Theaterstück über Mutterschaft: Amnesie als Rettung
Anna Gschnitzer sucht in ihrem neuen Stück nach einer Neudefinition der Mutterrolle. „Die Entführung der Amygdala“ läuft an der Berliner Schaubühne.
Imaginärer Kartoffelbrei fliegt durch das Studio der Berliner Schaubühne und landet auf imaginärer Kinderhaut. Ruth Rosenfeld spielt eine Mutter, die keinen Namen hat und ihren ersten wirklich glücklichen Moment mit ihren Töchtern erlebt, als sie beide mit Kartoffelbrei bewirft. Um dahin zu kommen, braucht es einen Fahrradunfall mit Nahtoderfahrung. Und als Folge die Amnesie.
Die Mutter begreift sich nicht länger als Mutter. Sie definiert sich als Alien, legt alle ihr zugeschriebenen Rollen ab, setzt sich mit den Kindern unter den Tisch, der als Raumschiff fungiert, und ist bereit für den Abflug. Rückkehr ins alte Leben ist für sie keine Option. Die Amnesie ist ihre Rettung.
Anna Gschnitzer verhandelt in ihrem neuen Stück „Die Entführung der Amygdala“ die Mehrfachbelastung einer berufstätigen Mutter in einer heterosexuellen Beziehung, in der immer noch die Frau den Großteil der Sorge-Arbeit übernimmt. Der Südtiroler Autorin geht es um das Selbstbild der Figur und so steht (sitzt, liegt, klettert und springt) Ruth Rosenfeld neunzig Minuten lang alleine auf der Bühne.
Der Text beginnt ziemlich konventionell mit einer langen Schimpftirade auf die Zustände, splittet sich dann auf in einen Dialog zwischen Figur und Amygdala, einer Stimme aus ihrem Gehirn (Amygdala ist die Gehirnverbindung, die für Angstzustände verantwortlich ist), und wird im letzten Teil extrem spannend, weil sich Gschnitzer ihrer Figur im Zustand der Amnesie annähert und deren Verhalten als „erinnerungsloses Wesen“ beschreibt.
Hier sieht alles ungewohnt aus? Stimmt, seit Dienstag, 15.10.2024, hat die taz im Netz einen rundum erneuerten Auftritt. Damit stärken wir, was die taz seit Jahrzehnten auszeichnet: Themen setzen und laut sein. Alles zum Relaunch von taz.de, der Idee dahinter und der Umsetzung konkret lesen Sie hier.
Das wiederum führt sprachlich zu Satz-Kreationen wie „Das Gesicht ist undicht“, wenn jemand weint. Der Text der 38-jährigen Dramatikerin endet mit der radikalen Negierung der tradierten Mutterrolle. Zu sehen ist das als Ausgangspunkt für eine Neudefinition der Rolle mit einem Fokus auf der Befreiung von Verantwortungslast.
Mix unterschiedlicher Regie-Elemente
Anika Stauch setzt in ihrer ersten Regiearbeit an der Schaubühne auf ein Mix aus unterschiedlichen Regie-Elementen. Die 31-Jährige kombiniert großformatige Fotos mit digitalen Farblandschaften, verwandelt Ruth Rosenfeld in eine bizarre Schattentheaterfigur und gibt ihr einen zweiten Körper in Form einer Großpuppe ohne Kopf. Rosenfeld agiert lange in einem extrem reduzierten Kraftfeld, das von zwei spitz aufeinander zulaufenden Stellwänden gebildet wird.
Als „Wesen ohne Erinnerung“ kann sie sich aus dieser erzwungenen Beschränkung befreien, stößt die Stellwände zur Seite und öffnet so den Raum bis zur Hinterbühne (Bühne: Felix Remme). Darin das Negativ eines Hauses, markiert durch dreidimensionalen Konturen, und in diesem sitzt Ruth Rosenfeld an einem Tisch, wirft mit imaginärem Kartoffelbrei um sich und wird dabei von zwei Windmaschinen mit weißen Kunstfedern zugewirbelt.
Später liefert sich die Schauspielerin ein euphorisch-verbales Duell mit musikalischen Zitaten aus Wagners „Ring“. Ihre Figur hat zu diesem Zeitpunkt die Pfade der konventionellen Patriarchatskritik längst verlassen. Sie muss keine Rolle mehr spielen und ist nur noch für sich selbst verantwortlich.
Rosenfelds Spiel wird jetzt intimer. Die neue Gefühlslage ihrer Protagonistin erreicht sie durch einen Mix aus Verwunderung, Verspieltheit und Distanzierung. „Ich habe so dafür gekämpft, dass mir die Nähe, die Zärtlichkeit, die Liebe nicht all meine Kraft aus dem Körper presst“, sagt die Figur. „Wie soll ich eurer Zärtlichkeit begegnen, wenn ich dafür jemand sein muss, der ich nicht bin?“ Ruth Rosenfeld legt ein letztes E-Gitarren-Solo hin, dann geht es weiter zur nächsten Galaxie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!