piwik no script img

„Es scheinteinDomino-Effekt“

Wie weiter in Nahost? Schriftsteller Najem Wali, Vizepräsident des PEN Deutschland, über Unterschiede beim Feiern. Und die Chancen für einen demokratischen Neuanfang in Syrien

Interview Andreas Fanizadeh

taz: Herr Wali, aktuell wirbt eine große deutsche Fluggesellschaft mit dem Satz: „Der Nahe Osten ist ganz allgemein für einen Kurzurlaub super geeignet und besticht durch etliche Möglichkeiten für einzigartige Silvester­arrangements.“ Wie ist das mit Silvester und dem Neujahrsfest, feiert man das auch im Nahen Osten – jüdisches Neujahr wäre am 2. Oktober, persisches oder kurdisches Nouruz-Fest am 21.März?

Najem Wali: In einigen arabischen Ländern schon. In vielen leben ja auch christliche Minderheiten. In Irak, Syrien, Libanon, Marokko oder den Arabischen Emiraten ist der 1. Januar ein offizieller Feiertag. In Ägypten war das früher auch so. Auch in Libyen, wo dies aber gerade abgeschafft wurde.

taz: Sie leben seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik. Geboren und aufgewachsen sind Sie im schiitisch geprägten Südirak, in Basra. Wie hat man dort Nouruz, Neujahr, gefeiert?

Wali: Es gab wunderbare Rituale. Mit meiner Mutter bin ich an das Ufer des Schatt al-Arab gegangen. Man setzte Kerzen auf die Rinde von Palmen, zündete sie an und ließ sie über das Wasser treiben. Das taten nur die Frauen. Und es musste für jedes Kind eine eigene Kerze sein. Es sah wunderschön aus, wie die Lichter in der Dämmerung auf die Reise geschickt wurden.

taz: Heute praktiziert man diesen Brauch nicht mehr?

Wali: Nein. Nach den acht Jahren des Kriegs mit Iran in den 1980ern verband man Feuer und Licht mit Gefahr. Während des Kriegs durfte man kein Licht anmachen, schon gar nicht offen am Wasser. Diese Tradition wurde wie so vieles vom Krieg zerstört. Im Sommer hatte ich früher immer auf dem Dach geschlafen. Auch das ist vorbei.

taz: Gefeiert haben zuletzt viele Menschen in Iraks Nachbarland Syrien. Woran dachten Sie, als Sie die Bilder vom Sturz des Regimes in Damaskus sahen?

Wali: Die Aufnahmen erinnerten mich an den 9. April 2003 im Irak. Als die amerikanischen Marines in Bagdad einmarschierten und Saddam Hussein stürzte. In Syrien waren es natürlich hauptsächlich einheimische Milizen, die den Tyrannen stürzten. Doch auch im Irak war zunächst die Freude groß. Kinder und Jugendliche feierten auf den Straßen, Denkmäler wurden vom Sockel geholt.

taz: Im Irak regierte wie in Syrien die Baath-Partei.

Wali: Der irakische und der syrische Flügel der Baath waren aber verfeindet. Beide vertraten eine großarabische Ideologie, den Panarabismus mit (na­tion­al-)sozialistischer Prägung. In Syrien waren die Alawiten gegenüber den Sunniten in der Minderheit. Über den Panarabismus suchten die Alawiten und die al-Assads nach einer Legitimität für ihre Herrschaft über das Land. Im Irak war es genau umgekehrt. Hier waren die Sunniten in der Minderheit. Und Saddam nutzte die Ideologie des Panarabismus, um sich gegenüber der Mehrheit der Schiiten durchzusetzen. Die verfeindeten Baath-Parteien formulierten jeweils einen totalen Machtanspruch über die Staatsgrenzen hinweg.

taz: Mit dem Bild der Aufständischen in der historischen Zitadelle von Aleppo Anfang Dezember spürte man: Jetzt könnte das Regime in Syrien fallen. Was ist Aleppo für eine Stadt?

Wali: Die Bilder aus Aleppo waren tatsächlich ein starkes Symbol. Aleppo ist eine sehr schöne Stadt und alte Handelsmetropole. Hier war man nicht scharf auf den syrischen Bürgerkrieg. Doch die Stadt wurde nach 2011 zu einem Zentrum des Aufstands. Sie wurde von Regime-Truppen eingeschlossen, von den Russen aus der Luft bombardiert und bis zur Kapitulation ausgehungert. Was mir aber jetzt besonders auffiel, war, wie leicht die Denkmäler der Assads vom Sockel zu holen waren. Als wären sie aus Pappe. Bei den großen Statuen Saddam Husseins in Bagdad brauchte man Bulldozer und Stahlseile. Al-Assads Herrschaft war aus Pappe, die Sockel seiner Denkmäler hohl.

taz: Sie sind auch Vizepräsident der Schriftstellervereinigung PEN Deutschland mit Sitz in Darmstadt. Die syrische Autorin Kholoud Charaf hat den Sturz des Regimes in Damaskus auf der Website des PEN Deutschland begrüßt, warnt aber auch vor islamistischen Gruppen wie HTS (Hai’at Tahrir al-Scham). Was meinen Sie, können Syriens Islamisten sich so weit mäßigen, dass sie Bürger-, Frauen- und Minderheitenrechte achten werden?

Wali: Ich zweifle daran. Bei aller Freude über den Sturz des Assad-Re­gimes, den Rebellen gehören Gruppen an, die Teil von al-Qaida oder IS waren. Der Chef der syrischen HTS-Rebellen, al-Jolani, hat nach 2003 im Irak gekämpft. Er war in Abu Ghraib eingekerkert. Er wurde danach Chef der Al-Nusra-Front in Syrien, auch wenn er später mit al-Qaida gebrochen haben soll. Auf ihn sind 10 Millionen US-Dollar Kopfgeld von den USA ausgesetzt. Er wird jetzt wohl auf eine Amnestie spekulieren.

taz: Unmittelbar nach dem Sturz Assads gaben sich die Rebellen aber doch relativ gemäßigt?

Wali: Für die Medien, ja. Das haben wir ebenso bei den Taliban erlebt. Oder bei Chomeini 1979 in Iran. Und auch im Irak. Al-Jolani zelebrierte jedoch seinen großen Auftritt in Damaskus jetzt in der Umayyaden-Moschee. Und der vorläufige Ministerpräsident, Mohammed al-Baschir, stellte bei seiner TV-Ansprache neben die syrischen Fahne eine Islamistenflagge.

taz: Millionen Menschen flüchteten seit 2011 aus Syrien ins Ausland. Im Bürgerkrieg sollen über 600.000 Menschen gestorben sein, viele ermordet durch das Regime. 100.000 Menschen sollen in den Folterkellern Assads verschwunden sein. Wie ist da ein Friedensprozess überhaupt vorstellbar?

Wali:Es ist sehr schwierig. Wollte man eine Demokratie, müsste eine Übergangsregierung alle Gruppierungen und vor allem die Minderheiten beteiligen. Die Verbrechen müssten aufgearbeitet werden. Wenn ich aber die neuen Minister mit den Bärten sehe, schwindet mein Vertrauen. Was ist mit den Drusen im Süden, den Christen, den Jesiden oder den Kurden im Nordosten? Was mit den laizistischen Kräften, was mit den Frauen? Und welche Rolle wird Erdoğans Türkei weiter in Syrien spielen?

taz: Ihr Heimatland Irak versank nach dem Sturz Saddams im Chaos. Es wurde zum Aufmarschgebiet ex­trem gewaltbereiter Dschihadisten sowie zum Exportkorridor für Irans schiitischen Extremismus über den Irak und Syrien hinweg bis zur Hisbollah in den Libanon.

Wali: Das ist die Gefahr. Für Erdoğan geht gerade ein Traum in Erfüllung. Assad weg, Irans Mullahs zurückgedrängt und er mit den sunnitischen Milizen in der Offensive. Er setzt die Kurden ex­trem unter Druck. Erdoğans aggressive Rhetorik gegen Israel, aber auch Israels Vorrücken auf Golan und Berg Hermon bergen die Gefahr weiterer Konfrontationen. Dabei haben Israels Militärschläge nach dem 7. Oktober entscheidend dazu beigetragen, dass Assad gestürzt werden konnte.

taz: Warum sind Israel die Kon­trolle über die Golanhöhen und den Berg Hermon so wichtig?

Wali: Damit sie vom Gebirge aus nicht beschossen werden können. Und es geht um die Wasserressourcen. In der Region dreht sich vieles um das knappe Wasser. Dort gibt es viele Quellen.

taz: Trauen Sie Erdoğans Türkei oder anderen wie den Arabischen Emiraten eine mäßigenden Einfluss auf die sunnitischen Milizen in Syrien zu?

Wali: Die laizistische Opposition in Syrien hat sich zuletzt bei Großdemonstrationen gezeigt. Aber da Assad und die Baath-Partei sich einen laizistischen Anstrich gaben, hat sie es gegen die religiöse Propaganda schwer. Am stärksten wären die Kurden. Aber sie werden von Erdoğan militärisch in die Zange genommen. Vielleicht gab es auch Absprachen zwischen der Türkei, Russland und Iran. Vor dem Sturz Assads saßen sie in Doha alle zusammen.

taz: Zieht sich Russland aus der Region nun ganz zurück?

Wali: Libyen soll wohl Russlands neue Drehscheibe werden. Mit den dortigen Islamisten hat Putin genau so wenig ein Problem wie mit Kadyrow in Tschetschenien. Geschwächt sind vor allem Irans Mullahs. Aus dem Irak haben sich viele ihrer Leute bereits nach Iran abgesetzt. Seit Damaskus gefallen ist, trauen sich ihre Milizen dort nicht mehr, Israel mit Raketen und Drohnen aus dem Irak anzugreifen. Es scheint ein Dominoeffekt: erst Hamas und Hisbollah, dann Assad, Irak und am Ende die Mullahs in Iran selbst. Der Ton in Bagdad ist jedenfalls schon ein ganz anderer. Das merke ich auch persönlich.

taz: Woran?

Najem Wali

geboren 1956,in Basra, ist ein in Deutschland lebender irakischer Schriftsteller. In seinem epochalen Roman „Engel des Südens“ erzählt er die Geschichte des post­kolonialen Irak. Zuletzt er­schienen „Soad und das Militär“ sowie „Stadt der Klingen“.

Als Vizepräsident des PEN Deutschlandist er Herausgeber der am 8. Januar erscheinenden Anthologie „25 Jahre Writers in Prison“ mit Beiträgen von Swetlana Alexijewitsch, Barbaros Altuğ, Aslı Erdoğan, Volha Hapeyeva und Sergei Lebedew.

Wali: Da ich als ein arabischer Schriftsteller Israel nicht boykottiere, werde ich als „Normalisierer“ beschimpft. Jetzt bekomme ich plötzlich freundliche Einladungen aus Bagdad und Artikelanfragen. Zuletzt galt ich als Persona non grata, weil ich Israel ein Existenzrecht zugestehe und für die Zweistaaten­lösung bin. Die Stimmung ist auch dort gekippt.

taz: Hetze gegen USA, Israel und Juden wurden in Syrien über Jahrzehnte systematisch betrieben. Könnte das nicht auch mit den al-Assads einfach verschwinden?

Wali: Wenn es hier um Logik ginge, schon. Aber wir befinden uns im arabischen Raum. Israel ist ein Thema für alle. Die Machthaber Ägyptens, Jordaniens oder der Emirate haben formal Frieden mit Israel geschlossen. Ihre Staatenlenker sind also „Normalisierer“, denn die Straße und die Prediger sind weiter dagegen. Wie die meisten arabischen Intellektuellen auch, selbst wenn sie Exil im europäischen Ausland finden. Das erlebe ich immer wieder.

taz: Islamisten, Militärs und Autokraten sind oft Komplizen bei der Unterdrückung von Minderheiten oder Meinungsfreiheit. Der PEN Deutschland unterstützt den Aufruf zur Freilassung des laizistischen Schriftstellers Boualem ­Sansal in Algerien. Das Medienportal Perlentaucher und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels haben ihn initiiert. Wie stark ist die Unterstützung für Sansal?

Wali: Immerhin setzt sich Frankreichs Präsident Ma­cron für Sansals Freilassung ein. Sansal hat das algerische Regime schon lange herausgefordert. Er setzt sich in seinen Romanen kritisch mit der Situation in Algerien auseinander. 2003 wurde es aus dem Staatsdienst entfernt. In Deutschland wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2011 ausgezeichnet. Er kritisiert die postkoloniale korrupte Elite seines Landes, ebenso den politischen Islam. Zuletzt hatte er gegen Algeriens Haltung gegenüber Marokko und der Westsahara-Frage polemisiert. Als PEN Deutschland fordern wir seine unverzügliche Freilassung.

taz: Der PEN Deutschland existiert seit nun 100 Jahren. Zum Jubiläum erscheint im Januar die Anthologie „25 Jahre Writers in Exile“ mit Beiträgen von Barbaros Altuğ, Aslı Erdoğan, Volha Hapeyeva, Sergei Lebedew oder Swetlana Alexijewitsch. Das größte Kapitel trägt den Titel „Beheimatet im Exil“. Warum diese Überschrift?

Wali: Für viele wie mich liegt die Heimat eines Schriftstellers in seinem Schreiben. Egal wo man lebt. Die besten Texte sind oft die, in denen man sich frei machen konnte von dieser Exil­situa­tion. Man hat seine neue Heimat im Schreiben gefunden. Das sollte sich damit ausdrücken.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen