Das Meer zurückgewinnen

Auf Lesbos werden Schwimmkurse für Geflüchtete angeboten. Teils lernen sie es neu, teils können sie schon gut schwimmen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie nach ihrer Flucht wieder eine Beziehung zum offenen Wasser aufbauen wollen

Die Traumata, die mit dem Meer in Verbindung stehen, überwinden: „Yoga and Sport With Refugees“ bietet auf der griechischen Insel Lesbos Schwimm- kurse an
 Foto: Fo­to:­ Giacomo Sini

Aus Lesbos Dario Antonelli und Giacomo Sini

Im Schatten eines verlassenen Hangars stehen 30 Menschen. Vor ihnen ist kristallklares Meer. Sie alle tragen Badekleidung und stellen sich nacheinander vor: „Ich bin Salah*, ich komme aus Syrien, und ich kann schwimmen“, ruft ein sportlicher junger Mann stolz.

Sie sind Schwimmer, Schwimmerinnen, Lehrer und Lehrerinnen des Schwimmkurses, der von der NGO Yoga and Sport with Refugees (YSR) organisiert wird. Seit 2018 ist sie auf der griechischen Insel Lesbos aktiv.

Der Strand spiegelt die blendend weiße Julisonne. Viele tragen Badeschuhe, jemand trägt eine Schwimmbrille. „Ich bin Hossein*, ich komme aus dem Iran und kann nicht schwimmen“, sagt ein großer, dünner Mann mit verschränkten Armen. „Ich bin Hasan*, ich komme aus Afghanistan, und ich kann ein bisschen schwimmen“, sagt ein anderer lächelnd. Unter Anleitung der Schwimmlehrer gehen alle zusammen zum Wasser. Zwei Schüler tragen bereits Flossen und ahmen einen militärischen Schritt nach. Sie sind ihrem Niveau nach in Gruppen eingeteilt: von den Anfängern, die sich erst mit dem Wasser vertraut machen müssen, bis hin zu den Fortgeschrittenen, die sich einfach nur perfektionieren wollen. Am Ufer zögert mancher. „Lasst uns langsam hineingehen, keine Eile“, sagt Salah, der schon bis zur Hüfte im Wasser steht und mit den Augen den unsicheren Schritten seiner Kameraden folgt.

„Die Wurzeln von YSR liegen im Schwimmen“, sagt Estelle Jean aus Frankreich, Gründerin der Organisation. „Im Jahr 2016 kamen Tausende Menschen über das Meer, vor allem im nördlichen Teil der Insel, wo die türkische Küste nur zwölf Kilometer entfernt ist. Spontan hatten sich Rettungsteams gebildet.“ Sie erklärt, dass aus dieser Erfahrung das Schwimmprogramm auf Lesbos entstand: „Das Ziel war es, das Schwimmen zu lehren, aber es ging auch darum, denjenigen, die das Meer überquert haben wie auch ihren Rettern, die Möglichkeit zu geben, nach traumatischen Erlebnissen ihre ­Beziehung zum Meer wiederherzustellen.“

Jede Gruppe hat einen Coach, der seine Schüler aufmerksam begleitet. „Tag für Tag verbessern sie sich“, erzählt Sara Balamurugan, Freiwillige aus Frankreich, ohne dabei die Gruppe aus den Augen zu verlieren. Zwei Anfänger üben das Schwimmen, während ein paar Meter weiter drei junge Schwimmer am Ufer sitzen und die richtige Bewegung ihrer Beine trainieren. Zwei erfahrenere Schüler schwimmen mit nur wenigen Zügen hinaus, zusammen mit einem Lehrer.

Die kleine Bucht wird im Osten von einer weißen Klippe umschlossen, während sich im Westen die Küste vom alten Industriegebiet bis zur Burg von Mytilini erstreckt. Die Türkei erhebt sich hinter der Ägäis, am Horizont.

Salah schwimmt im Schmetterlingsstil ans Ufer zurück und hebt regelmäßig alle zwei Schwimmzüge seinen Kopf und seine Arme. „Du solltest die Position deiner Hände im Schwimmzug korrigieren“, erklärt ihm Luiza Lena Benz, Schwimmtrainerin griechisch-schwedischer Herkunft, die richtige Haltung. Salah hört ihr zu, imitiert ihre Bewegungen und setzt sich dann zum Ausruhen ans Ufer.

„Ich liebe das Schwimmen“, sagt er, „ich bin ganz gut, weißt du, ich kann dorthin schwimmen.“ Er lächelt und zeigt auf die blauen Berge jenseits des Meeres. „Ich kam schwimmend aus der Türkei“, sein Ton wird ernster, „es dauerte sechs Stunden. Es war hart, aber ich hatte ein kleines Floß, das mir geholfen hat.“

Am 29. Juni fand eine internationale Sportveranstaltung statt, „Swim for good 2024“, ins Leben gerufen von YSR. Eine zwölf Kilometer lange Schwimmroute ist das, die auf die gefährliche Reise aufmerksam machen soll, die viele Menschen zur Flucht auf sich nehmen müssen. Viele Athleten und Athletinnen aus verschiedenen Ländern folgten dem Aufruf, dieser Schwimmwettkampf fand gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Welt statt – von Paris bis Singapur, von Kampala bis Kopenhagen und natürlich auf Lesbos. Entlang der Küste der griechischen Insel schwammen 54 Menschen, darunter auch Yusra Mardini, syrische Schwimmerin und Olympiateilnehmerin. Ihre Teilnahme hat eine tiefe Bedeutung. Sie kehrte zum ersten Mal auf die Insel zurück, auf der sie 2015 als Asylbewerberin ankam, und sie tauchte ein in dasselbe Meer, in dem sie damals sich und ihre Mitmenschen dank ihrer eigenen Schwimmfähigkeiten vor dem Untergang gerettet hatte.

Aber Yusras Engagement beschränkt sich nicht nur auf die Teilnahme an diesem Schwimmwettkampf. Die Stiftung, die ihren Namen trägt und sich auf die Förderung des Sports für geflüchtete Menschen konzentriert, unterstützt das Programm von YSR.

In Küstennähe wird das Wasser trüber, Schwimmübungen wirbeln den schlammigen Meeresboden auf. Hasan* trainiert mit Mütze und Brille das Kraulschwimmen. „Ich bin schon immer gern geschwommen“, erzählt er. „In Afghanistan gibt es kein Meer, aber wir haben wunderbare Flüsse. Flüsse sind gefährlich, ich habe einen meiner Freunde verloren, der von der Strömung in einem Fluss mitgerissen wurde.“ Hasan wartet zusammen mit einem anderen Mann darauf, mit dem Schwimmbrett auf den Lehrer zuzugleiten. Ihre Oberkörper ragen aus dem Wasser, beide zittern, obwohl die Sonne die Haut verbrennt.

Am Rand eines alten Piers bringt Jullian Lacey Lang, Schwimmlehrer aus den USA, der gerade unter den YSR-Freiwilligen angekommen ist, zwei Schülern aus Syrien die Kraultechnik bei. Fünf, sechs, sieben ausgestreckte Schläge, und Abdel* hebt den Kopf, um tief einzuatmen. „Bravo!“, ruft Jullian aus, „die Bewegung der Arme ist perfekt, du bist stark, aber vergiss nicht zu atmen.“

Emilie Bottini sitzt am Ufer und beobachtet die Trainingseinheiten. „Hier ist Schwimmen eine Schlüsselaktivität, Wasser kann für diese Menschen vielerlei Dinge bedeuten: das Meer, das sie überquert haben, um hierher zu gelangen, das Meer, das das Camp umgibt, in dem sie eingesperrt sind“, sagt Emilie. Sie arbeitet bei der Organisation Terra Psy und kümmert sich dort um psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung. „Wasser ist oft mit traumatischen Erfahrungen verbunden, aber zugleich ist es das Meer, in dem die Menschen auf der Insel Momente der Geselligkeit, des Vergnügens und der Freiheit finden.“

Emilies Organisation Terra Psy ist im Gemeindezentrum von Paréa tätig. „Wir veranstalten Workshops, in denen wir die Menschen bitten, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, sie wären im Wasser. Wir versuchen, ihre Beziehung zu diesem grundlegenden Element wiederherzustellen. Heute bin ich hier, um zu helfen, aber vor allem, um zu lernen und neue Ideen für unsere Workshops zu finden.“ Sie berichtet, dass aktuell etwas mehr als 800 Menschen im Ma­vro­vouni-Zentrum untergebracht sind.

Nachdem dieses Zentrum im vergangenen Dezember mit rund 6.000 Menschen im Zentrum erneut einen Höhepunkt der Überbelegung erreicht hatte, hat sich der immense Andrang in den Sommermonaten drastisch reduziert. „Wir merken diesen Rückgang der Asylbewerber auch an der geringeren Teilnahme an sportlichen Aktivitäten“, berichtet Renia Vogiatzi, Freiwilligenkoordinatorin der YSR. 
„Es ist gut, dass das Lager nicht überfüllt ist, besonders jetzt bei dieser Hitze, und es ist auch gut, dass die Asylverfahren beschleunigt wurden“, fährt sie fort, „aber, dass es weniger Menschen sind, liegt auch daran, dass die Pushbacks der griechischen Küstenwache weitergehen. Noch nie war die Insel so voll von Touristen, vor allem aus der Türkei, weshalb auch beschlossen wurde, die Anzahl von Asylbewerbern auf Lesbos zu reduzieren.“

Agnese Ottaviani ist Juristin und arbeitet für eine große Versicherungsgesellschaft in Italien. Sie hat schon immer Kindern das Schwimmen beigebracht und sich entschieden, ihre Ferien als Freiwillige auf Lesbos zu verbringen. Heute kamen zwei Brüder aus Palästina zum Schwimmunterricht. Der Jüngere ist 7 Jahre alt und kann nicht schwimmen, der Ältere ist 17 und verfolgt mit Sorge die ersten Schritte seines kleinen Bruders im Wasser. Nach und nach gewinnt der Jüngere an Selbstvertrauen und beginnt für ein paar Sekunden zu tauchen. „Er ist sehr mutig, ich habe viele ängstliche Kinder gesehen, er wird bald schwimmen lernen“, sagt Agnese. Der ältere Bruder kann sich entspannen und schließt sich einer Gruppe an, in der Fortgeschrittene schwimmen.

„Ich kam schwimmend aus der Türkei, es dauerte sechs Stunden“

Salah aus Syrien

Währenddessen wird die Luft kühler. Die Schatten der Ruinen, die am Ufer stehen und zwischen denen Feigenbäume wachsen, erstrecken sich über den Strand. Einige Menschen sind früher aus dem Wasser gekommen, um die süßen Früchte zu pflücken, während andere hartnäckig weiter trainieren. In der Nähe des alten Piers spielt eine große Gruppe Ball. Mit Lachen und Planschen haben Anfänger, erfahrene Schwimmer, Schwimmerinnen, Lehrer und Lehrerinnen gemeinsam Spaß, bevor sie den Strand verlassen.

Nur Salah, der gute Schwimmer aus Syrien, ist noch im Meer. Er schwimmt mit geschlossenen Augen, macht lange Zügen, wie in einem Tanz, dessen Rhythmus sich reduziert, bis er zum Stillstand kommt. Dann streckt er sich wie ein Stern auf der Oberfläche aus, schaut in den Himmel und wird Teil des Meeres.

* Name geändert

Übersetzung: Isabella Zborka