Spielfilm „The Outrun“: Wo der Sturm zur Ruhe kommt
Es wird niemals einfacher. Nora Fingscheidt inszeniert mit „The Outrun“ eine eindringliche Erzählung über die Alkoholsucht einer jungen Frau.
Junge Frauen, die unter einer Alkoholabhängigkeit leiden, sind eine Seltenheit – jedenfalls im Kino. Abseits filmischer Darstellungen hingegen haben junge Frauen gleichaltrige Männer beim riskanten Alkoholkonsum, zumindest in Deutschland, eingeholt. Das belegen Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Nora Fingscheidt wendet sich somit auch in ihrem zweiten englischsprachigen Film einem kaum beleuchteten weiblichen Erfahrungshorizont zu.
Basierend auf den Memoiren von Amy Liptrot erzählt „The Outrun“ die Geschichte der 29-jährigen Rona (Saoirse Ronan), die in ihre Heimat, auf die schottischen Orkney-Inseln, zurückkehrt, um ihre Sucht zu überwinden.
Bereits mit ihrem Drama „Systemsprenger“ schuf die deutsche Regisseurin ein eindringliches Porträt eines Mädchens, das durch alle Raster der Hilfs- und Betreuungssysteme fällt. Auch „The Outrun“ folgt seiner Protagonistin mit unaufdringlichem Feingefühl, ohne in Sensationslust oder übertriebene Dramatisierung zu verfallen.
„The Outrun“. Regie: Nora Fingscheidt. Mit Saoirse Ronan, Paapa Essiedu u. a. Deutschland/Vereinigtes Königreich, 118 Min.
Stattdessen zeigt der Film einen von schmerzhaftem Hadern geprägten Heilungsprozess. Das Drehbuch, an dem auch die Autorin der Buchvorlage mitwirkte, umfasst durchaus die klassischen Stationen einer Suchtgeschichte: Auf Ronas berauschende Euphorie folgt der schleichende Verfall und schließlich der Tiefpunkt, der den ersten Schritt in Richtung Therapie einläutet, die von Rückschlägen begleitet ist.
Sensible Charakterstudie
Doch in „The Outrun“ wird dieses gängige Narrativ variiert, indem die lineare Chronologie aufgebrochen und stattdessen in Fragmenten erzählt wird. Erinnerungen und gegenwärtige Erfahrungen setzen sich wie Puzzleteile zu einer sensiblen Charakterstudie zusammen.
So zeigt der Film, bevor Rona zu Beginn nach Hause reist, lediglich erste Zerrbilder eines Abends in London, der sich im weiteren Verlauf als ihr bislang heftigster Absturz herausstellt: Nachdem sie in den frühen Morgenstunden aus einem Pub geworfen wird, schleppt sie sich mit letzter Kraft in das Auto eines Fremden.
Empfohlener externer Inhalt
Statt sie wie versprochen nach Hause zu bringen, verprügelt der Mann sie. Nur das entschlossene Eingreifen eines Passanten verhindert noch Schlimmeres.
Auf der Insel, wo sie ihrem Vater (Stephen Dillane) auf der Farm hilft, Ställe ausmistet und Lämmer zur Welt bringt, kehren solche Erinnerungsfetzen zurück, wie Flashbacks nach einem rauschinduzierten Filmriss flackern sie auf. Oftmals kreisen sie um Daynin (Paapa Essiedu), Ronas Ex-Freund. Über das unzählige Male gebrochene Versprechen, dass sie mit dem Trinken aufhören werde, setzt er sich ihren immer drastischeren Eskapaden aus, ehe er sie schließlich verlässt.
Traumatische Kindheit trägt Mitschuld
Auf eine letztgültige Erklärung dafür, warum Rona trotz einer vielversprechenden Karriere als Biologin und eines abwechslungsreichen Lebens in den Alkoholismus abrutschte, verzichtet „The Outrun“ wiederum. Statt die komplexen Ursachen für eine Suchterkrankung zu simplifizieren, deutet das Drama lediglich an, dass eine traumatische Kindheit einen bedeutenden Anteil daran trägt.
Die bipolare Störung ihres Vaters, von dem sich die Mutter Annie (Saskia Reeves) vor Jahren trennte und sich danach in einen strengen Glauben flüchtete, hat allerdings auch in der Gegenwart noch schwere Auswirkungen und stellt als Teil einer dysfunktionalen Familiendynamik eine der zentralen Herausforderungen für Ronas Abstinenz dar.
Da sie bei ihren Eltern keinen Halt finden kann, zieht es Rona immer wieder hinaus in die Natur. Die Kamera von Yunus Roy Immer („Systemsprenger“) fängt die melancholische Schönheit des abgelegenen Archipels, seine steilen Klippen, die tosenden Wellen und den meist wolkenverhangenen Himmel in stimmungsvollen Bildern ein.
Die raue Umgebung wird so zu Ronas eigentlichem Gegenüber erhoben, das sowohl sicherer Rückzugsort als auch einengendes Gefängnis ist. Erst durch diese erzwungene Einsamkeit erkennt sie, dass es genau dieses Zurückgeworfenseins auf sich selbst bedarf – dass sie allein mit sich sein muss, um zu sich zu kommen.
Es wird niemals einfacher
Das Gespräch mit einem anderen Inselbewohner, der Rona von seiner eigenen Suchtgeschichte erzählt, erweist sich so als ein wichtiger Schlüsselmoment. „Es wird niemals einfacher“, sagt er zu ihr, „es wird nur weniger schwer.“
Dieser Satz, der auf eine andauernde Auseinandersetzung mit der Sucht, aber auch dem Selbst und den Dingen, die den Drang nach Betäubung verstärken, verweist, macht die Endlosigkeit des inneren Kampfes, den Rona zu führen hat, in seiner Härte spürbar.
Gerade durch diese Verweigerung einfacher Antworten und die konsequente Konzentration auf die Alltäglichkeit des Kampfes seiner Protagonistin entwickelt „The Outrun“ eine stille, aber nachdrückliche Kraft. Besonders in den introspektiven Momenten gelingt es Saoirse Ronan, ihrer Figur eine beeindruckende Menschlichkeit zu verleihen. Die Hoffnung, die ihre Rona am Ende empfindet, mag klein sein – aber sie ist echt. Und genau darin liegt die Stärke dieses eindringlichen Porträts eines Heilungsprozesses.
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