: Stimmungsmache auf wackligen Beinen
Nach der verhinderten Abschiebung eines Somaliers aus einer Kirche kritisiert Bremens Bürgermeister die hohe Zahl von Kirchenasylen im Bundesland. Doch die vom Innenminister verbreitete Quote ist falsch
Von Eiken Bruhn
Nach der gescheiterten Abschiebung eines jungen Somaliers nach Finnland vor einer Woche bezichtigt Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) Bremer Kirchengemeinden, Menschen Kirchenasyl zu gewähren, ohne dass ein besonderer Härtefall vorliegt. „Angesichts der auch im bundesweiten Vergleich außergewöhnlich hohen Fallzahlen bestehen berechtigte Zweifel, ob sich das Bremer Kirchenasyl derzeit tatsächlich auf solche Einzelfälle beschränkt“, wurde er in einer am Dienstag verbreiteten Pressemitteilung zitiert.
Mit „solchen Einzelfällen“ sind Menschen gemeint, deren Leben oder Gesundheit nach Überzeugung von Mitgliedern einer Kirchengemeinde bei einer Abschiebung aus Deutschland stark gefährdet ist. Diese gewähren ihnen deshalb so genanntes Kirchenasyl, eine deutsche Besonderheit, und lassen sie in ihren Gemeinderäumen leben, bis sie nicht mehr unmittelbar von Abschiebung bedroht sind.
Fast immer handelt es sich um Menschen, die in einem anderen EU-Land zuerst als Asylsuchende registriert wurden und nach dem Dublin-Verfahren dorthin zurückgehen müssten. Nach sechs Monaten in Deutschland dürfen sie hierzulande Asyl beantragen. Wenn Kirchengemeinden wie im Fall des jungen Somaliers davon überzeugt sind, dass eine Abschiebung in das andere Land nicht zumutbar ist, nehmen sie sie solange auf, bis die Frist um ist. In der Regel handelt es sich um wenige Tage oder Wochen. Die deutschen Behörden haben dies bisher toleriert.
Nun steigen die Kirchenasyl-Fälle aufgrund der zunehmend rigideren Migrationspolitik in den europäischen Ländern bundesweit seit 2022 an; beim Bundesamt für Migration (Bamf) gingen von Januar bis Oktober 2024 2.032 Kirchenasylmeldungen ein. Im ganzen Jahr 2023 waren es 2.065 Meldungen.
In der Regel handelt es sich um Alleinstehende, weil nur wenige Kirchengemeinden die Möglichkeit haben, Familien Unterkunft zu gewähren. Besonders stark war der Anstieg in Bremen: 2023 gab es nach Angaben der Bremischen Evangelischen Kirche 92 Kirchenasyl-Fälle, 2019 nur 33. Das hat damit zu tun, dass Bremen erst seit 2023 wieder in andere europäische Länder überstellt und der Druck auf in Bremen lebende Geflüchtete gestiegen ist.
In diesem Jahr sollen es nun schon 202 Fälle gewesen sein. Diese Zahl gab Bremens Innensenator Ulrich Mäurer im Gespräch mit Bremer Medien bekannt, auch sein Partei-Genosse Andreas Bovenschulte bezieht sich darauf. Diese hohe „Bremer Kirchenasylquote“ sei „natürlich auch ein Problem, das die anderen Bundesländer irritiert“, sagte Mäurer in einem Interview. So kämen auf 100.000 Einwohner:innen in Bremen 29,2 Kirchenasyle, im Schlusslicht Baden-Württemberg seien es 0,2 und beim Zweitplatzierten Berlin 4,44, wie aus einem von seiner Behörde ausgearbeitetem Schaubild hervorgeht. Zudem würden Bremer Kirchengemeinden Menschen aufnehmen, die nicht in Bremen leben. „Die kommen aus Hamburg, Hannover oder sonstwo hierher, um in einer hiesigen Kirche Zuflucht zu erhalten.“
Doch die vom Bremer Innensenator verbreitete Zahl ist falsch. Tatsächlich waren es nach Angaben der Bremischen Evangelischen Kirche in diesem Jahr 125 Kirchenasyle, 37 kamen davon aus anderen Bundesländern, die ihnen als Wohnsitz zugewiesen worden waren, wobei acht davon in Schwanewede gemeldet sind, was an Bremen angrenzt.
Lars Ackermann, Geschäftsführer des Vereins Zuflucht
Auf 202 Fälle kann man nur kommen, wenn man die Bremerhavener Gemeinden miteinbezieht, die aktuell Kirchenasyl gewähren. Diese gehören aber nicht zur Bremischen Evangelischen Kirche und werden deshalb in der Bremer Statistik nicht mitgezählt, was ein Sprecher des Bremer Innensenators bestätigte. Drei von ihnen gehören zur Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover. Diese wiederum gibt an, in Bremerhaven habe es in 2024 bisher 100 Kirchenasyl-Fälle gegeben. Von diesen kommen zwangsläufig alle aus anderen Bundesländern, weil es in Bremerhaven keine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete gibt.
„Man kann es nicht anders sagen: Der Innensenator macht mit diesen Zahlen Stimmung, um einen Keil in die Bremische Evangelische Kirche und in die bisher sehr solidarische Stadtgemeinschaft zu treiben“, sagt Lars Ackermann, Geschäftsführer des Vereins Zuflucht, der die Bremer Kirchenasyle koordiniert. Sieben Gemeinden seien derzeit daran beteiligt, darunter befinden sich auch eine methodistische und eine baptistische, also freie Gemeinden außerhalb der Landeskirche. Zudem hätte sich nichts an der Praxis der Gemeinden geändert, jemand nur nach gründlicher Prüfung aufzunehmen.
Am Montag entschied das Bremer Verwaltungsgericht, dass die Überstellungsfrist im Fall des jungen Somaliers nicht von sechs auf 18 Monate verlängert werden darf. Dies hatte zuvor das Bundesamt für Migration auf Anregung der Bremer Ausländerbehörde verfügt.
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