piwik no script img

Der berühmte unbekannte Kandidat

Cornel West ist einer der prominentesten lebenden Philosophen der USA. Dass er neben Kamala Harris und Donald Trump zur Wahl für das Präsidentenamt steht, wissen dort nur wenige

„Prophetischer Pragmatismus“: der Philosoph Cornel West Foto: John Arthur Brown/imago

Von Sebastian Moll

Cornel West hatte offensichtliches Vergnügen an seinem Gerichtstermin in Pittsburgh am vergangenen Montag. Bei seinem Plädoyer dafür, im Swing State Pennsylvania zur Präsidentschaftswahl zugelassen zu werden, fühlte sich der Philosoph und Theologe ganz in seinem Element. In seiner charakteristischen Mischung aus Vorlesung und Predigt ließ er das Gericht wissen, es gehe hier darum, „den moralischen und spirituellen Verfall Amerikas“ aufzuhalten. Es sei zentral für das Überleben der US-amerikanischen Demokratie, sagte er, dass die Öffentlichkeit Zugang zu anderen Stimmen bekomme, zu Stimmen wie der seinen.

Das Plädoyer dafür, im 16. von 50 Staaten seinen Namen auf den Wahlzettel für den 5. November gedruckt zu bekommen, war eine Variante der Rede, die West hält, seit er Mitte des Jahres 2023 seinen Hut in den Ring des Kampfes um die Präsidentschaft geworfen hat. Der New Yorker, einst als der wichtigste schwarze Intellektuelle des Landes gefeiert, macht sich keine Illusionen darüber, dass er ins Weiße Haus einziehen kann. In nationalen Umfragen liegen seine Werte um die 1,5 Prozent. In den meisten Teilen des Landes weiß der durchschnittliche Wähler überhaupt nicht, dass er zur Wahl steht.

Unter denjenigen, die es wissen, wächst derweil der Druck auf West, sich zurückzuziehen. Je länger West im Rennen bleibt, so heißt es vor allem im demokratischen Lager, desto mehr nützt er Donald Trump. In einer Wahl, die durch den Bruchteil eines Prozentpunkts entschieden werden könnte, sind die linksprogressiven Stimmen, die West von der demokratischen Partei abzieht, ein potenziell katastrophaler Verlust.

Das wissen auch die Republikaner, Donald Trump hat deshalb bereits bekannt, Cornel West sehr zu mögen und der republikanischen Partei zugeneigte Wahlkampforganisationen unterstützen West bei seinen gerichtlichen Gefechten darum, auf die Wahlzettel zu kommen.

Doch das alles ficht West nicht an. Wenn er etwa darauf angesprochen wird, dass er sich von republikanischen Politaktivisten unterstützen lässt, verweist er darauf, dass die Politik insgesamt ein „Gangster“-System sei und dass man in diesem Feld eben mit „Gangster“-Methoden arbeiten müsse – ein typisches Zitat schwarzen Straßenjargons, mit dem er auch gern seine akademische Arbeit spickt.

Dabei trifft er keine grundsätzlichen Unterscheidungen zwischen den Demokraten und den Republikanern, auch wenn ihm durchaus die Gefahren des „Neofaschisten“ Trump – wie er seinen Kontrahenten gern nennt – klar bewusst sind. Dennoch gehört für West das gesamte Zweiparteiensystem einem neoliberalen, militaristischen und rassistischen Apparat an, dem gegenüber er sich als einsamer Rufer im Wald positionieren möchte. Die Wahl für das „geringere Übel“ hält er für eines der Grundprobleme der maroden amerikanischen Politik.

Ganz so zynisch war West gegenüber der institutionellen US-Politik nicht ­immer. Als im Jahr 2008 Barack Obama kandidierte, trat West begeistert für ihn bei Dutzenden von Wahlkampfveranstaltungen auf. Doch wie sich herausstellte, war die Liebe einseitig. Wie viele schwarze Bürgerrechtler und Intellektuelle sah West in Obama jemanden, der dieser nicht war. Obama hatte niemals vor, „schwarze“ Politik zu machen. Forderungen wie die von West nach radikaler sozialer Gerechtigkeit, nach Reparationen für die Sklaverei, einem Ende der Masseninhaftierung für Afroamerikaner oder der ­offensiven Bekämpfung von Armut, waren Obama zu extrem. Das sagte Obama West dann auch in mehreren persönlichen Gesprächen. Und um sich klar von West zu distanzieren, verweigerte er ihm eine Einladung zu seiner Amtseinführung. Ein Affront, den West, wie viele behaupten, nie verwunden hat.

West entwickelte sich zu einem der schärfsten Kritiker Obamas, insbesondere dessen Drohnenkriegs in Pakistan und seiner Nähe zur Wall Street. Im Wahlkampf 2016 unterstützte er Bernie Sanders. Die Art und Weise, wie dieser dann vom demokratischen Partei-Establishment marginalisiert wurde, zementierte jedoch endgültig seine Desillusionierung von der institutionellen Politik.

Nun gibt es nicht wenige, die behaupteten, dass West sich mit seiner harschen Systemkritik und seiner persönlichen Fehde mit Obama in die Irrelevanz manövriert habe. Sein Theologenkollege und Konkurrent auf dem schmalen Feld der öffentlichen schwarzen Intellektuellen, Michael Eric Dyson, bezeichnete ihn als eitlen Clown und bedauerte seinen intellektuellen Abstieg.

West selbst erwidert darauf, dass er sich als einer der wenigen überhaupt noch traue, die sozialen und politischen Realitäten in den USA offen zu benennen. Seine Kritiker, wie Dyson, bezeichnet er als „gekauft“. Dem neuesten Emporkömmling in der Riege schwarzer Intellektueller, Ta-Nehisi Coates, wirft er vor, bei seiner Gesellschaftsanalyse die materielle Ungerechtigkeit zu ignorieren und sich somit zum Salonlöwen der liberalen weißen Eliten zu machen.

Seine Kandidatur rechtfertigt West nicht zuletzt mit seiner selbstgebastelten Philosophie des „prophetischen Pragmatismus“, die er nun schon vor mehr als 30 Jahren artikuliert hat. Man könnte sie als Bricolage bezeichnen zwischen Elementen afroamerikanischer Theologie, der philosophischen Tradition des amerikanischen Pragmatismus, einer Prise Marxismus und dessen, was West als „Tschechowschen Existenzialismus“ bezeichnet, eines Existenzialismus, der sich zwar des allgegenwärtigen Leidens im Diesseits bewusst ist, aber keinem Sartre’schen Nihilismus verfällt.

Aus der schwarzen Theologie bezieht der Enkel eines Baptistenpredigers quasi eine Verpflichtung anzuklagen und die Rolle des Propheten zu spielen, der die Wahrheit verkündet, auch wenn sie in seiner Zeit niemand hören möchte. In diesem Zusammenhang mag er seine Kandidatur sehen, die er wiederum als direkte Fortsetzung seiner philosophischen Arbeit sieht. In der Tradition von Ralph Waldo Emerson, William James und John Dewey konstituiert sich Wahrheit schließlich allein durch die Praxis. An die Stelle transzendentaler Letztbegründungen tritt der Nutzwert. Nur, was funktioniert, ist wahr.

Die Blueshaltung ist es, die West erlaubt, weiter an Amerika zu glauben

Aus dieser Position hat West stets seine Rolle des „public intellectual“ hergeleitet. Allein Debatten im Elfenbeinturm voranzutreiben, hat ihn nie interessiert. Er wollte sich stets einmischen. So machte er sich in der breiten Öffentlichkeit schon im Jahr 1993 mit dem Manifest „Race Matters“ einen Namen, in dem er als Reaktion auf die Rassenunruhen von Los Angeles mit klaren, harten Worten den Zustand der Rassenbeziehungen in Amerika beschrieb. Es war ein Black-Lives-Matter-Augenblick, lange bevor es diesen Begriff gab.

All dem unterliegt Wests Selbstverständnis als „Bluesman“, wie er sich selbst immer wieder bezeichnet. B. B. King und John Coltrane stehen für ihn auf derselben Ebene wie die großen Dichter und Denker. Von ihnen, aber auch von James Baldwin und Ralph Ellison, lernt er, wie man mit „400 Jahren Trauma und Unterdrückung“ lebt, ohne bitter, hoffnungslos und hasserfüllt zu werden.

Die Blueshaltung, die dazu befähigt, inmitten von Leid und Schmerz Würde und Haltung zu bewahren, ist es auch, die es West erlaubt, weiterhin an Amerika zu glauben. „Ist es möglich, dass Demokratie eine Art sein kann, in der Welt zu sein, nicht nur eine Regierungsform, die von den Interessen des Geldes bestimmt wird?“, schrieb er bereits vor 20 Jahren. „Haben wir die Grenzen der amerikanischen Religion unbeschränkter Möglichkeiten erreicht?“ West sagt, er habe den Glauben nicht verloren, aber es sei ein hart errungener Glaube, so wie der Glaube Dietrich Bonhoeffers, dessen Lehrstuhl er am Union ­Theological Seminary in New York innehält.

Das Versprechen von Amerika ist für West noch immer eine Möglichkeit, aber nur, wenn das Land schonungslos ehrlich zu sich selbst ist. Und dafür mag er ein Garant sein oder wenigstens ein Werkzeug. Seine Kritiker nennen das überheblich oder eitel. Für West ist es praktizierte Philosophie und dringende Notwendigkeit.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen