„Die große Gefahr von Raguhn-Jeßnitz“

Die Kommunalwahlen am 9. Juni könnten eine Normalisierung für die AfD bedeuten. For­sche­r*in­nen der Hochschule Magdeburg-Stendal haben sich gefragt: Was hilft kurz- und langfristig gegen die rechte Landnahme und wie kann man weitere Ämter für die AfD verhindern?

Der erste hauptamtliche AfD-Bürgermeister Hannes Loth vor dem Rathaus in Raguhn-Jeßnitz.

Der erste hauptamtliche AfD-Bürgermeister Hannes Loth vor dem Rathaus in Raguhn-Jeßnitz Foto: Fo­to:­ Ingmar Björn Nolting/laif

Interview Gareth Joswig

wochentaz: Herr Dietze, Sie haben sich in einer Studie mit Bitterfeld-Wolfen und Raguhn-Jeßnitz auseinandergesetzt. Das sind beides AfD-Hochburgen in Sachsen-Anhalt – mit einem wichtigen Unterschied: In einer Gemeinde stellt die AfD seit letztem Jahr ihren ersten Bürgermeister, in der anderen hat die extrem rechte Partei 2023 eine fast schon sicher geglaubte Stichwahl am Ende doch noch verloren. Was sind das für Kommunen?

Nikolas Dietze: Grob entsprechen beide dem klassischen Bild von ostdeutschen Kommunen im ländlichen Raum. Aber sie sind nur bedingt vergleichbar: Raguhn-Jeßnitz ist eine sehr ländlich geprägte kleinstädtische Gemeinde mit 9.000 Einwohnern. Bitterfeld-Wolfen ist nur wenige Kilometer entfernt, hat aber mit knapp 40.000 Einwohnern eine Industriegeschichte. Sozioökonomisch steht Bitterfeld-Wolfen trotz Abwanderung immer noch besser da als andere Kommunen – es gab zu DDR-Zeiten viel Umweltverschmutzung, aber es gibt dort auch noch immer viel Indus­trie rund um den Chemiepark.

Wie wird Politik in Kommunen wie Raguhn-Jeßnitz und Bitterfeld-Wolfen wahrgenommen?

Viele Befragte haben uns in Interviews gesagt: Sachpolitik ist wichtig; aber sie nehmen diese häufig als sehr dysfunktional wahr. Nach dem Motto: Die haben hier jetzt ewig regiert, aber was ist denn passiert? Die Einstellungsforschung zeigt eigentlich eine hohe Zustimmung zur Idee der Demokratie, sowohl im Westen als auch im Osten. Aber im Osten kommt große politische und soziale Deprivation dazu, also Gefühle von Einflusslosigkeit und fehlenden Mitgestaltungsmöglichkeiten. Häufig wurden Dinge angesprochen wie fehlende Begegnungsorte, ebenso schlechte Mobilität und Infrastruktur bemängelt. Das mündet in politischer Unzufriedenheit, was eine Wahl der AfD fördern kann. Die Qualität der Demokratie wird in diesen Kommunen an der Handlungsfähigkeit des Staates gemessen. Ein schönes Zitat aus den Gesprächen war dieses: Ich kann nicht nur immer sagen, dass es keine Papierkörbe gibt, ich muss etwas dafür tun, dass welche aufgestellt werden.

Was konnten Sie aus der Niederlage der AfD in der Stichwahl in Bitterfeld-Wolfen im Oktober 2023 lernen?

Es hat sich gezeigt, dass eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung Machtgewinne der AfD auch kurzfristig verhindern kann. Vor allem breite Zusammenschlüsse gegen Rechtsextremismus und für Demokratie können als kurzfristige Interventionsmöglichkeit erfolgreich sein. Der AfD-Kandidat Henning Dornack hat den ersten Wahlgang mit 33 Prozent gewonnen und ist gegen den CDU-Amtsinhaber Armin Schenk in die Stichwahl gezogen. Innerhalb von knapp zwei Wochen ist das Bündnis Stadt mit Courage und gegen Rassismus in Erscheinung getreten, hat einen offenen Brief verfasst, verbunden mit einem Wahlaufruf.

Was hat es gebracht?

Es gab große überregionale Unterstützung, selbst Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff hat den Brief unterzeichnet. Die Wahlbeteiligung ist gegenüber dem ersten Durchgang nahezu unverändert geblieben. Normalerweise ebbt die Beteiligung in der Stichwahl stark ab. Hier wurde das Ergebnis jedoch gedreht und Amtsinhaber Armin Schenk konnte sich mit 54 Prozent relativ deutlich durchsetzen. Im thüringischen Nordhausen, wo es kurz davor bei einer Stichwahl eine vergleichbare Mobilisierung gegeben hat, lief es ähnlich.

Was war das Erfolgsrezept in Bitterfeld-Wolfen?

Hier hat vor allem die sachpolitische Auseinandersetzung mit der AfD geholfen, indem man ihren Rechtsextremismus thematisiert hat. Man hat gesagt: Die AfD ist nicht einfach nur ein politischer Partner im Stadtrat, sondern als bundespolitische, antidemokratische Partei ein Risiko – auch konkret für unsere Region. Was ist die AfD, was strahlt sie aus und warum wollen wir das nicht haben?

Was hilft nach Ihren Befragungen denn mittel- und langfristig?

Was in den Interviews immer wieder gesagt wurde: Es finden an allen Ecken und Enden Rückzüge und Abbauten statt. Es braucht eine kontinuierliche Stärkung demokratischer Alltagskultur, also die sichere Förderung von Vereinen und Ortsinitiativen, die im Alltäglichen die Hegemonieansprüche der AfD in Frage stellen. Ebenso sollte man infrastrukturelle Rückzüge stoppen. Da brauchen Kommunen auch finanzielle Spielräume.

Inwiefern verschärft Sparpolitik die Situation?

Die AfD kann in diesen Kommunen ihre Hegemonieansprüche auf ein kaputtgespartes Fundament bauen. Mittel- und langfristig müssten diese Lücken geschlossen werden, die der AfD dabei helfen, sich als Kümmerer zu inszenieren.

Was sind die Lehren aus Raguhn-Jeßnitz, wo 2023 mit Hannes Loth der erste hauptamtliche AfD-Bürgermeister ins Amt gewählt wurde?

Hier zeigt sich, dass Kommunalämter entschieden zu einer Normalisierung der AfD bundesweit beitragen können. Einerseits ist Hannes Loth seit der Gründung der AfD 2013 jeden Schritt der Radikalisierung mitgegangen – und die AfD Sachsen-Anhalt ist vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft. Andererseits mäandert Loth stark zwischen Nähe und Distanz zu seiner Partei. Er hat in seiner Landtagsfraktion etwa einmal gefordert, sich konsequenter von der Identitären Bewegung abzugrenzen. Sein Mäandern zwischen Nähe und Distanz ermöglicht es wiederum anderen kommunalpolitischen Akteuren, aber auch Bewohnern, Sympathien und Zusammenarbeit zu rechtfertigen. In seiner Beurteilung dominiert das Persönliche. Wenn man mit Leuten vor Ort spricht, gib es wenig Kritik an ihm.

Warum stören sich viele nicht daran, dass er in einer rechtsextremen Partei ist?

Zugespitzt: Das Verfassungsschutz-Label „gesichert rechtsextrem“ spielt vor Ort keine Rolle. Das hat natürlich gesamtgesellschaftliche Ursachen. Durch den Rückzug demokratischer Parteien und regionale Strukturschwächen tun sich Wirksamkeitsfelder auf, die Loth vor Ort sehr gut füllt. Wir nennen das kommunalen Machtpragmatismus, mit dem Loth die Partei auch überregional normalisieren kann. Hier kann die AfD behaupten: Wir können auch regieren und Verantwortung übernehmen.

Geht das vor Ort auf?

Ja, laut unseren Befragungen geht das offensichtlich auf. Und darin steckt die große Gefahr von Raguhn-Jeßnitz. Die vor Ort von Loth ausgestrahlte Normalität steht der bundesweiten Radikalisierung und Skandalisierung der AfD im alltäglichen Erleben der Menschen vor Ort sehr entgegen.

Am 9. Juni bei den Kommunalwahlen ist eine flächendeckende Stärkung der AfD in Kommunalparlamenten und damit noch einmal ein großer Normalisierungsschub zu erwarten. Was leiten Sie dafür aus Ihrer Forschung ab?

Vor Ort sehen wir häufig eine stark fragmentierte Kommunalpolitik bei einer zunehmenden Entfremdung von der Parteiendemokratie. Das macht es der AfD und anderen Wählerbündnissen leicht, sich dort breitzumachen.

Demokratische Parteien sind weniger präsent?

Zumindest in der Wahrnehmung der Leute ist es so, dass die AfD als wesentlich präsenter wahrgenommen wird. Sowohl digital als auch vor Ort ist die AfD die einzige Partei, die sich auf den Netto-Parkplatz stellt und ansprechbar ist. Der Vorgänger von Hannes Loth hat Bürgersprechstunden in seinem Büro angeboten und Loth stellt sich selbst jedes zweite Wochenende in einem anderen Ortsteil auf den Parkplatz am Supermarkt. Es ist eine Raumübernahme, aber auch in gewisser Hinsicht eine Raumüberlassung.

Im thüringischen Sonneberg ist die rechte Gewalt seit dem Amtsantritt des AfD-Landrats gestiegen. War rechte Hegemonie als Problemfeld mit Auswirkungen auf das öffentliche Klima auch ein Thema in Ihren Interviews?

Das haben einige Leute angesprochen. Im Stadtrat fragen sich Abgeordnete auch, warum sie sich jetzt nach vorne stellen und zwei Stunden lang anbrüllen lassen sollen. In Bitterfeld-Wolfen tritt die AfD sehr angriffslustig und kampfbereit in Erscheinung. Bei den Demos gegen Rechtsextremismus nach der Correctiv-Recherche haben in Bitterfeld-Wolfen AfD-Politiker die Demonstranten abgefilmt. Das so erzeugte öffentliche Klima macht es den Leuten schwer, in Erscheinung zu treten oder in die Öffentlichkeit zu gehen.

Nikolas Dietze

Foto: Swen Reichold

lehrt und promoviert aktuell am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig mit dem Schwerpunkt Demokratie- und Rechtsextremismusforschung. Er war in der Vergangenheit im Else-Frenkel-Brunswik-Institut an der Universität Leipzig sowie im Institut für demokratische Kultur an der Hochschule Magdeburg-Stendal tätig. Dietze ist außerdem Teil des Forschungsprojekts „Integrative Demokratieforschung im Land Sachsen-Anhalt“.

Das erinnert wie auch Angriffe auf Wahlkampfhelfer an die Baseballschlägerjahre der Neunziger mit Einschüchterungsmethoden von Kameradschaften und militanten Neonazis – also faschistische Methoden.

Ja, das ist auch genau das Fundament, was in diesen Kommunen herrscht und die Normalisierung der AfD begünstigt. Neben den gewaltsamen Baseballschlägerjahren kamen aber auch die Politik von Bundes- und Landesregierungen in dieser Zeit und den Jahren danach hinzu, die das nicht weitreichend bekämpft haben. Das begünstigt rechte Hegemonie in ostdeutschen Kommunen bis heute.

Welche Rückschlüsse ziehen Sie mit Blick auf die Abgrenzung gegenüber der AfD? Gibt es die viel zitierte Brandmauer auf kommunaler Ebene überhaupt?

Es braucht natürlich eine Selbstbehauptung gegen antidemokratische Aspekte der AfD-Agenda beim Abstimmungsverhalten. Aber eine Brandmauer existiert in diesen Kommunen nicht. Hier wird gesagt: Brandmauer ist ein Konzept aus Berlin, das hier bei uns lokal nicht funktioniert. Da zeichnet sich die Verharmlosung der Partei als normaler demokratischer Akteur ab, der eben demokratisch gewählt wurde.

Wer für AfD-Anträge stimmt, trägt ja auch zur Normalisierung bei.

Natürlich fördert gemeinsames Abstimmungsverhalten die Normalisierung, das sollte man nicht wegwischen. Aber es ist immer auch ein schmaler Grat, von außen die Brandmauer einzufordern. Denn es ist auch vermessen, Ehrenamtlichen, die das Stadtratsamt neben einem 40-Stunden-Job machen, Handlungsempfehlungen auszusprechen, wie sie diesen Konflikt vor Ort genau lösen müssen. Diese Realität muss man auch einbeziehen. Häufig müssen dort präzise Einzelfallentscheidungen gelöst werden – das ist schon eine Herkulesaufgabe. Das bleibt ein Dilemma.