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Trostlos komische Tristesse

Ein Kommissar mit Liebeskummer, Jugendliche mit Selbstmordneigung – Sasha Filipenkos neuer Roman führt tief ins Herz der russischen Provinz

Von Katharina Granzin

Dass der Ton die Musik macht, gilt im übertragenen Sinne auch für die Literatur. Etwas überspitzt ließe sich behaupten, dass die Wirkung eines Prosa­werks weniger davon abhängt, wovon die Rede ist, als vielmehr von der Art, wie darüber geschrieben wird. Im Fall des russisch schreibenden, im Schweizer Exil lebenden belarussischen Autors Sasha Filipenko bedeutet das: Der grimmige Humor, der für seine Texte charakteristisch ist, macht es erst möglich, auszuhalten, was er zu erzählen hat – ja, es sogar lustig zu finden. Aber ganz nüchtern betrachtet, ist es ein durch und durch trostloses Stück Russland, das Filipenko in seinem Roman „Der Schatten einer offenen Tür“ porträtiert.

Sasha Filipenko: „Der Schatten einer offenen Tür“. Diogenes Verlag, Zürich 2024, 272 Seiten, 21,99 Euro

Dem fiktiven Städtchen Ostrog kommt darin eine Stellvertreterfunktion für die geballte Tristesse der russischen Provinz zu. In das freudlose Kaff, mehrere tausend Kilometer vom heimatlichen Moskau entfernt, wird der Kriminalbeamte Alexander Koslow entsandt, um eine rätselhafte Selbstmordserie unter den jugendlichen Insassen des örtlichen Kinderheims aufzuklären. Bei seinem letzten Aufenthalt in der Stadt hatte der Moskauer Kommissar dafür gesorgt, dass der korrupte ehemalige Bürgermeister von Ostrog ins Gefängnis kam. Seitdem haben sich die Dinge im Ort nicht zum Besseren gewandelt. Und diesmal wird Koslow auch noch von einer ganz privaten, sehr existenziellen Krise geplagt, denn seine Frau hat ihn verlassen, und er kann einfach nicht verstehen, dass es wirklich vorbei ist und warum. Weder die sexuellen Avancen einer Journalistin noch das Karaokesingen, das in der einzigen erträglichen Bar von Ostrog angeboten wird, können den depressiven Ermittler nachhaltig trösten.

Auch die zweite Hauptfigur ist ein tragischer Charakter: Der hypersensible, autistische Petja, selbst ein ehemaliges Heimkind, gilt allgemein als Dorftrottel, hat aber in Wirklichkeit Einsichten in die wahren Zusammenhänge der verstörenden Geschehnisse, die allen anderen verschlossen bleiben. Als Außenseiter ist Petja ein gefundener Sündenbock für den örtlichen Revierinspektor, der sich vor dem Kollegen aus Moskau profilieren und den Fall auf eigene Faust lösen will. Bei der Wahl der Mittel geht er nicht zimperlich vor…

Der grimmige Humor macht es erst möglich, auszuhalten, was er zu erzählen hat – ja, es sogar lustig zu finden

Alle Charaktere sind tendenziell überzeichnet, ohne zur Karikatur zu werden. Durch die kräftige Strichführung werden sie leicht verfremdet und objektiviert, was es uns erspart, zu sehr mit ihnen mitzufühlen. Die Heimkinder, deren Leiden am Leben doch der eigentliche Handlungsanlass ist, tauchen, mit Ausnahme einer einzigen Nebenfigur, als individuelle, handelnde Personen gar nicht auf, sondern sind nur Diskursgegenstand – in den wenig mitfühlenden Äußerungen der erwachsenen Betreuungspersonen und in den Dokumenten der Ermittlungsakten, die Koslow liest und die hier und da in den Erzähltext montiert werden. Die schrägen Dialoge und der unbeirrt lapidare Tonfall von Filipenkos Prosa, mit dem auch die drastischsten Geschehnisse referiert werden, stehen in maximalem Kontrast zu dem emotionalen Elend, in dem sämtliche Figuren leben.

Das hat einen eigenartig komischen Effekt und spiegelt gleichzeitig die empathiefreie Lebenswelt dieser traurigen und dabei radikal egozentrischen, emotional vereinzelten Menschen, inmitten derer allein der Außenseiter Petja – ein moderner Wiedergänger von Dostojewskijs „Idiot“ – anderen Gutes tut, ohne für sich selbst auf Vorteile zu hoffen. Das alles liest sich weg wie ein flott geschriebenes Stück absurdes Theater. Aber es ist böse, weil man sehr wohl ahnt, wie nah dahinter die Realität liegen muss.

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