selbst überrascht, wie schnell es ging. Aber das zeigt, wie schwach das Regime war“, sagt einer.
Sie haben ein paar Sofas aus dem Offiziers-Club nach draußen geholt, in der Mitte haben sie eine Feuerstelle eingerichtet. Einer der Männer nimmt einen Bilderrahmen, in dem die Reste eines Porträts des gestürzten Präsidenten Baschar al-Assad zu sehen sind, und zerbricht ihn in kleine handliche Stücke. So finden die Reste des Diktators nun Verwendung: als Brennholz fürs Teekochen.
Die jungen Männer kommen aus einfachen Verhältnissen, haben wenig Bildung genossen. Der älteste von ihnen ist Khaled. Er ist 32 Jahre alt, sieht aber mindestens 10 Jahre älter aus. Er ist vor 13 Jahren von Homs vor den Truppen des Regimes nach Idlib geflüchtet. Dort stand er vor dem Nichts und schloss sich dann den Rebellen an.
Ich frage sie, was für eine Art neues Syrien sie sich vorstellen. Es müsste ein islamisches Syrien sein, antworten sie. Aber Syrien bestehe doch aus vielen unterschiedlichen Religionsgruppen, Christen und anderen Minderheiten. Was ist mit denen? Man werde gut mit ihnen umgehen, sie beschützen, sagen sie. Sie seien in Sicherheit, antworten sie. Sie alle wollten eine funktionierende Regierung, Meinungsfreiheit und auch Wahlen, sagen sie.
Was aber, wenn die Mehrheit der Wähler einen säkularen Staat und eine Trennung von Staat und Religion will, frage ich. Sie schütteln die Köpfe. Das könnten sie auf keinen Fall akzeptieren. Assad sei auch ein säkularer Diktator gewesen.
Schließlich kommt einer ihrer Offiziere vorbei. Er nennt sich Abu Obeida. Er fungiert scheinbar als eine Art Politkommissar, sei dafür verantwortlich, dass sich die Truppen islamisch-gemäß verhalten, beschreibt er seine Aufgabe. Er könnte auch radikaler Islamist sein. Mit langem Bart, ein wenig nach afghanischer Mode gekleidet. Ob er das alte Regime zur Rechenschaft ziehen will? „Was die neue Regierung angeht, wir haben allen Soldaten, die Militärdienst leisten mussten und die Waffen abgelegt haben, ihre Sicherheit garantiert. Aber wenn es Beschwerden gibt, über Menschen, die gefoltert, verhört und getötet haben, dann werden die zur Rechenschaft gezogen“, kündigt er an.
Dem würde die Mehrheit der syrischen Bevölkerung wohl zustimmen. Aber wie wollen die neuen Machthaber das schaffen, mit Richtern, die bisher nach Wunsch des Regimes geurteilt haben, und einem Staatsapparat, den sie nun übernehmen, der aber vollkommen auf das alte Regime zugeschnitten ist? Man habe qualifizierte Leute und Spezialisten aus der Provinz Idlib. Aber jetzt brauche es welche für alle Orte Syriens, meint Abu Obeida. „Das bedarf einiges an Organisation. Es ist eine Frage der Zeit. Hoffentlich dauert das nicht all zu lange“, sagt er.
Die Zukunft ist ungewiss
Auch er betont, dass er natürlich ein islamisches Syrien wolle. Aber was für einen Staat er sich vorstellt, da bleibt er vage. „Der Begriff Islamisten, mit dem sie uns bezeichnen, ist ein konstruierter Begriff. Wir sind Muslime. Wir werden freundlich zu unseren Nachbarn sein und niemandem schaden. Wir haben nicht vor, irgendjemanden etwas aufzwingen, wir wollen niemanden dominieren oder unterdrücken“, führt er aus.
Glaubt er, dass diese Worte die Minderheiten im Land, zum Beispiel dies Christen beruhigen werden? „Niemand kann sich am Ende einer ganzen Nation aufzwingen. Keine Religion, keine islamische Gemeinschaft. Am Ende werden die Menschen bestimmen, wer sie regieren soll“, sagt er und lädt zu einem weiteren Tee ein. Es ist eine merkwürdige Mischung aus Freiheitsgedanken, auch geboren aus dieser Stunde, den Diktator losgeworden zu sein, und ihrem islamistischen Hintergrund, der wahrscheinlich mit jedem Tag ihrer Herrschaft mehr in den Vordergrund rücken wird. Nach der vierten Tasse Tee mit den Rebellen und vielen Diskussionen, gibt es vor allem eines: mehr Fragen, wie es mit diesem Land und seinen Menschen weiter gehen wird.
Im Viertel Bab Touma in der Damaszener Altstadt leben vorwiegend Christen. Wenige Tage nach dem Sturz Assads kehrt hier eine Art Normalität ein. Geschäfte haben wieder geöffnet, die Menschen spazieren durch die Gassen. Hier ist auch der Sitz der armenisch-katholischen Kirche. Deren Erzbischof George Asadorian hat gemischte Gefühle. „Veränderung geht immer mit Ängsten einher“, sagt er. Immer wenn es Veränderungen im Nahen Osten gegeben hatte, ob im Irak, in Libyen oder in Ägypten, ging das mit Angriffen gegen Christen einher. „Die neuen Machthaber haben keine terroristische Agenda, aber sie haben einen extrem radikalen Hintergrund und das macht uns Angst“, sagt er.
Er erzählt auch, dass es bereits mehrere Treffen zwischen den christlichen Oberhäuptern und Vertretern der HTS gegeben habe. „Sie haben uns versichert, dass alles besser wird und wir keine Angst haben sollten. Die Botschaft, die sie uns immer wieder schicken, lautet: „Habt keine Angst“, fasst er die Treffen zusammen.
Die Nationale Koalition und die Freie Syrische Armee hätten erklärt, dass sie sogar über einen säkularen Staat nachdächten, also eine Trennung zwischen Staat und Religion. „Das ist genau das, was wir wollen. Ein Land für alle seine Menschen. Religiöse Differenzen trennen. Säkularismus vereint. Sie haben uns versprochen, dass sie an einem Land arbeiten, in dem alle ein Zuhause haben“, sagt Asadorian.
„Wir müssen alle zusammenarbeiten“
Dann mitten im Gespräch ist plötzlich eine Salve aus einem Schnellfeuergewehr zu hören. Irgendwo in einer der Gassen der Altstadt. Eine kurze Erinnerung daran, dass die Lage noch nicht stabil ist. „Hörst du die Schüsse? Das ist nicht ermutigend“, sagt der Erzbischof. „Aber wir sollten abwarten.“ Er könne den Menschen, die aus dem Land geflüchtet sind, gerade noch nicht guten Gewissens sagen, dass alles in Ordnung sei und sie zurückkommen könnten. „Wir warten ab und wir bieten unsere Kooperation an, um ein besseres Syrien für alle zu schaffen. Wir müssen alle zusammenarbeiten für den Frieden in Syrien.“
Syrien und Damaskus werden gerade von so vielen widersprüchlichen Gefühlen beherrscht. Da ist Freude darüber, dass das brutale Assad-Regime Geschichte ist. Hoffnung darauf, dass nun alles besser wird. Aber es gibt auch eine riesige Ungewissheit und Unsicherheit, wie es nun weitergeht.
Die Widersprüche sind oft in einer Szene greifbar. Während ein Autokorso mit jungen Leuten, hupend, freudig und singend durch die Innenstadt fährt, winken die bärtigen neuen Machthaber, die Kalaschnikow über die Schulter geschwungen, den Jugendlichen zu und tanzen mit. Am Himmel israelische Kampfjets zu hören. Es folgt eine Explosion in der Ferne. Eine weitere syrische Militärinstallation geht in Flammen auf. All das sind Momentaufnahmen des neuen Syriens.
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