Diese dubiose Freiheit

„Senza casa“, ein Band mit bisher unbekannten tagebuchartigen Aufzeichnungen Ingeborg Bachmanns, bringt ihr Streben nach absoluter Unabhängigkeit auf den Punkt

Ingeborg Bachmann an der Schreibmaschine – undatiert (vermutl. 1960er Jahre) Foto: Keystone/ullstein bild

Von Helmut Böttiger

Den vielen Gesichtern der Ingeborg Bachmann sind in den letzten Jahren etliche neue hinzugefügt worden, und mehr denn je wird ihre Biografie von Mystifizierungen und vermeintlichen Entmystifizierungen überwuchert. Auch in ihren literarischen Texten tarnte sie sich virtuos und legte widersprüchliche Fährten aus, die sich sofort ins Fiktive verlagerten. Konkrete, unverstellte autobiografische Zeugnisse gibt es von ihr kaum, ihre höchst unterschiedlich intonierten Briefwechsel gehören keineswegs dazu. Bachmanns jüngst veröffentlichte Korrespondenz mit Max Frisch war eher dazu geeignet, das Bild ihrer Person endgültig zu verwirren. Deshalb ist die Bedeutung der jetzt in der großen Salzburger Werkausgabe vorgelegten tagebuchartigen Notate nicht zu unterschätzen. In ihren wenigen privaten Aufzeichnungen zeigt sich vor allem eine existenzielle Unsicherheit. Es geht um die Überforderung, dem selbstgewählten Leben einer berufstätigen Frau, die sich nicht sofort in den sicheren Hafen einer Ehe begeben will, in den fünfziger und sechziger Jahren gerecht zu werden. Bachmanns Vorstellungen waren gesellschaftlich nicht vorgesehen.

Im Jahr 1951, im Alter von 25 Jahren schreibt sie, während sie in Wien als Radioredakteurin ein bohèmehaftes Leben führt, als Model mit Lederjacken posiert, Begehren auslöst und entsprechende Affären hat: „Es wird immer unmöglicher, schlafen zu gehen. Bohrende Nervosität, und Müdigkeit von Jahren dahinter. Die Versuche, das ‚Richtige‘ zu tun, Kompromisse, Unbedingtheiten, Skrupel. Der Versuch, sich auszudrücken, zu spüren, die Schatten zu teilen. Ein sehr dunkles Dickicht, an dem jedes Messer zerbricht.“

Und auch als bald danach ihre große Berühmtheit einsetzt, ändert sich der Ton ihrer intimen Notate nicht, im Gegenteil: Abgesehen von wenigen Ausnahmen wird er immer verzweifelter. Man hat beim Lesen dieser fragmentarischen, oft wie nebenbei hingekritzelten Blätter den Eindruck, dass Ingeborg Bachmann die verschiedenen Rollen, die sie in der Öffentlichkeit einnahm, selbst nicht mehr beherrschen konnte. Sie galt bereits früh als kapriziöse, lyrische Diva, und von Anfang an stritt man sich darüber, ob das eher Zuschreibungen von außen waren oder doch auch Selbstinszenierungen, in denen die Dichterin alle möglichen Masken zwischen süßem Mädel und Vamp aufsetzte. In einer charakteristischen Notiz schwankt sie zwischen den Sätzen „Ich bin es nicht“ und „Ich bin’s“, und einmal erkennt sie beim Nachspüren ihrer Verhaltensweisen im Umgang mit anderen: „Es handelt sich um Vorstellungen, die ich von mir habe oder haben möchte, die ins Spiel kommen.“

Es ist bezeichnend, dass sie derlei tagebuchähnliche Blätter nur äußerst sporadisch geschrieben hat, mitunter im Abstand von mehreren Jahren. Ihre Energie war in erster Linie darauf gerichtet, das Schrei­ben in eine andere Richtung zu lenken, in die Eigendynamik von Figuren, die sich von unmittelbaren Alltagserfahrungen entfernen. Die Nachlassverwalter fanden diese seltenen, erkennbar nicht als literarische Versuche intendierten Notizen verstreut in mehreren Ordnern und Kladden, oft in Form einzelner Zettel, die zwischen Werk- und Briefentwürfen, Einkaufslisten oder Zahlenkolonnen lagen. „Verzettelung“: dieses Wort verwenden die Herausgeberinnen des Bandes deshalb auch symbolisch, die Art von Bachmanns persönlichen Aufzeichnungen entspricht genau der Art und Weise, wie sie ihre Lebensführung insgesamt empfand.

Eine große Ausnahme, die Entdeckung dieser Edition, ist das von den Herausgeberinnen so benannte „Neapolitanische Tagebuch“, ein Notizheft aus der Zeit zwischen Februar und September 1956, als Bachmann zusammen mit Hans Werner Henze in dessen Wohnung in Neapel lebte. Der Komponist hatte sie bereits 1953 nach Italien gelockt, es war ihr Sprungbrett in ein Leben als freie Schriftstellerin. Die ersten, künstlerisch rauschhaften gemeinsamen Wochen mit dem homosexuellen Henze damals auf Ischia schufen eine komplexe Bindung, die auch sinnliche Implikationen hatte. Bachmann führte fortan eine radikal ästhetische Existenz, zog oft um, lebte meistens in Rom, aber sie hatte permanent finanzielle Nöte. Die Notwendigkeit, sich durch aufwändige Aufträge beim Rundfunk durchschlagen zu müssen, führte wiederholt zu persönlichen Krisen. Das halbe Jahr mit Henze im Jahr 1956 bildete dann eine schwierige Zuflucht, sie fühlte sich auf eine fundamentale Einsamkeit zurückgeworfen: „So vergeblich zu lieben ist wie zum Tod verurteilt sein, jeden Tag aufs Neue, und nicht zu sterben.“

Einmal, als sie von dem Gefühl der Aussichtslosigkeit durchdrungen ist, zitiert sie für sich aus Musils „Schwärmern“: „Alle letzten Dinge sind nicht in Einklang zu bringen.“ Leben und Literatur gehen bei Bachmann untrennbar ineinander über, und das geht über eine bloße Floskel weit hinaus. Auf der einen Seite ist da ein unbedingtes Streben nach Unabhängigkeit, auf der anderen Seite stehen nicht einlösbare Sehnsüchte. Angesichts der vorherrschenden Geschlechterrollen hat die Absolutheit, mit der sie ihr Ideal zu leben versucht, etwas äußerst Prekäres: „Meine dubiose Freiheit: ich bin unbeeindruckbar.“

Ingeborg Bachmann: „Senza Casa. Autobiographische Skizzen, Notate und Tagebucheintragungen“. Herausgegeben von Isolde Schiffermüller, Gabriella Pelloni und Silvia Bengesser. Suhrkamp Verlag, Berlin, Piper Verlag, München 2024, 336 Seiten, 42 Euro.

Die existenzielle Dimension, die das Schreiben für Bachmann hat, ist für die Verhältnisse der aktuellen Gegenwart, mit ihrer intensiv ausgebauten Infrastruktur des Literaturbetriebs, kaum noch nachzuvollziehen. Aber gerade hier liegt der Kern der Rätselhaftigkeit, die Bachmann umgibt, ihrer Fremdheit, ihres geradezu exemplarischen Lebens. Ihre Texte und ihre Verhaltensweisen nach heutigen Prämissen beurteilen zu wollen, wäre verfehlt. Bachmanns Gedichte ragen in ihrer Zeit heraus. Dabei fällt auf, dass ihr Fluchtpunkt nicht die Gegenwart ist: „Wir nehmen in unsre Erfahrungen die Erfahrungen der Vorangegangenen auf, und obgleich es keinen nützlichen Einfluss gibt, sollen wir uns offenhalten für das Einfließen von ‚Ausströmungen heiliger Münder‘, wie es in einem alten griechischen Text heißt. Die ‚Zeitnähe‘ soll uns nicht kümmern; die Zeit prägt uns ohne Zutun.“

Es tauchen in diesem Buch einige bisher neue Aspekte aus Bachmanns Biografie auf. So bekommt die nur in Andeutungen bekannte, von 1955 bis zu ihrem Tod 1973 währende lose, aber im Gegensatz zu allen anderen Affären nie endende Beziehung zu dem französischen Journalisten Pierre Évrard erste Konturen. Zwar wünscht sie sich Ende der sechziger Jahre eine gemeinsame Wohnung mit ihm in Paris, aber es bleibt auch da bei seinen Bedingungen: „gemeinsame Ferien, keine Fragen, Forderungen, Pläne“. Und es ist frappierend, wie sehr Paul Celan Bachmanns Utopie einer Gemeinsamkeit zwischen Literatur und Leben zu verkörpern schien, wie zäh sie an dieser Fantasie festhielt und doch die Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung konstatieren musste – „die unendlichen Schmerzen, die zwei Menschen einander zufügen, die Liebe, in der es keine Vergebung gibt, sondern Opfer über das Ende hinaus.“

„So vergeblich zu lieben ist wie zum Tod verurteilt sein, jeden Tag aufs Neue, und nicht zu sterben“

Ingeborg Bachmann

Sehr aufschlussreich sind einige zugespitzte Notate über die körperlich extrem erschöpfende Anstrengung philosophisch-begrifflichen Denkens, über Sexualität und Todesnähe, über Narzissmus, über psychische Verwerfungen in ihren letzten zehn Lebensjahren – und leitmotivisch über die Unmöglichkeit, mit einem Mann wirklich zusammenleben zu können: „Ich habe nur mehr einen ekelhaften Geschmack im Mund und manchmal ein Gefühl der Erniedrigung, weil ich gezwungen bin, mich mit den Gefühlen andrer auseinanderzusetzen, als gingen sie mich etwas an. Und ich frage mich, wie weit man schuld ist an Gefühlen und Leidenschaften, die man erweckt, und wie erbärmlich diese Welt eingerichtet ist, dass einer den andern nie erreicht.“

Der schmale Band mit dem Titel „Senza casa“, der Ingeborg Bachmanns nervöse Suche und Ortlosigkeit mit einer mehrfach von ihr selbst gebrauchten Formulierung auf einen Nenner bringt, zeigt auf eindringliche Weise: Dem Lebenswerk dieser Schriftstellerin ist nicht mit boulevardesker Sensationsgier oder mit moralischen Verdikten beizukommen. Diese radikale Konfrontation von Künstlertum und Gesellschaft schärft das nötige Geschichtsbewusstsein.