Daniel Kehlmann über Kafka: „Er ist der Meister der Groteske“

Franz Kafka war der Autor der Peinlichkeit der Macht. Seine Sprache kann zudem keine KI imitieren, sagt der Schriftsteller Daniel Kehlmann.

Max Brod (David Kross, l.) und Franz Kafka (Joel Basman) stehen in der Serie „Kafka“ auf einem Bahnsteig zwischen Zügen.

Er veröffentlichte postum alles von ihm: Max Brod (David Kross, l.) und Franz Kafka (Joel Basman) in der Serie „Kafka“ Foto: Superfilm/NDR

wochentaz: Herr Kehlmann, ist Franz Kafka heute der berühmteste Schriftsteller der Welt?

Daniel Kehlmann: Kafka ist zweifellos heute der einflussreichste Schriftsteller von allen, und ich finde es schön, dass ein Mann, der sich so verloren fühlte, heute alle anderen in den Schatten stellt, ob sie nun Hemingway, Proust oder Joyce heißen.

wurde 1975 in München geboren. Er studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Sein Roman „Die Vermessung der Welt“ von 2005 wurde auch international ein Bestseller. 2017 erschien sein Roman „Tyll“ über Till Eulenspiegel. Für die Fernsehserie „Kafka“ (2024) schrieb er das Drehbuch.

„Die Verwandlung“ ist sein meistgelesenes Werk. Warum stört und reizt uns die Metamorphose eines Büroangestellten in ein Insekt so sehr?

Ich glaube, das hängt auch mit dem unglaublichen Schachmatt zusammen, das Kafka in dieser Erzählung gelingt.

Welches Schachmatt?

Die Tatsache, dass die Verwandlung von Gregor Samsa in ein Insekt in den ersten drei Zeilen stattfindet, und nicht nur, dass der Autor uns keine Erklärung dafür gibt, sondern auch, dass sich niemand darüber wundert. Die ungeheuerlichste Absurdität entpuppt sich als fast selbstverständlich: Das ist der Schachzug von Kafka, der die Literatur von nun an verändern wird.

Heute begeistern alle seine Texte Leser in der ganzen Welt. Wie ist das möglich?

Weil Kafka zwei Elemente miteinander verbindet, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. In seinen Texten spricht das Unbewusste, die Sprache der Träume. Das ist auch der Grund, warum er das Bedürfnis hatte, nachts zu ­schreiben, um den hypnotischen Fluss seiner Texte zu verstärken.

Er beklagte sich oft, dass für ihn „die Nacht nie Nacht genug war“.

Aber mit genau diesem Zauber seiner nächtlichen Sprache beschreibt Kafka die bürokratische Welt der Institutionen. Es ist diese Kombination, die uns sofort gefangen nimmt: ein Fluss von Traumbildern, der sich in das ergießt, was Kundera „die bürokratische Falle der Welt“ nannte.

In vielen Szenen zeigt Kafka jedoch die skurrile Seite des Staates: Richter, die in pornografischen Zeitschriften blättern, Gerichte, die wie verdorbene Saunas aussehen. Ist er der Dichter des Grotesken der Macht?

Er ist der Autor der Peinlichkeit der Macht, der absolute Meister der Groteske. Kafka stammte aus Prag, und seine Groteske ist zart, sie nährt sich von sehr leichten Verzerrungen. Kurzum, Kafka bringt einen zum Schmunzeln über Gerichtsdiener und Wächter, Boten und Richter, die so manisch und gleichzeitig komisch sind, und trotzdem gefährlich.

In diesem Sinne schreibt sich Kafka in die humoristische Tradition des magischen Prags ein, die Tradition des Soldaten Schwejk oder von Bohumil Hrabal.

Gewiss, Kafkas Literatur ist weder deutsch noch österreichisch oder gar russisch, sie verweist auf die histrionische Familie Mitteleuropas, mit ihrem nackten und derben Humor und ihrer Leidenschaft für die gröbste Menschlichkeit: für die Wäscherinnen und die feuchten Bierstuben, die fetten Köche und die nächtlichen Spelunken.

Wenn wir uns ihm heute näher fühlen, verdanken wir das auch seinen Tagebüchern und Briefen, die voller Ängste und Misserfolge sind.

Man sagt, seine Literatur sei rätselhaft, geheimnisvoll. Aber es gibt nur wenige Autoren, die wir so gut kennen, und zwar dank Max Brod, der jede Zeile, jeden Brief von ihm veröffentlicht hat. In jeder seiner Notizen aber, auch in den banalsten, ist Kafka immer auf höchstem poetischen Niveau. Er legt nie ein Gekritzel nieder, sein Biograph Reiner Stach sagte einmal: „Kafka schlief nie.“ Damit meint er die ungeheure sprachliche Wachheit dieses Geistes.

Eines der auffälligsten Merkmale seiner Prosa ist die apodiktische Einfachheit, die absurde Präzision seiner wildesten Sätze. Zum Beispiel: „Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“

Alles, was er schreibt, ist unnachahmlich in seiner poetischen Energie. Kafka spielt mit der Logik und konstruiert wie im Flug eine andere Logik der Welt. Ich könnte Thomas Manns Stil imitieren, niemals den von Kafka, weil man nie weiß, wie, warum und woher die Musik seines Satzes kommt.

Generationen von Marxisten haben versucht, vor allem in den Labyrinthen des „Processes“ und in der Unerreichbarkeit des „Schlosses“ eine immanente Kritik des kapitalistischen Systems zu lesen. Aber war Kafka jemals an Politik interessiert?

Nein, gerade seine extreme Sensibilität für die Sprache macht ihn sozusagen immun gegen jede historische und politische Abstraktion und jede Doktrin. Kafka ist kein Philosoph, er ist auch kein Professor, und wir finden bei ihm kein wirkliches Interesse an der politischen Sphäre. Selbst in Bezug auf den Ersten Weltkrieg war er weder dagegen, wie Karl Kraus oder Heinrich Mann, noch war er von ihm begeistert.

Max Brod hingegen spürte, dass im „Schloss“ die Luft des Heiligen vibrierte. Aber ist Kafkas Verhältnis zur Religion so ausgeprägt?

Ich glaube nicht, dass Brods religiöse Interpretation völlig falsch ist. Wie in Becketts „Go­dot“ ist es unmöglich, im „Schloss“ keine Andeutungen von Transzendenz wahrzunehmen. Kafka hatte jedoch seine eigene private Mythologie und pflegte zu sagen: „Es gibt unendlich viel Hoffnung, aber nicht für uns.“ Ich bin überzeugt, dass er an einen Gott und ein Jenseits glaubte, aber auch daran, dass wir diese himmlische Welt nie sehen werden. Wie die Boten des Kaisers, die abreisen, aber nie kommen werden, um uns die Botschaften zu überbringen.

Doch das erste Versprechen, das sich Kafka und seine Verlobte Felice Bauer geben, ist, gemeinsam nach Palästina zu gehen. Natürlich ist Kafka nie in das Heilige Land gereist, aber er hat sich immerhin mit Gartenbaukursen vorbereitet.

Er war fasziniert von der Reise nach Palästina und hatte sogar Hebräisch gelernt, aber er war nie ein Nationalist oder überzeugter Zionist. Einer seiner tiefsinnigsten Sätze ist für mich im Übrigen: „Was habe ich mit den Juden zu tun? Ich habe nicht einmal mit mir selbst etwas zu tun!“ Ein Satz, den wir jedes Mal überdenken sollten, bevor wir über Identitätspolitik sprechen.

Ist Kafka heute, inmitten einer digitalen Welt, in den Mythen der Transparenz und der totalen sozialen Kommunikation, das richtige Gegenmittel?

Jede Literatur ist ein Gegenmittel gegen die angebliche Transparenz und Unmittelbarkeit der Kommunikation auf digitalen Plattformen. Kafka ist so originell, dass kein Algorithmus seinen Klang reproduzieren kann. Jede KI reproduziert den wahrscheinlichsten und naheliegendsten Text, aber Kafka ist der Autor par excellence der unwahrscheinlichsten Texte.

Mit K.s Situation im „Process“ oder der des Landvermessers vor dem „Schloss“ zeichnet Kafka eine sehr präzise Architektur der Macht. Je näher wir dem Kern des Gesetzes kommen, desto mehr entzieht es sich uns nicht nur, sondern verstrickt sich in ein unentwirrbares Chaos.

Wir alle glauben beharrlich, die Macht sei ein geordneter Ort, an dem alles und jeder seine Funktion hat. Doch bei Kafka zerfällt dieser Traum in einen fortschreitenden Albtraum. Ja, je mehr wir versuchen, die Nerven der Macht zu erfassen, desto mehr verdichtet sich der Nebel in den Hallen des „Processes“ oder des „Schlosses“ zu einem reinen Chaos.

Am Ende des „Processes“ bittet der Angeklagte die Flöhe im Bart des Gerichtsdieners um Auskunft. Sind es vielleicht wir selbst, die uns von den Institutionen versklaven lassen?

In Wirklichkeit ist der Angeklagte selbst der Schuldige und führt den Prozess gegen sich fast alleine durch. Es ist nicht so eindeutig, dass K. schuldlos ist. Und im „Schloss“ – sind wir sicher, dass K. wirklich ein Landvermesser ist? Bei Kafka gibt es keinen Anstoß zur Befreiung oder zur Erlösung, in seinen Texten begeben wir uns vielmehr in ständige Missverständnisse, und das erhöht auch die Schuld seiner Protagonisten.

Protagonisten, die Kafka manchmal mit grausamer Brutalität bestraft. In der „Strafkolonie“ wird das Urteil zum Tode in die Haut der Verurteilten tätowiert. Ist Kafka ein Asket, dessen Prosa bis zum brutalsten Sadomasochismus gehen kann?

„In der Strafkolonie“ ist eine ausgesprochen aktuelle Erzählung, in der Kafka von Askese und Folter, sadomasochistischer Ekstase und Gefangenschaft erzählt. Eine Erzählung voller Anspielungen auf den Ersten Weltkrieg und die verbrannten Leichen der Soldaten, aber auch auf die Tatsache, dass Kafka in der Versicherung mit Industriemaschinen und verletzten Arbeitern zu tun hatte. Wie immer erklärt Kafkas traumhafte Sprache die Funktionsweise der Foltermaschine nicht ganz, und wie in „Der Process“ oder „Das Schloss“ bleibt alles in der Schwebe.

Ist nicht gerade diese Unbestimmtheit und der fragmentarische Zustand seiner Texte das Geheimnis seines Erfolgs?

Gewiss, seine Romane sind echte traumhafte Fragmente. Kafkas Texte müssen im Zustand schwebender Fragmente bleiben, denn, wie Jonathan Franzen mir einmal sagte, „Träume sind auch so, vage, fragmentarisch und unendlich“.

Es ist kein Zufall, dass er einer der wenigen Autoren des 20. Jahrhunderts ist, denen es gelingt, sich in die Gedanken von Insekten und Hunden, von Affen und Mäusen hineinzuversetzen.

Kafkas Tiere sind nicht die erbaulichen Tiere der Märchen, und er wählt nie große, starke oder gefährliche Tiere. Es sind einsame, unterwürfige Tiere, eingesperrt in erstickenden Räumen. Doch obwohl sie Sklaven sind, bringen diese Figuren nie dagewesene Überlegungen zum Ausdruck: Affen, die sich weigern, menschlich zu werden, Hunde, die nicht mehr am Essen riechen wollen, Mäuse, die über den Status der Kunst nachdenken.

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