Der Krieg in der Ukraine als Überlebensfrage in der EU

Verteidigung und Krieg dominieren den EU-Wahlkampf. Während Frankreichs Präsident Macron sich als Friedensbringer im klassischen Sinne sieht, gerät die Scholz’sche Zögerlichkeit unter Druck

Ein Mann streckt den Arm aus einem Auto und hebt den Daumen

Daumen hoch für mehr Waffen und Einmischen ins Kriegsgeschehen: der französische Präsident Emmanuel Macron auf Staatsbesuch in Dresden Foto: Robert Michael/dpa

Von Tanja Tricarico

Es ist ein beispielloser Moment in der Geschichte Europas. So formuliert es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der zum ersten französischen Staatsbesuch seit über 20 Jahren nach Deutschland reiste. Das Projekt Europa steht also am berühmten Scheideweg? Es herrscht Krieg mitten in Europa, mit Häuserkampf, Drohnenbeschuss und Tausenden Toten in der Ukraine.

Der Krieg dominiert die Debatte – und der Begriff eines Friedens, der sich neu erfinden muss. Und so wählt auch Macron markige Sätze: Europa wird sterben, sagte er am Montag in Dresden. Ein Satz, den er bereits in einer flammenden Rede an der Universität Sorbonne vor wenigen Wochen aussprach. Und Europa wird leben, wenn es sich mit einer Stimme und klarer Haltung für die Ukraine einsetzt. Konkret heißt das für Macron: Waffenlieferungen, eine eindeutige Abgrenzung vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, ein Bekenntnis zur Ukraine als Teil Europas. Sogar einen Einsatz von Bodentruppen schließt Macron nicht aus. Auch wenn seine Aussagen dazu recht wolkig ausfielen. Der Aufschrei in anderen EU-Staaten, auch Deutschland, zu einem möglichen Einsatz heimischer Soldat:innen, war ihm sicher bewusst – und damit gut orchestriert.

Macrons Vision vom Weg zum Frieden ist mit Bomben und Artillerie gepflastert. Auch die SPD, allen voran die EU-Kandidatin Katarina Barley und Kanzler Olaf Scholz, setzt auf Frieden. Aber auf welchen genau? „Frieden sichern. SPD wählen“, lautet der Slogan, mit dem die Sozialdemokraten in den Wahlkampf ziehen. Nur wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion in der Ukrai­ne im Februar 2022 rief Scholz die Zeitenwende aus. Nach einem holprigen Start ist Deutschland nach den USA derzeit der zweitgrößte Waffenlieferant an das kriegsgeplagte Land. Für Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sowie Ver­tei­di­gungs­ex­per­t:in­nen von FDP und CDU sind die Lieferungen jedoch nicht genug.

Derzeit ist es ruhig geworden um den Marschflugkörper Taurus, der die russischen Truppen abschrecken könnte, dem Kanzler aber genau das Quäntchen zu viel an Schlagkraft hat. Scholz befürchtet, dass Deutschland dann als Kriegspartei betrachtet wird. Auch beim Einsatz westlicher Waffen an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine oder gar auf russischem Territorium hält der SPD-Mann an seinem Nein fest. Innerhalb der EU-Staaten gehen die Meinungen auseinander. Die baltischen Länder, die Nordstaaten, aber auch Frankreich, würden der Aufforderung von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg folgen. Scholz nicht.

Mit der Friedenskampagne der SPD zur Europawahl bedienen Scholz und Co. die Sorgen in der deutschen Bevölkerung. Umfragen zufolge haben bis zu 60 Prozent Angst davor, dass Russland auch andere Staaten in Europa angreifen könnte, dass Deutschland als Kriegspartei betrachtet wird, dass russischer Einfluss zunehmen könnte. Kriege enden in der Regel durch Verhandlungen. Die Frage ist nur, in welcher Position die Kriegsparteien am Verhandlungstisch sitzen. Auf Augenhöhe? Als Bittsteller? Kriegsmüde oder vor Waffenkraft strotzend? Das Narrativ des Kriegstreibers Deutschland befeuern auch extreme Kräfte an den Rändern. Die AfD und das BSW an vorderster Front. Das Bündnis Sahra Wagenknecht bezieht sich gar auf die Entspannungspolitik Willy Brandts.

Die Scholz’sche Zögerlichkeit wird derweil von bilateralen Vereinbarungen mit der Ukraine und Vorstößen auf EU-Ebene mächtig unter Druck gesetzt. Belgien hat dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zugesagt, bis Jahresende die ersten von 30 F-16-Kampfjets zu schicken. Auch die Niederlande und Dänemark sind bei der Kampfjet-Koalition dabei. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell drängte bei einem Treffen der EU-Verteidigungsminister darauf, dass die Ukraine westliche Waffen auch gegen Ziele in Russland einsetzen darf und hält so die politische Debatte am Laufen.

Während der Kanzler noch mit dem Friedensnarrativ spielt, agiert der französische Freund Macron als Feldherr der EU. Und er bekommt für seine Bemühungen den West­fälischen Friedenspreis überreicht – als Dank für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier pries in seiner Laudation auf Macron dessen Weitsicht und Verve sowie die Gabe, auf Deutschland zuzugehen und „uns aus der Reserve zu locken“. Gemeint ist wohl auch in Sachen Friedenspolitik.