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Kampf gegen AntisemitismusDer 9. November und die Gegenwart

Zum Jahrestag der Pogromnacht werden wieder viele mahnende Worte gesprochen werden. Doch im Kampf gegen Antisemitismus braucht es einen Aufschrei!

Von den Nazis verfolgt: der spätere „Dalli Dalli“-Moderator Hans Rosenthal Foto: Istvan Bajzat/picture alliance/dpa

Wenn die Sirenen erklangen, mit ihrem auf- und abschwellenden Heulton, fühlte ich mich sicher. Wenn die anderen im Bunker verschwanden, rannte ich hinaus. Für mich bedeuteten sie das Leben.“

Diese Worte sind von Hans Rosenthal, einem der größten Showmaster der alten Bundesrepublik. Die Regisseurin Regina Schilling zitiert ihn in ihrem wunderbaren Dokumentarfilm „Kulenkampffs Schuhe“.

Im Frühjahr 1943 versteckte sich Rosenthal nach Jahren der Zwangsarbeit bis zum Kriegsende bei einer „arischen“ Frau in einer Kleingartenkolonie im Stadtteil Lichtenberg. Berlin galt inzwischen als „judenrein“.

Ich liebte seine Quizshow „Dalli Dalli“ und erfuhr später, dass er und seine Familie als Juden durch die Hölle des Naziterrors gegangen waren und die meisten von ihnen diese Hölle nicht überlebten.

Was muss das für eine Zeit gewesen sein, in der das Flächenbombardement der eigenen Heimatstadt – für viele der sichere Tod – für einen selbst das Leben bedeutete? Welcher Hass muss einem begegnet sein, dass Bomben Freiheit mit sich brachten, weil man unter dem Geheul der Sirenen mal kurz rauskommen konnte? Und als die Bomben einschlugen, atmete man auf, während sich andere duckten und zitternd in die Hosen machten.

Zum ersten Mal der Opfer der Pogrome gedacht

Am 9. November 1978, vierzig Jahre später, wurde in der Bundesrepublik zum ersten Mal der Opfer der Pogrome gedacht. Auf dieses Datum fiel die 75. Ausgabe von „Dalli Dalli“. Rosenthal wollte das Jubiläum verschieben. Er sei zu empfindsam, habe ihm der Sender gesagt, erzählt Schilling in ihrem Film. Die Sendung fand wie geplant statt.

Zum diesjährigen Jahrestag der sogenannten Kristallnacht werden wieder viele mahnende Worte gesprochen und Reden gehalten. Ich bin gespannt, wie ganzheitlich die Empörung und Aufregung bezüglich der heutigen Ur­he­be­r:in­nen des Judenhasses ausfallen wird.

Zwei Beispiele nur aus dieser Woche:

In Sachsen traf sich Ministerpräsident Kretschmer mit AfD-Chef Urban zu einem vertraulichen Gespräch. Dessen Landesverband gilt als gesichert rechtsextrem. Zu einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild gehört laut Definition der Antisemitismus.

wochentaz

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Sicherheitsbehörden hoben eine rechts­ex­tre­me Terrorgruppe aus, deren Mitglieder den sehr ernstzunehmenden Plan verfolgt hätten, durch ein Blutbad und putschartige Handlungen Gebiete für die Errichtung eines Staatsgebilds nach NS-Vorbild zu erobern.

Sollte es neben professioneller Berichterstattung einen Aufschrei gegeben haben, ist er an mir vorbeigegangen. Was ich sagen will: Der Kampf gegen Antisemitismus kann kein Cherry Picking sein. Entweder ich bekämpfe ihn ganzheitlich mit derselben Lautstärke und Vehemenz, ganz egal von wem er kommt. Oder ich habe ein Glaubwürdigkeitsproblem und muss mir vorhalten lassen, dass es ein Showakt aus politischen Gründen ist und mich eine wirkliche Bekämpfung des Antisemitismus eher wenig interessiert.

„Stellen wir uns […] vor, wie Menschen aus einer fernen Zukunft […] auf unsere heutige Welt schauen; […] die wieder bedroht ist, das Gemeinwohl aus dem Auge zu verlieren, weil sie Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihres Andersseins ausgrenzt […]. Wie also könnte (…) auf uns heute geschaut werden, wo sich der Umgang miteinander auf vielen Ebenen wieder deutlich verschärft? Wahrscheinlich mit völligem Unverständnis; und vielleicht auch mit Bedauern für uns heute, dass wir immer noch und wieder in der Gefahr stehen, schreckliche Fehler zu wiederholen und erfahren zu müssen, wohin die Spaltungsversuche einiger weniger führen können.“ Diese Worte sprach Angela Merkel am 9. November 2018 anlässlich des 80. Jahrestags der Novemberpogrome. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Bobby Rafiq
Jahrgang 1976, Südhang Hindukusch. Berliner Junge. Schon als Kind im Widerstand gegen Exoten-Bonus und Kanaken-Malus. Heute als Autor und Producer zu unterschiedlichen Themenfeldern journalistisch tätig. Für TV, Print, Online und Bühne. Und fast immer politisch.
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5 Kommentare

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  • Vorweg: „Kulenkampffs Schuhe“ kann auch ich empfehlen. Die Doku skizziert eine kleinbürgerliche Grundierung der alten Republik, die auch ein Emporkömmling der Malocherwelt wie ich (in der Doku geht’s um einen Drogeristen-Kaufmann) von klein an spürte, ohne dass sie das große “Schweigen“ billig, falsch und bösartig als reine Schuldverdrängung, was es auch war, interpretiert.



    2024: Herr Rafiq benennt „nur zwei Beispiele aus dieser Woche“ für den Judenhass: Eine Nazitruppe und ein Gespräch zwischen Kretschmer und AfD-Chef Urban. Beides Sachsen. Letzteres muss er dem Leser erklären: Urbans „Landesverband gilt als gesichert rechtsextrem. Zu einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild gehört laut Definition der Antisemitismus.“



    Gerade diese Woche hätte ihm wie vielen Juden auch ein anderes einfallen können: Amsterdam.



    Stattdessen zitiert er Merkel vom 9.11.2018, die was von Ausgrenzung wegen Glauben, Herkunft und Anderssein faselte und damit bekundete, rein gar nichts von Antisemitismus und Holocaust verstanden zu haben. Und ob da was hinzuzufügen wäre!



    „Der Kampf gegen Antisemitismus kann kein Cherry Picking sein.“ Richtig, Lieber Herr Rafiq, aber fangen Sie doch bei sich selbst an!

    • @Torben Jakowski:

      Guter Kommentar. Genau meine Gedanken getroffen.

  • "Der Kampf gegen Antisemitismus kann kein Cherry Picking sein."

    In der Tat. Mittlerweile sollte es jeder und jedem klar geworden sein, dass der Antisemitismus immer und überall ist.

    Bei den wiedergeborenen Antiimperialisten, Teilen der bildungsbürgerlichen Studenten, weiten Teilen des Kundt- und Kulturbetriebes, mal mehr, mal weniger schaumgebremst in den Medien, bei braven und doofen Bürgern, natürlich auch bei denen, die sagen, dass das alles nicht stimmt, sondern eine Instrumentalisierung sei und, wie aktuell in Amsterdam gesehen gesehen, bei Migranten.

    Das zu sagen zieht wiederum Rassismus-Vorwürfe nach sich. Witz im Film: Der neue Antisemitismus ist zutiefst antirassistisch.

    Für viele andere ist der Antisemitismus ein gänzlich unerforschtes Land, etwas fast ätherisches, kaum zu fassen, schwer zu beschreiben. Auch das ist Teil dieser Ideologie.

    Was kann man machen? Zu Israel und zu Jüdinnen und Juden stehen, sagen was ist, demonstrieren.

    Wer gläubig ist, der kann immerhin beten.

    • @Jim Hawkins:

      Guter Kommentar. Ergänzend sei hinzugefügt:

      Die Ausreden vom Tisch zu räumen und zwar bei denjenigen Menschen, die antisemitische Einstellungen zwar weit von sich weisen, aber bei Anlässen wie jüngst in Amsterdam oder Anfang des Jahres beim ESC in Malmö, schnell mit Relativierungen zur Hand sind, um das Kind nicht beim Namen nennen zu müssen: Judenhass.

      • @Sam Spade:

        Danke für die Ergänzung.

        Relativieren, verharmlosen, "kontextualisieren", das alles gehört auch zum Besteck.