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orte des wissensPlattdeutsch gibt’s auch in Berlin

Der Hamburger Verein für niederdeutsche Sprachforschung legt nicht nur seine NS-Vergangenheit offen, sondern ergründet auch stetig neue Facetten des „Platt“, etwa in den Medien

Die Pläne entstehen beim Bier, immer am Freitagabend. Sieben Männer um die 30 begeistern sich 1872 für das Plattdeutsche: ein Archivar, ein Historiker, ein Schriftsteller und ein Sprachforscher. Sie gründen im Herbst 1874 in Hamburg den Verein für niederdeutsche Sprachforschung (VndS) – noch bevor ein akademisches Fach Niederdeutsch existiert.

Die philologische Gesellschaft mit dem Ziel der Erforschung der niederdeutschen Sprache in Literatur und Dialekt hat bald rund 200 Mitglieder. „Wir betreiben keine Sprachförderung, die auch in die allgemeine Öffentlichkeit hineinwirkt, wie das Niederdeutsch-Sekretariat in Hamburg, sondern sind allein wissenschaftlichen Zielsetzungen verpflichtet“, sagt Robert Langhanke, Vorstandsmitglied des VndS.

„Unser ,Niederdeutsches Jahrbuch‘ und das ,Korrespondenzblatt‘ erscheinen seit fast 150 Jahren, außer in Kriegs- und frühen Nachkriegszeiten“, sagt er. „Diese Periodika sind das inhaltliche Aushängeschild des Fachs. Sie enthalten aktuelle Forschungsresultate, Experten stellen ihre Arbeitsergebnisse vor. Die Zeitschriften eröffnen Einblicke in die wissenschaftliche Beschäftigung mit der niederdeutschen Sprache und Literatur in ihrer gesamten Breite“, sagt Langhanke.

Das jüngste Jahrbuch (2023) etwa bietet Beiträge zur „Jugendsprache Niederdeutsch“ und den „Einstellungen Hamburger Jugendlicher zum Niederdeutschen“, zu „Plattdeutsch in Berlin“ und einen Rezensionsteil. Traditionsreich sind auch die jährlichen Pfingsttagungen. Dabei geht es um die Nähe von Niederdeutsch und Niederländisch, um Niederdeutsch in der Stadt, um die Vermittlung des Niederdeutschen oder – wie 2025 – um die Wissenschaftsgeschichte des Niederdeutschen.

Wie schafft der Verein mit jetzt rund 350 Mitgliedern diese Kontinuität? „Es gehört zum Charme des,kleinen Faches‘, dass unsere Pfingsttagungen wie eine soziale Institution wirken“, sagt Langhanke. Diese Begegnungen in Städten des niederdeutschen Sprachgebietes seien wie wissenschaftliche Familientreffen. Dabei erzeuge das Niederdeutsche immer neue Fragestellungen.

Der VndS sei „der einzige wissenschaftliche Verein für niederdeutsche Sprache und Literatur in Deutschland“, schrieb das „Hamburger Fremdenblatt“ 1929 zum 50. Jubiläum. Allerdings gehöre zu einem starken VndS ein lebendiges Fach Niederdeutsch, sagt Langhanke. Entscheidend war, dass in Hamburg 1912 und in Rostock 1920 Professuren für Niederdeutsch entstanden.

Agathe Lasch, Niederdeutsch-Professorin und bis 1933 im Verein, wurde 1942 von NS-Schergen bei Riga ermordet

„Diese Institutionalisierung der Niederdeutschen Philologie ist fest mit unserem langjährigen Bestehen verknüpft“, sagt Langhanke. Denn aus den Hochschulen kämen die meisten inhaltlichen Beiträge und die Engagierten für die Vereinsarbeit. Langhanke selbst lehrt an der Europa-Universität Flensburg Niederdeutsche Sprache und Literatur, der VndS-Vorsitzende Michael Elmentaler ist Ordinarius an der Kieler Universität. Das kleine Fach macht alles sichtbar – auch dass sich Agathe Lasch, erste Niederdeutsch-Professorin an der Hamburger Universität, als Jüdin 1933 aus dem VndS-Vorstand auszutreten gezwungen sah. Lasch, die Koryphäe, wurde 1934 durch das NS-Regime zwangsemeritiert. 1942 wurde sie deportiert und bei Riga ermordet.

Diese persönliche Tragödie sei eine Katas­trophe „und in so einem kleinen Fach unglaublich spürbar“, so Langhanke. Doch der Verein legt die (Selbst-)Gleichschaltung im Nationalsozialismus offen. Und bezieht in seine Arbeit neue Themen wie „Niederdeutsch-Didaktik“ oder „Niederdeutsch in den Medien“ ein. Damit gelingt dem VndS neben selbstkritischer Erinnerung beides: das Potenzial der niederdeutschen Sprache und die Innovationsfähigkeit des Fachs aufzuzeigen. Frauke Hamann

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