Tag der Menschen mit Behinderung: Kein Recht auf Schule?
Wenn es um das Grundrecht auf Bildung geht, werden in Berlin bei Kindern mit Behinderungen immer wieder Ausnahmen von der Schulpflicht gemacht.
Wie die beiden müssen viele andere Kinder mit Behinderung für ihr Recht auf Schule kämpfen. Mindestens 1.000 Kinder in Berlin sind unbeschult, viele weitere sind oder waren es zeitweise, schätzt das Berliner Bündnis für schulische Inklusion, das in Kontakt mit vielen einzelnen der betroffenen Familien steht. Silke Groth von der Fachstelle MenschenKind für chronisch kranke und pflegebedürftige Kinder schätzt, dass 2.000 bis 3.000 Kinder in Berlin nicht oder nur zeitweise beschult werden.
In Deutschland gilt eigentlich die Schulpflicht, auch für Kinder mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Trotzdem gibt es Gründe dafür, dass Berliner Schüler*innen ganz legal vorübergehend nicht in die Schule gehen müssen. Entweder ist ein Kind wiederkehrend oder chronisch krank, dann wird es zu Hause oder in der Klinik unterrichtet. Oder es bedroht oder gefährdet Andere durch sein Verhalten – und ist nur durch das Ruhen der Schulpflicht davon abzuhalten.
Ausschluss auch gegen den Willen der Eltern
Der Ausschluss von der Schule kann auch gegen den Willen der Eltern passieren. Die Schulaufsichtsbehörde braucht dazu eine Stellungnahme des Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrums (SIBUZ) und einen Antrag der Klassenkonferenz, um die Schüler*innen vorübergehend zu suspendieren.
Spätestens nach drei Monaten muss sie prüfen, ob sich das Verhalten des Schülers oder der Schülerin verändert hat. Dieser Paragraf im Berliner Schulgesetz ist laut einem Beschluss des Verwaltungsgerichts im April dieses Jahres „offensichtlich verfassungswidrig“.
Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember jedes Jahres ist ein von den Vereinten Nationen ausgerufener Gedenk- und Aktionstag, der das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Probleme von Menschen mit Behinderungen wachhalten und den Einsatz für die Würde, Rechte und das Wohlergehen fördern soll. (taz)
Viele betroffene Eltern kennen diese rechtlichen Grundlagen aber ohnehin nicht im Detail und wissen deshalb auch nicht, wenn Lehrkräfte ihre Kinder zu Unrecht vom Schulbesuch ausschließen. Gesine Wulf vom Berliner Bündnis für schulische Inklusion erzählt, dass sie viele solcher Beispiele kennt: „Beim Thema Schulausschluss von Kindern mit Behinderung beobachten wir eine Diskrepanz zwischen dem, was rechtlich zulässig ist, und der Praxis an den Schulen.“
Selbst die Eltern, die wissen, dass ihr Kind zu Unrecht ausgeschlossen wird, haben nicht unbedingt die Kraft, die Zeit und das Geld, um sich dagegen zu wehren. Darüber hinaus kann es für Eltern auch emotional schwer sein, ihr Kind etwa gegen den Willen der Lehrkräfte in die Schule zu schicken.
Mangel an Personal und Strukturen
Wie kommt es dazu, dass Lehrkräfte, Schulen und Behörden Kinder mit chronischer Erkrankung oder Behinderung vom Schulbesuch ausschließen und dabei sogar gegen Gesetze und Verordnungen verstoßen?
Die Gründe für den Schulausschluss chronisch kranker und behinderter Kinder sind vielfältig. Oft fehlt es an ausreichendem oder spezifisch ausgebildetem Personal und entsprechenden Strukturen. Aber Eltern und Experten berichten auch von fehlendem politischem Willen und Diskriminierung.
Bei der zehnjährigen Lea muss aufgrund einer Fehlbildung der Wirbelsäule alle vier Stunden Urin aus der Blase in einen Katheter abgeleitet werden. Doch ihre Schule sieht sich nicht für die medizinische Versorgung zuständig. „Ich möchte nicht, dass meine Schule Schwerpunkt ‚Pipi‘ wird“ – das habe die Schulleiterin ihm gesagt, erzählt Leas Vater Samuel. Tatsächlich untersagt der Berliner Senat Lehrkräften medizinische Maßnahmen wie das Katheterisieren oder das Setzen von Spritzen.
Leas Eltern haben deshalb die medizinische Versorgung ihrer Tochter während der Schulzeit bis vor kurzem komplett selbst übernommen. Zweimal vormittags musste Lea versorgt werden, dazu kam das Bringen zur und das Holen von der Schule, weil die Schülerin den Weg nicht allein bewältigen kann.
Scheinheilige Debatte
Konnten Leas Eltern die Versorgung in der Schule nicht sicherstellen, weil sie krank oder verhindert waren, musste Lea zu Hause bleiben. An Arbeiten war für Samuel lange Zeit kaum zu denken. Das Thema Schulpflicht sei für ihn eine scheinheilige Debatte, meint er: „Es gibt kaum Bemühungen, die Beschulung von chronisch kranken Kindern sicherzustellen.“
Nur sehr langsam entwickle der Berliner Senat hierfür ein Problembewusstsein. Tatsächlich sollen ab nächstem Jahr in einem Modellprojekt immerhin an 10 Regelschulen Schulgesundheitsfachkräfte eingeführt werden.
Leas Eltern müssen zum Glück nicht darauf warten, dass diese Unterstützung auch in der Schule ihrer Tochter ankommt. Sie haben mittlerweile gegen den Willen der Schulleiterin durchgesetzt, dass eine von der Krankenkasse finanzierte medizinische Pflegekraft Lea in der Schule versorgt.
„Wir sind in einer sehr privilegierten Situation“, meint Samuel. „Wir sind zu zweit und hatten lange Zeit genug Geld auf dem Konto.“ Vielen anderen Eltern mit behinderten Kindern, besonders auch Alleinerziehenden, würde es deutlich schlechter gehen.
Kein Schulbesuch ohne Schulassistenz
Fabian ist 12 Jahre alt und geht auf eine Förderschule. Er hat eine Fetale Alkoholspektrum-Störung, eine hirnorganische Schädigung, die zu Auffälligkeiten in der Wahrnehmung und Regulation führt, wie sie auch bei ADHS und Autismus bekannt sind.
Seine Pflegemutter Katja sagt, dass er mehr Zeit als andere brauche, um Dinge zu verarbeiten. „Mein Sohn lernt echt ganz gut, aber er ist kein Überflieger. Er braucht kleine Gruppen und einen Schulassistenten, der ihn in schwierigen Situationen unterstützen kann.“
Genau aber das sei das Problem. Fällt sein Schulassistent aus, darf er nicht in die Schule gehen. In letzter Zeit konnte der Träger nur für zwei Tage eine Schulassistenz bereitstellen – also ging Fabian nur zwei Tage die Woche zur Schule, berichtet die Mutter.
Fabian schreit mitunter los, wenn er sich ärgert. Es kommt auch manchmal zu Handgreiflichkeiten mit den anderen Schülern, die mittlerweile genau wüssten, wie sie ihn provozieren können. Das passiere aber nur, wenn er nicht von seinem vertrauten Schulassistenten begleitet wird, der ihn in solchen Situationen normalerweise gut auffängt, sagt Katja.
Überforderte Vertretungskräfte
Letztens eskalierte eine Situation: Fabian trat vor Wut um sich, die Vertretungskraft fühlte sich überfordert. „Jetzt ist er auch noch von der Schule suspendiert“, erzählt Katja. Gerade versucht sie alles, um wenigstens ab und zu eine Betreuung für Fabian zu bekommen. Mal findet sie für zwei Stunden eine Einzelfallhilfe, mal bezahlt sie einen Personal Trainer für ein paar Stunden. All das würde helfen, damit Fabian Abwechslung hat und sie ab und zu ein bisschen arbeiten kann. Aber den Stoff der Schule würde er trotzdem verpassen.
Katja, Mutter eines 12-Jährigen
Eigentlich müssten sie ihn an der Förderschule, die für Kinder wie ihn mit mehr und passendem Personal ausgestattet ist, auch ohne Schulassistenten beschulen können, meint Katja. Doch die Schule sage, das sei nicht möglich. Der Schulausschluss mache Fabian sehr zu schaffen: „Fabian ist jetzt in einem Alter, wo er spürt, dass er ausgegrenzt wird. Er fragt sich, warum er nicht gewollt ist.“
Expert*innen bestätigen, dass der Schulausschluss gravierende psychische Folgen auf die jungen Menschen haben kann. Das Risiko, psychisch zu erkranken, sei sehr hoch, sagt etwa Isabella Sasso, die zu Schulabsentismus von Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum forscht. Die meisten der Kinder, mit denen sie für ihre Forschung gesprochen hat, hätten zusätzlich die Diagnose einer psychischen Erkrankung bekommen. Auch die Eltern werden stark belastet und stehen zudem als Fachkräfte dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung.
Unter dem Personalmangel leiden vor allem diejenigen, die den größten Hilfebedarf haben. „Die unterstützenden Maßnahmen für Kinder mit Behinderung fallen als Erstes weg, weil die Stundentafel erhalten werden soll“, sagt Karin Petzold, die den Vorstandsbereich Schule der GEW leitet und als Lehrerin an einer Berliner Grundschule tätig ist.
Rechtfertigungen der Bildungsverwaltung
Die Senatsbildungsverwaltung argumentiere damit, dass eine individuelle Unterstützung nicht zu rechtfertigen sei, wenn ganze Klassen ohne Betreuung dastehen. Karin Petzold sieht das anders: „Das Recht auf individuelle Förderung sollte Vorrang haben, es kann nicht immer zu Lasten der Kinder mit Förderbedarf ignoriert werden.“ Man brauche dringend mehr Kolleg*innen, um kleinere Gruppen und mehr Zeit für jedes Kind zu haben.
An Berliner Schulen fehlt es auch an passenden Räumlichkeiten für Klassenteilungen, Therapien, Beratung oder Rückzug – und an der Bereitschaft, allen Schüler*innen etwa durch die Nutzung solcher Möglichkeiten gerecht zu werden. Viele autistische Kinder brauchen in bestimmten Situationen die Möglichkeit, geräuschreduzierende Ohrenschützer zu tragen, Selbststimulierungswerkzeuge wie etwa Stressbälle zu nutzen oder sich beispielsweise mit einem Tablet in einen Ruheraum zurückzuziehen.
„Die vielen Menschen an einer Schule verursachen vielfältige Geräusche, Gerüche und visuelle Reize, die auf autistische Schüler*innen bedrohlich wirken können“, erklärt Stephanie Fuhrmann vom Verein White Unicorn, der sich für die Entwicklung eines autistenfreundlichen Umfeldes einsetzt. Auch die Möglichkeit, zumindest teilweise von zuhause aus per Fern- oder Onlineunterricht zu lernen, würde manchen helfen.
In der UN-Behindertenrechtskonvention werden solche individuellen Lösungen als „angemessene Vorkehrungen“ bezeichnet. Das Berliner Bündnis für schulische Inklusion fordert: Der Rechtsanspruch darauf muss in das Berliner Schulgesetz aufgenommen werden – auch um die Nichtbeschulung, wie sie aktuell Fabian und viele andere behinderte Kinder in Berlin betrifft, zu verhindern.
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