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Roman über Natives im heutigen AmerikaTiefe Störungen in der Kommunikation

Tommy Orange erzählt in „Verlorene Sterne“ vom Alltag der Natives im heutigen Amerika. Traumatisch schwingt die Vergangenheit in der Gegenwart mit.

Indigene Motive in neuer Kleidung bei einem Powwow der Native Americans Foto: Dreamstime/imago

Der Schmerz wird weitergegeben und weitergegeben, von Generation zu Generation. Bis hinein in die Gegenwart zu Orvil Red Feather, einer Hauptfigur des Romans „Verlorene Sterne“ von Tommy Orange.

Orvil Red Feather ist US-Amerikaner, der von den indigenen Cheyenne abstammt, und er ist Opfer einer Schießerei bei einem Powwow, einem indigenen Kulturfest, in Oak­land geworden. Seither hat er Kugelsplitter im Körper, wird schmerzmittelabhängig, geht im Zustand des ständigen Strauchelns durchs Leben.

Seine Mutter war heroinabhängig, er hat sie durch Suizid verloren, wächst mit seiner Großtante und seiner Großmutter sowie seinen beiden Brüdern Lony and Loother auf. Orvil ist in eine beschädigte Community hineingeboren worden, ihm bleiben die Sucht – und seine Gitarre, „deren Musik ihm allmählich wie eine Sprache erschien, die ihn womöglich retten konnte, wenn er sie lernte“.

Das Buch

Tommy Orange: „Verlorene Sterne“. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser.Berlin, Berlin 2024, 304 Seiten, 26 Euro

Orvils Suche nach Rettung und Halt ist eines von vielen Themen in dem hochkomplexem und toll verwebtem Roman „Verlorene Sterne“ von Tommy Orange. Der Autor Tommy Orange, 42, in Oak­land geboren, ist selbst Mitglied der ­Cheyenne und Arapaho Tribes. Sein Vater ist Cheyenne, durch ihn ist Orange früh mit indigenen Zeremonien in Berührung gekommen. Seine Mutter ist Weiße, war den Indigenen zunächst zugetan, wurde später evangelikale Christin und wandte sich von indigener Kultur ab.

Ausgezeichnet für das beste Erstlingswerk

Orange hat schon in seinem Debütroman „Dort dort“ (2019) nah, dicht und poetisch vom indigenen Leben im heutigen Amerika und der immensen Suchtproblematik in den Communitys geschrieben. In Deutschland ist der Autor noch nicht so bekannt, auch wenn sein Debüt breit rezipiert wurde. In den USA erhielt er für „There There“ unter anderem den PEN/Hemingway Award für das beste Erstlingswerk, der Nachfolger steht nun auf der Longlist des Booker Prize.

„Verlorene Sterne“ ist eine Fortsetzung von „Dort dort“, das mit jener Schießerei beim Powwow-Festival endete. Orange verfolgt die Geschichten seiner Protagonisten weiter – zugleich, und das ist einer der Kniffe dieses Romans, geht der Nachfolgeroman zunächst viele Generationen zurück bis zum Sand-Creek-Massaker, das 1864 an den Cheyenne und Arapaho im einstigen Colorado-Territorium begangen wurde.

Die Bisonkriege – Vernichtung der Lebensgrundlage

Der Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater von Orvil, Jude Star, hat es als Junge überlebt, er ist eine der Hauptfiguren im ersten Teil und reflektiert über die Jagd der Kolonisten und deren Nachfolgern auf „Indianer“ und auf Bisons, die auch deshalb getötet wurden, um den Indigenen die Lebensgrundlage zu entziehen: „Auf der Zugfahrt zurück nach Okla­homa sah ich meilenweit und mannshoch Bisonkadaver aufgeschichtet. Die Bisonkriege, nannten sie es. Ich hatte gehört, warum sie es taten. Jeder tote Bison bedeute einen Indianer weniger.“

Orange geht historisch auch zurück zur Etablierung der Residential Schools, die den Indigenen ihr Indigensein austreiben sollten. Ein bedeutender Vordenker der Umerziehungsschulen war der Armeegeneral Richard Henry Pratt, dessen Politik der Assimilation („Kill the Indian, save the man“ war Pratts Maßgabe) der Autor hier aufgreift.

Der Hauptteil von „Verlorene Sterne“ aber spielt in der Gegenwart, man liest den Roman deshalb vor allem als Werk über erbliche Traumata und epigenetische Effekte. Die „Last der Geschichte“, wie sie an einer Stelle genannt wird, schleppen Orvil und Loother, schleppt auch der junge Sean Price mit sich herum, der ebenfalls Native ist. Mit ihm freundet Orvil sich zunächst online und dann im realen Leben an. Für beide sind das Gitarrespielen und die Popkultur Ausweg aus ihrer Einsamkeit, dort finden sie den Ausdruck für ihr Anderssein.

Pop als Ventil

Sean ist durch einen Unfall ebenso gehandicapt wie Orvil, er identifiziert sich weder als Mann noch als Frau, fühlt sich „sowohl zu Jungs als auch zu Mädchen hingezogen“, auch deshalb ist Pop für ihn ein Ventil: „Er war in seinem Zimmer, hatte ‚Your Best American Girl‘ von Mitski auf den Kopfhörern laufen und drehte sich beim Tanzen im Kreis. Die verzerrte Gitarre und die offene Wut in der Stimme klangen so schön und hässlich und gut zugleich, aber auch empört über etwas, wofür er sich sein ganzes Leben lang immer wieder geschämt hatte.“

Ganz ähnlich ist es bei Orvil, er will von der Sucht loskommen, die Gitarre hilft ihm dabei, später dann das Laufen, das ihn auch durch die Pandemiezeit bringt („Nur das Laufen schaffte, was ich brauchte, um clean zu bleiben. Also lief ich. Jeden Tag.“).

Es sind sehr viele Themen, die in „Verlorene Sterne“ aufgeworfen werden, das mag hier schon im kurzen Anreißen der Handlung deutlich werden. Indigene Kultur, Rassismus, Traumata, Sucht und die Drogenepidemie in den USA, Corona, Identitätspolitik, Gender Trouble, Freundschaft, Einsamkeit. Von all dem handelt der Roman, und an mancher Stelle kann einem das als Leser überladen erscheinen. Da wird dann vielleicht etwas zu exponiert über die identitätspolitische Frage der Repräsentanz diskutiert und wer für wen sprechen darf.

Erfahrung der Auslöschung

Zugleich aber gelingt Orange vor allem im zweiten Teil eine soghafte Erzählung (wie in „Dort dort“ auch schon). Er findet treffende Worte für das Othering, das seine Figuren erfahren, und er leitet eben historisch her, dass die Kommunikation zwischen weißen und indigenen US-Amerikanern gestört ist, gestört sein muss, weil sie nicht die gleiche Sprache sprechen: „[…] es wäre schön, wenn der Rest des Landes verstünde, dass wir nicht alle eine intakte Kultur und Sprache besitzen, weil unserem Volk gewisse Sachen zugestoßen sind, weil wir erst äußerlich systematisch ausgelöscht wurden und dann auch innerlich, weil wir in den Medien und in Bildungseinrichtungen konsequent entmenschlicht und falsch dargestellt wurden, aber auch wir selbst mussten es erst mal verstehen.“

Darüber hinaus ist „Verlorene Sterne“ sehr anspielungsreich, die Harlem Renaissance wird genauso zitiert wie zeitgenössische Popkultur oder indigene Kulturpraktiken. Die inneren Auseinandersetzungen und Monologe, die Orvil führt, sind sprachlich toll gelungen, Orange arbeitet mit Reihungen, Nebensatzketten, schafft gelungene Metaphern und Allegorien.

Das repetitive Gitarrenspiel, das Orvil gegen Ende mit seiner Instrumentalband kreiert, wird etwa zum Bild für das Alltagsleben, für die viel zitierte ewige Wiederkehr des Gleichen (nach Nietzsche): „Mein Ziel und das meiner Bandkollegen ist schon immer das gleiche: musikalische Schleifen schaffen, die so, wie sie angelegt sind, nicht wie Schleifen klingen oder wirken, denn so kommt man raus aus der Schleife. Jeder Tag ist eine Schleife. Das Leben will dasselbe wie wir mit unserer Musik. […] Jeden Tag will uns das Leben überzeugen, dass es keine Schleife ist.“

Die Wiederkehr der Schmerzen

Die Schleife kann als Leitmotiv des gesamten Buchs gelten, auch der Schmerz kehrt in generationellen Schleifen wieder. Es ist daher sicher kein Zufall, dass Orvils Bruder Loother seine Tochter Opal nennt, als er gegen Ende der Handlung Vater wird: Sie bekommt denselben Namen wie seine Großtante und Quasigroßmutter.

Orange fragt mit seinem Buch, ob man seiner Herkunft entkommen kann, Traumata gänzlich überwinden kann, ob man die Familie hinter sich lassen kann, in die man geboren wurde, ob man sich neu erfinden kann. Die Antwort ist nicht eindeutig, sie fällt je nach Figur, je nach Lebensphase anders aus. Insgesamt aber lautet sie wohl eher: nein.

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