IGH spricht von unzulässiger Annexion

Laut höchstem UN-Gericht verstößt Israels Besatzung palästinensischer Gebiete gegen das Völkerrecht. Welche praktischen Folgen hat das Gutachten?

Von Christian Rath

Die israelische Besatzung im Westjordanland und in Ost-Jerusalem ist illegal und muss beendet werden. Dies erklärte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, das höchste Gericht der Vereinten Nationen, am Freitag in einem Rechtsgutachten („Advisory Opinion“) für die UN-Generalversammlung. Diese hatte im Dezember 2022 auf Antrag der palästinensischen Autonomiebehörde den IGH damit beauftragt, zu untersuchen, welche rechtlichen Konsequenzen die seit 57 Jahren andauernde israelische Besetzung von palästinensischen Gebieten hat.

Das Gutachten, das Gerichtspräsident Nawaf Salam auszugsweise verlas, wurde von der palästinensischen Seite als großer Erfolg gewertet. Die palästinensische Autonomiepräsidentschaft sprach am Freitag von einer „historischen“ Entscheidung. Israel sei verpflichtet, „dieses unrechtmäßige koloniale Vorgehen bedingungslos zu beenden“, hieß es aus dem Büro von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas.

Israels Ministerpräsident Netanjahu sagte hingegen, das jüdische Volk sei „kein Besatzer in seinem eigenen Land“. Israel hatte das Westjordanland, Ost-Jerusalem und den Gazastreifen 1967 im Zuge des Sechstagekrieges besetzt, ebenso die Golanhöhen. Aus dem Gazastreifen zog sich Israel 2005 zurück, aber er gilt immer noch als israelisch besetzt, weil Israel zum Beispiel die Grenzen und damit den Personen- und Warenverkehr kontrolliert.

Zunächst stellt der IGH zahlreiche Rechtsverletzungen durch Israel fest. Dann zieht er daraus weitgehende rechtliche Schlüsse bis hin zum sofortigen Abzug der israelischen Siedler. Maßstab für den IGH ist vor allem die 4. Genfer Konvention von 1949 über die Rechte und Pflichten eines Besatzungsstaats. Dabei sei davon auszugehen, dass eine Besatzung nur vorübergehend und nicht dauerhaft ist. Israel aber habe durch die Legalisierung und Unterstützung dauerhafter Siedlungen in den besetzten Gebieten gegen Völkerrecht verstoßen. Durch Infrastruktur wie Straßen, die der palästinensischen Bevölkerung nicht offensteht, habe Israel die Siedlungen ins eigene Staatsgebiet integriert. Unzulässig sei auch, dass in den israelischen Siedlungen israelisches Zivilrecht gilt, obwohl in besetztem Gebiet grundsätzlich das bisherige Recht weiter gelten müsse.

Der IGH wertet das gesamte Vorgehen Israels als unzulässige Annexion. Israel wolle die Kontrolle über die besetzten Gebiete offensichtlich unumkehrbar machen, so Richter Salam. Damit habe Israel mit Gewalt sein Staatsgebiet ausgeweitet. Auch die Verdrängung von Palästinensern verstoße gegen die 4. Genfer Konvention. Dabei gehe es nicht nur um gewaltsame Vertreibungen – illegal sei es auch, eine Situation zu schaffen, in der Menschen keine andere Wahl haben, als ihre Heimatorte zu verlassen. Zudem habe Israel völlig versagt, Gewalt von Siedlern gegen Palästinenser zu verhindern und zu ahnden.

Einige Staaten hatten Israel in der mündlichen Verhandlung vorgeworfen, eine Situation der Apartheid errichtet zu haben, weil für israelische Siedler und Palästinenser unterschiedliches Recht gilt und die Bevölkerungsgruppen in den besetzten Gebieten streng getrennt werden. Der IGH stellt dazu fest, dass Israel gegen das Internationale Abkommen gegen Rassendiskriminierung (CERD) verstößt, ließ aber offen, ob damit das Verbot der „Apartheid“ oder das der „Segregation“ verletzt wird.

Aus seiner Feststellung zieht der IGH weitreichende Schlussfolgerungen. Mit 14:1 Richterstimmen entschied der IGH, dass Israel sofort alle neuen Siedlungsaktivitäten beenden und alle Siedler evakuieren muss. Mit 11:4 Richterstimmen wurde Israel aufgefordert, so schnell wie möglich die besetzten Gebiete zu verlassen. Mit 14:1 Richterstimmen wird Israel angehalten, den Palästinensern Schadenersatz für alle Rechtsbrüche zu zahlen. Hier dürfte es um gewaltige Summen gehen.

Für Staaten wie Deutschland wird es immer schwieriger, sich glaubwürdig zu verhalten

Das Gutachten hat an sich keine rechtliche Verbindlichkeit, ist aber als Rechtsgutachten von hohem Gewicht, insbesondere wegen der klaren Mehrheiten. Der deutsche IGH-Richter Georg Nolte stimmte immer mit der Mehrheit.

Das weitere Vorgehen müssten nun UN-Generalversammlung und UN-Sicherheitsrat klären, sagte Richter Salam zum Abschluss. Aber auch für alle UN-Mitgliedstaaten gibt es Konsequenzen. Laut IGH sind sie verpflichtet, Israel nicht bei der Aufrechterhaltung der Besatzung zu helfen und zu unterstützen – also keine einseitig vorgenommene Veränderung des Status, der Grenzen und der demografischen Zusammensetzung der besetzten Gebiete anzuerkennen, und keine Handels- und Investitionsbeziehungen einzugehen, die der Aufrechterhaltung der Besatzung dienen.

Für Staaten wie Deutschland, die Israel grundsätzlich unterstützen, aber auch das Völkerrecht stärken wollen, wird es nun immer schwieriger, sich glaubwürdig zu verhalten. Während zahlreiche Länder weltweit das IGH-Gutachten begrüßten, gab es bis Sonntag keine offizielle Reaktion aus Berlin. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es gegenüber der taz, man werde das Gutachten genau und im Detail analysieren und hoffe, dass es „den dringend benötigten Impuls für eine verhandelte Zweistaatenlösung gibt, für die sich die Bundesregierung seit Langem auch gegenüber Israel einsetzt“. Die völkerrechtswidrige israelische Siedlungspolitik stehe dem entgegen.

Mitarbeit: Dominic Johnson