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Politisches TheaterKrawalle um Platon

Nach 20 Jahren Osterweiterung dominiert die Ernüchterung. Das ist das Ergebnis einer Themenwoche am Nationaltheater Mannheim.

Platons „Der Staat / Państwo“ Foto: Bartek Barczyk

Die Angst ging um. Vor sogenannten Fremdarbeitern hatten manche gewarnt, die wie invasive Arten ins Land kommen und den Deutschen die Jobs wegnehmen könnten. Die Apologeten des Untergangs unkten, ganze Firmen würden abwandern. Freude stellte sich bei vielen erst später ein – als man begriff, dass man nun ohne Grenzkontrollen nach Tschechien reisen durfte. Die Rede ist von der EU-Osterweiterung.

Dass nun genau zwei Jahrzehnte danach eine ehrliche Bilanz lohnt, hat man sich am Nationaltheater Mannheim gedacht und kurz vor den Europawahlen eine Themenwoche unter dem Titel „Ostopia“ konzipiert. Das Fazit fällt, um das gleich vorab zu sagen, nüchtern, wenn nicht gar düster aus.

Wohl auch, weil noch nicht alles zusammengewachsen ist, was zusammengehören sollte. So zu beobachten in der Performance „Sinfonie des Fortschritts“ von Nicoleta Esinencu und dem Kollektiv teatru-spălătorie. Gewahr werden wir darin nicht nur einer Generalabrechnung mit dem westlichen Kapitalismus. Nein, wir erleben martialischen Brainfuck!

Mit Bohrmaschine und Akkuschraubern bewaffnet rocken Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan und Kira Semionov das Parkett. Wenn die an Schaltpulte angeschlossenen Minirotoren sich drehen, scheppert die Percussion und wuchtet sich lautester Techno durch das Studio.

So radikal dieser Abend in politischer Hinsicht, so dürftig erweist er sich auf ästhetischer Ebene

Diverse Ausbeutungsgeschichten

Dazwischen erzählen die Dar­stel­le­r:in­nen in orangener Arbeitsmontur diverse Ausbeutungsgeschichten. Von all den Amazonfahrer:innen, die sich auf ihren durchgetakteten Routen entscheiden müssen, ob sie sich selbst einpinkeln oder in eine Flasche urinieren. Hilfestellung gibt es von einer KI nur bei der Überschreitung der Auslieferzeiten, indem sie sich zuckersüß erkundigt: Ist denn alles in Ordnung?

Ebenso erfahren wir vom Los der Erntehelfer:innen. Nachdem man im skandinavischen Musterschülerland zwölf Stunden Gurken und Knoblauch, teils mit blutigen Händen und ohne Pause pflücken muss, bleibt den Saisonkräften nur noch die Wut im knurrenden Magen. „Finnland, fick dich“ lesen wir in den Übertiteln, übersetzt aus dem Rumänischen und Russischen, wo sich ansonsten auch sämtliche Feel-Good-Coach-Phrasen wie „Enjoy“ und „Motivation“ finden.

Übrigens kriegen auch wir unser Fett weg. Wer sich nämlich hierzulande als Mi­gran­t:in erlaubt, sich für ein Studium einzuschreiben, braucht schließlich genügend Geld. Für Kloputzen oder Abwaschen darf man sich da nicht zu schade sein. Privilegien gibt’s nur für jene, die sich die Krönung zum Deutschen verdient haben. Erst dann darf man während einer Pandemie auf Mallorca feiern.

Diese und ähnliche Pointen bringen den Zynismus eines bigotten Westens auf den Punkt. Begegnet wird ihm mit Krach, mit Werkzeugen, die inbrünstig die Revolution anzetteln wollen. So radikal und dringlich dieser Abend in politischer Hinsicht ausfallen mag, so dürftig erweist er sich allerdings auf ästhetischer Ebene. Denn die Dyade aus Krawall und Monologen läuft sich schon nach der ersten halben von fast zwei Stunden leer.

Theatrale Ostschau

Ähnlich verhält es sich leider auch mit dem großen Stück der theatralen Ostschau, hervorgegangen aus einer Kooperation mit dem Juliusz-Słowacki-Theater Krakau: Platons „Der Staat / Państwo“. Bestehend aus Dialogen mit Sokrates, führt letzterer sein Gegenüber bekanntermaßen durch gezielte Fragen zu einer höheren Einsicht.

Dies funktioniert in diesem Arrangement nur begrenzt. Während die meisten der Stadtbewohner im Kreis laufen und tanzen, wie Duckmäuser aus niedrig gelegenen Klappen auf die Bühne kriechen, sprechen die Philosophenfiguren (Dominika Bednarczyk und Karolina Kazoń) zumeist von einem festen Standpunkt nahe der Mitte aus. Sie fragen nach Gerechtigkeit und Tugend, problematisieren die beliebigen und zur Manipulation einladenden Definitionen dazu.

Abgesehen von dem geisteswissenschaftlichen Oberseminar dieses seelenlos ausgekotzten Textsalats scheitert die Inszenierung an ihrer Einfallslosigkeit. Clownesk gekleidete Dar­stel­le­r:in­nen wippen wirr über die Bühne, zappeln zum Höhlengleichnis, als würden sie einen epileptischen Anfall erleiden.

Dazu sieht man auf der riesigen Hintergrundleinwand Farbschlieren und grellbunte Antikenstatuen. Wollte man mit dieser desaströsen Kopfgeburt irgendetwas anstoßen – was hätte einem außer bloßem Bling-Bling-Dekor doch alles in den Sinn kommen können!

Die neobiedermeierlichen Tagschläfer

Und eigentlich wollte dieses Werk doch nichts anderes, als all die neobiedermeierlichen Tagschläfer wachrütteln, zumal der Regisseur Jan Klata mit ihm einen überaus kritischen Blick auf sein Heimatland Polen wirft. Nachdem er selbst und mit ihm der gesamte liberale Kulturbetrieb unter der Regierung der PiS-Partei, die ironischerweise „Recht und Gerechtigkeit“ im Namen trägt, marginalisiert wurde, sollte diese Aufführung die Lügen und Faktenverdrehungen offenlegen.

Selbstredend auch mit Blick auf Nationalisten und Autokraten anderswo. So fühlt man sich auf die Frage einer der Prot­ago­nis­t:In­nen hin, „Glaubt ihr, ihr könntet Kritik vermeiden, indem ihr Menschen tötet?“, unmittelbar an den tragischen Tod des Kreml-Oppositionellen Nawalny erinnert.

Gegen den Machtmissbrauch Putins und ähnlicher Despoten begehrt diese Inszenierung vor allem mit Proklamationen auf, bisweilen mit Stammtischparolen à la „Ungerechtigkeit macht sich mehr bezahlbarer als Gerechtigkeit“. Von einer stimmigen und in der Form anregenden Komposition ist „Der Staat / Państwo“ also weit entfernt.

Eine gesellschaftliche und europäische Relevanz darf Klata wie „Ostopia“ insgesamt dennoch verzeichnen. Es versteht sich zweifelsohne als ein Fenster in einen Kulturraum, den unsere eurozentrische Perspektive häufig zu Unrecht als Rand wahrnimmt. Gerade die in den Stücken verhandelten Sorgen und Nöte offenbaren dabei, wie nah wir uns in der Konfrontation mit der sozialen Ungleichheit oder der Neuen Rechten doch sind.

Grenzüberschreitend eint uns die demokratische Gegenwehr, der Entschluss zur Weltverbesserung. Und wer weiß? Vielleicht schafft es ja auch das Theater beim nächsten runden Jubiläum, mehr als nur einen Plakatständer für diese Botschaft herzugeben.

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