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Musik bestimmt ihr Leben

Zu DDR-Zeiten war Rosemarie Förster Teil der Jazzszene, nach der Wende verkaufte sie Synthesizer. Als „Vocaliza“ spielt sie jetzt, mit 84, auf Festivals und in Berliner Clubs und wird bereits als „Synth-Nerd“ bezeichnet

Von Jens Uthoff

Rosemarie Förster scheint fast etwas verwundert. „Jetzt bin ich 84 Jahre alt, und plötzlich wollen sie alle etwas von mir wissen“, sagt sie, als sie im Frühsommer zum Gespräch im Außenbereich eines Restaurants in Nord-Neukölln Platz nimmt. Sie erwähnt das beiläufig, nonchalant, auf Berlinerisch mit sächsischem Akzent, und blickt einen etwas fragend durch ihre Brille an. Rosemarie Förster, von Bekannten „Rosi“ genannt, legt derzeit unter ihrem Alias „Vocaliza“ eine späte Künstlerinnenkarriere hin: Im Mai ist sie erstmals auf einem großen Berliner Festival aufgetreten (dem Superbooth), von Experimental- und Freejazz-Musikern wird sie für Kollaborationen angefragt, und ein Blog für Synthesizer-Liebhaber veröffentlichte ein langes Interview mit ihr, in dem sie als „Synth-Nerd mit 84“ bezeichnet wurde.

Dabei tritt Förster eigentlich bereits seit einigen Jahren in kleinen Berliner Clubs auf und ist schon länger in der Improvisationszene Berlins unterwegs. Sie arbeitet viel mit Effektgeräten, nimmt dabei ihre Stimme meist als Grundlage, verfremdet diese und kreiert daraus schräge Sounds. Ihr ganzes Leben sei von Musik und Klang bestimmt, erklärt sie: „Ohne Musik wäre mein Leben sehr viel ärmer.“ Wie zur Bestätigung unterbricht sie das Gespräch immer mal wieder und summt Melodien.

Rosemarie Förster lebt nur wenige Meter entfernt von dem Restaurant nahe der Sonnenallee, in dem wir uns treffen. Nach dem Interview führt sie durch ihre 3-Zimmer-Wohnung, die quasi auch ihr Heimstudio ist. In einem Raum, in dem auch ein Heimtrainer steht, hat sie auf einem kniehohen Tisch ihre Lieblingsgeräte aufgebaut: Unter anderem Effektgeräte, einen Vokalprozessor und ein Delay-Pedal. Mit diesen Instrumenten und Verzerrern produziert sie ihre Klänge: Wabernde, flächige und flirrende Sounds wechseln sich häufig ab. Ihren Gesang hört man in vielen verfremdeten Tonlagen und Variationen. In ihrem Wohnzimmer stellt sie sich nun neben ihren Computer und spielt einen ihrer Songs ab. Darin klingt ihre modulierte Stimme tief, unheimlich, brummig. „Ist doch irre, oder?“

Geboren wird Förster 1939 in Kreuzberg, sie wächst nahe dem Kottbusser Tor auf. „Als die Angriffe auf Berlin begannen, floh meine Mutter mit mir und meiner Schwester nach Bad Gottleuba in Sachsen.“ Von dort stammte ihr Vater. In Bad Gottleuba besucht Rosi Förster die Grundschule, in Pirna die Oberschule. Danach macht sie eine Ausbildung zum Studioassistenten im Funkhaus Nalepastraße in Ostberlin – der Sender Dresden entsendet sie dorthin. Anschließend arbeitet sie im Funkhaus Dresden. Zwei Jahre später, es ist 1960, beginnt sie ein Studium der Elektroakustik und der Raum- und Bauakustik an der TU Dresden. Zu dieser Zeit hat sie mit der Dresdener Jazz-Szene zu tun, etwa mit Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer, Saxofonist Ernst-Ludwig Petrowsky und Pianist Joachim Kühn. Förster bekommt im Jahr 1966 einen Sohn, geht dann als alleinziehende Mutter nach Berlin, wo sie für den Rundfunk und fürs Fernsehen arbeitet.

In Berlin wird der montägliche Jazztreff im Haus der jungen Talente in der Klosterstraße für sie ein wichtiger Anlaufpunkt. „Da haben sich alle Jazzinteressierten immer getroffen.“ Später sei dann auch der Jazzkeller 69 in Treptow wichtig für die Szene geworden. Was an internationaler Kultur in der DDR möglich war, hat Förster aufgesogen: Sie besuchte die Jazzfestivals in Prag und Warschau, lernte zum Beispiel den britischen Jazzmusiker und -Komponisten John Surman kennen. Surman komponierte damals einige Stücke für sie, erzählt sie.

In der DDR fühlt Förster sich eingesperrt: „Ich hätte mir gern auch die ganze Welt angeguckt, aber wir sind ja kaum rausgekommen“, sagt sie. Das Alltagsleben aber habe sie nicht als bedrückend erlebt, „ganz im Gegenteil!“. Zur Wendezeit nimmt sie bereits Musik auf, unter anderem gemeinsam mit dem bekannten Schlagzeuger und Multiinstrumentalisten Friedemann Werzlau. Von dieser Zusammenarbeit existieren Aufnahmen, die Förster auf Soundcloud veröffentlicht hat. Das Duo hat damals schräge, hochexperimentelle Noise-Tracks produziert, Förster steuert zum Teil spektakuläre Stimmlaute bei.

Aus der Echtzeitmusikszene ist Förster heute kaum wegzudenken

Nach der Wende macht Rosemarie Förster sich als Geschäftsfrau selbstständig: Sie eröffnet den Laden Sound & Sync in Treptow, verkauft dort unter anderem modulare Synthesizer. Einer ihrer Kunden ist Andreas Schneider, der heute Berlins bekanntesten Synthesizer-Laden betreibt („Schneiders Laden“). Schneider – und damit schließt sich der Kreis – veranstaltet auch das Superbooth-Festival, bei dem sie kürzlich aufgetreten ist. Ende der Neunziger gibt Förster den Laden schließlich ab, sie geht in Rente und zieht nach Neukölln.

Den Umgang mit dem DDR-Erbe in der Nachwendezeit bezeichnet Förster heute als „furchtbar“. „Dass sie den Palast der Republik einfach abgerissen haben, darüber komme ich nicht hinweg.“ Sie kann auch nicht verstehen, dass nicht Teile des Gesundheitswesens, der Kinderbetreuung und des Schulsystems übernommen worden seien: „Das, was daran besser war.“

Aus der sogenannten Echtzeitmusikszene Berlins ist Förster heute kaum wegzudenken. In jüngerer Zeit hat sie etwa viel mit dem Kontrabassisten Klaus Kürvers und mit der Klarinettistin und Multiinstrumentalistin Lena Wenta zusammengearbeitet. Beim Superbooth-Festival machten Förster und Wenta mit dem umtriebigen Jazzdrummer Joe Hertenstein und Bassist Meinrad Kneer gemeinsame Sache.

Ein Zufall, der Förster gelegen kommt, ist, dass in ihrer Nachbarschaft in den vergangenen zwanzig Jahren kleine Jazz- und Experimental-Clubs (Donau115, Peppi Guggenheim, KM28) entstanden sind. „In der Donau115 gibt es dienstags eine Open-Mic-Session (‚Two Song Tuesday‘), da bin ich neulich erst aufgetreten“, erzählt sie begeistert. Sie spielt ein Stück auf ihrem Smartphone vor. Man hört, wie sie Stimmen mit einem Effektgerät loopt, auch eine Strophe aus dem Jazz-Klassiker „Basin Street Blues“ singt sie mit glockenhellem Soprangesang. An Orten wie der Donau115 trifft sich eine internationale Szene. Förster begrüßt das, „ich bin eher so ein Multi-Kulti-Typ“, sagt sie über sich. Von den Verheißungen der weiten Welt, die ihr in der DDR noch verwehrt blieben, ist sie inzwischen direkt umgeben.

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